Demokratie mit Feindbild
Das Konzept der „souveränen Demokratie“ geht mit antiwestlichen Affekten einher
Wladimir Putins Russland betrachtet sich als Supermacht. Und da Supermächte mit Selbstwertgefühl eine nationale Ideologie brauchen, ist die Suche nach einer neurussischen Nationalidee noch emsiger geworden als zur Zeit Boris Jelzins. Der veranstaltete bereits Preisausschreiben, um die verlorene Seele der vaterländischen Staatlichkeit wiederzufinden. Nun ist Putin kein Staatsphilosoph, er und seine Führungskader denken eher praktisch. Was dazu führt, dass der Kreml der Nation immer wieder technokratisch-trockene Ideen zur Anprobe reicht: erst die volkswirtschaftliche Planparole „Das Bruttosozialprodukt verdoppeln!“, dann das polittechnologische Bekenntnis „Wir sind eine gelenkte Demokratie!“, zuletzt den Rohstoffreklametitel „Energie-Supermacht Russland“.
Den aktuellsten Versuch formulierte Wladislaw Surkow, stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, im Februar 2006 vor Schulungskadern der Kremlpartei „Einiges Russland“: „Ich denke, dass zwei strategische Bedingungen unbedingt eine langfristige, stabile Entwicklung sicherstellen – Demokratie und Souveränität.“ Surkows Vortrag druckten die Provinzzeitungen in ganz Russland ab, Politologen und Journalisten riefen die „souveräne Demokratie“ als neue politische Identität Russlands aus. Putins Regiment vermittelt den Anschein, sich endlich selbst gefunden zu haben.
Befragt man jedoch Russen privat nach ihrer Nationalidee, so schweigen viele ratlos bis desinteressiert. Und wer antwortet, der spricht nicht von „souveräner Demokratie“. Dabei hat das Volk durchaus Bewusstsein. „Der Staat betrügt uns. Mit dem Staat haben wir nichts zu tun“, heißt es einerseits. „Aber wir wollen stolz sein auf unser Land, auf unsere Geschichte. Wir wollen, dass Russland eine Weltmacht ist, geschätzt, geachtet, zumindest gefürchtet“, heißt es andererseits. Nationalidee aus dem Bauch, sozusagen.
Die Russen fühlen und denken heute durchaus vaterländisch. Aber ihrem Staat glauben sie nicht. Nach einer Umfrage vom Dezember 2005 halten 42 Prozent der Russen die untergegangene Sowjetdiktatur im Vergleich zum gegenwärtigen Russland (23 Prozent) oder der westlichen Demokratie (20 Prozent) für das bessere politische System. „Demokratie funktioniert in Russland nicht“, erklären viele. „Und bei euch im Westen funktioniert sie auch nicht!“ Nach einem halben Dutzend mehr oder weniger manipulierter Parlaments- und Präsidentschaftswahlen herrscht in Russland Demokratiephobie.
Putins Elite, pragmatisch bis zum Machiavellismus, mag diese Verdrossenheit goutieren, solange sie nur politische Passivität hervorbringt. Aber im Gegensatz zum Volk hat das Establishment die Ambition, in Europa und der Welt dazuzugehören. Putin will G-8-Gastgeber sein, kein Lukaschenko, seine Mannschaft bemüht sich außenpolitisch, nach den Regeln zu spielen, die in der „zivilisierten“ Welt gelten – oder zumindest die Form zu wahren.
Also predigt Surkow wieder Demokratie: Einerseits sei Russland ein europäisches Land, nicht besser und nicht schlechter als alle anderen, andererseits habe schon der russische Philosoph Nikolai Berdjajew festgestellt, dass es ohne Freiheit keine Gerechtigkeit geben könne. „Das ist ein russischer Gedanke, den haben wir uns weder bei Marx noch Hegel abgeguckt, der ist unser“, versichert Surkow seinen Landsleuten. Das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit ist also sozusagen Russlands demokratischer Urtrieb. Nur logisch, dass die russische Demokratie ihre Eigentümlichkeiten haben muss.
Und hier fängt Surkows Demokratie an, „souverän“ zu werden. „Souveränität ist das politische Synonym für Konkurrenzfähigkeit“, erklärt er – Konkurrenzfähigkeit natürlich gegenüber dem Westen. „Nicht dass sie unsere Feinde sind. Nein, sie sind Konkurrenten“, versichert Surkow. „Das ist nichts Persön-liches. Sie ziehen dich nur bis auf den letzten Stiefel aus, politisch korrekt, mit allem Respekt.“ Surkow lässt auch an anderer Stelle anklingen, dass ihm ein echter Feind lieber wäre als solche Konkurrenten. Oder als „unsere ausländischen Freunde“, die demnächst versuchen könnten, auch in Russland eine orangene Revolution anzuzetteln. Außer Berdjajew zitiert Surkow den sowjetischen Exildichter Jossif Brodskij, um zu belegen, dass „Staatsschulden als Form der Okkupation besser funktionieren als jede Militärgarnison.“ Deshalb heiße es gerade in Zeiten der Globalisierung, die Souveränität zu wahren. „Wenn man uns sagt, Souveränität sei etwas Veraltetes, wie auch der Nationalstaat, dann sollten wir überlegen, ob man uns damit nicht über den Tisch ziehen will.“
Surkows „souveräne Demokratie“ ist das neueste Beispiel für die widersprüchlichen Seelen in der Brust des staatlichen russischen Doppeladlers. Nach außen pocht die russische Politik darauf, auch Demokratie zu sein, ein Staat wie alle anderen. Nach innen aber heizt man das wachsende Misstrauen der Gesellschaft gegenüber dem Westen, den „Anderen“ an. Sie seien Russland übel gesonnen, darauf aus, es zu übertölpeln und auszunehmen. Ein unklares Feindbild, aber eines, das auch Präsident Putin bei seiner Rede zur Lage der Nation Anfang Mai mit Vehemenz an die Wand malte: „Wir sehen doch, was in der Welt vor sich geht. Wie es so heißt: Der Genosse Wolf weiß, wen er frisst. Er frisst und hört dabei auf niemanden.“ Putin mag mit dem Genossen Wolf den Westen überhaupt gemeint haben, die NATO, oder die USA im Speziellen. Die Abgeordneten beider Kammern der russischen Föderalversammlung klatschen auf jeden Fall heftig Beifall.
Die „souveräne Demokratie“ funktioniert als propagandistisches Denkschema bis auf weiteres gut. Den Westen irritiert sie verbal weniger als die „gelenkte Demokratie“, die doch sehr unmittelbar auf Manipulation schließen ließ. Andererseits bietet sie als „Demokratie mit Feindbild“ emotionales Futter für die Ängste und Phobien der immer breiter werdenden nationalistischen Gesellschaftsränder, die es vor der 2008 anstehenden Machtübergabe freundlich zu stimmen gilt. Sowohl Berdjajew wie Brodskij würden sich wohl im Grabe umdrehen, wenn sie läsen, in welchem Kontext ihre Zitate gelandet sind.
Dabei böte die „souveräne Demokratie“ gedanklich durchaus Perspektiven für politischen Fortschritt in Russland. Denn der Begriff vereint das liberale, westliche Prinzip Demokratie mit dem Anspruch, sie „selbstständig“, auf „russische Art“ zu verwirklichen. Er könnte als Idee die seit Jahrhunderten widerstreitenden geistigen Triebkräfte „Westlertum“ und „Panslawismus“ in einer russisch-demokratischen Bewegung vereinigen. Bis sich allerdings entsprechende Interessen in der russischen Gesellschaft formiert haben, kann viel Zeit vergehen. Bis dahin wird die „souveräne Demokratie“ sicher schon wieder durch aktuellere taktische Parolen abgelöst worden sein.
STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer, Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).
Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 58‑59