Demokratie ist nicht alles
Ägypten muss sich mit vergangenem und andauerndem Unrecht beschäftigen
Ägypten braucht mehr als eine neue Verfassung und demokratisch gewählte Volksvertreter. Nur die Einbindung aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte in einen strukturierten Übergangsprozess kann die Gesellschaft vor einem Abstürzen in den Bürgerkrieg bewahren. Transitional Justice wäre das Gebot der Stunde und der kommenden Jahre.
Die nach dem Militärputsch vom 3. Juli 2013 eingesetzte Übergangsregierung unter Adly Mansur hat einen straffen Fahrplan vorgegeben. Ein aus Richtern und Rechtsgelehrten bestehendes Gremium erarbeitet einen Verfassungsentwurf, der bis zum 23. Oktober 2013 von einem aus 50 Mitgliedern bestehenden Komitee beraten und gegebenenfalls ergänzt wird. Es folgt ein Referendum bis zum 23. November. Da keine alternativen Pläne vorliegen, scheint man anzunehmen, dass der Verfassungsentwurf im Referendum bestätigt wird. Bis zum 8. Dezember soll dann ein Termin für die Parlamentswahlen verkündet werden, die bis zum 8. Februar 2014 folgen. Eine Woche nach dem ersten Zusammentreten des neuen Parlaments soll der Termin für die Präsidentschaftswahl verkündet werden.
Wann diese stattfinden wird, ist unklar. Man geht davon aus, dass zumindest die Verkündung des Wahltermins bis Ende Februar 2014 erfolgt sein sollte. Unterstellt man mit viel Optimismus, dass sich dieser Zeitplan ohne Zwischenfälle realisieren lässt, bleibt die Frage, ob Ägypten damit wesentlich stabiler wird. Eine mehrheitlich verabschiedete Verfassung und demokratische Wahlen wären ein positiver Schritt: Aber der wird kaum geeignet sein, die Vorbehalte und die Wut der unterlegenen Minderheit zu beschwichtigen. Ein formal demokratisches Verfahren und Wahlen allein werden kaum genügen, um die Gegensätze zwischen religiösen und säkularen Ägyptern, Anhängern des alten Regimes und neuen Kräften, zwischen Staat, Militär und Zivilgesellschaft zu überbrücken und eine friedliche Entwicklung einzuleiten, die politische Stabilität und eine dauerhafte Verbesserung der wirtschaftlichen Situation mit sich bringen könnte.
Ägypten braucht einen Prozess der nationalen Aussöhnung, die Thematisierung und Aufarbeitung vergangenen Unrechts und damit einen strukturierten Prozess, der während einer definierten Übergangsphase Gerechtigkeit für die Opfer und Bestrafung der Verantwortlichen für die Leiden in Ägyptens jüngerer Geschichte bringt. „Transitional Justice“ heißt somit das Gebot der Stunde.
Auf der Suche nach der Wahrheit
Der auf Deutsch oft verkürzt als „transitionelle Justiz“ übersetzte Begriff ist nicht verbindlich definiert. Gemäß den Leitlinien des UN-Generalsekretärs von 2010 versteht man darunter das gesamte Spektrum rechtlicher und nichtrechtlicher Prozesse und Mechanismen wie die Verfolgung und Ahndung von Straftaten, Entschädigungen oder die Etablierung von Wahrheitskommissionen, Lustration, das heißt die Überprüfung und gegebenenfalls auch Entlassung politisch belasteter Mitarbeiter vor allem des öffentlichen Dienstes und längerfristig angelegte institutionelle Reformen. Zu diesem Prozess der Transitional Justice gehört auch der innergesellschaftliche Versuch einer Aufarbeitung massiver Menschenrechts- verletzungen in der Vergangenheit mit dem Ziel, Verantwortlichkeit zu gewährleisten, der Gerechtigkeit zu dienen und Versöhnung zu erreichen.
Nach dem Ende der Mubarak-Ära gab es bislang keinerlei Bemühungen, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Anfang Juli 2013 aber veröffentlichte Adel Maged, einer der Vizepräsidenten des ägyptischen Kassationsgerichtshofs, einen Beitrag in der Tageszeitung Al Masri Al-Jom, in dem er für einen Prozess der Transitional Justice plädierte und deren Phasen skizzierte. Dass in Ägypten seit der Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi eine Beschäftigung mit mehreren Regimes notwendig ist, macht die Angelegenheit nicht einfacher – aber umso dringlicher. Erster und wichtigster Abschnitt ist die fast 30-jährige Herrschaft Hosni Mubaraks von 1981 bis Februar 2011. Aus rein tagespolitischer Sicht mag diese Ära und das damals vor allem an Menschenrechtsaktivisten und Anhängern der Muslimbrüder begangene Unrecht lange zurückliegen – sofern man es in der westlichen Welt überhaupt in vollem Ausmaß wahrgenommen hat.
Die Folgen drastischer Haftstrafen, Misshandlungen, Folter, aller Arten von Unrecht und Demütigungen über Jahrzehnte hinweg haben sich jedoch tief in das Bewusstsein der vielen Betroffenen eingegraben. Sie bedürfen der aktiven Aufarbeitung, wenn man sich in Ägypten nicht auf eine Herrschaft einer demokratisch gewählten Mehrheit beschränken will, sondern eine stabile Grundlage für ein friedliches Zusammenleben eines möglichst breiten Teils der Gesellschaft geschaffen werden soll. „Aufarbeitung“ meint dabei nicht (nur) die individuelle psychologische, die im Leben des Einzelnen nichtsdestotrotz eine große Rolle spielt. Sie steht synonym für ein gesamtgesellschaftliches Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit.
Dieser Prozess sollte umfassend sein. Die Wahrheit zu ergründen und Gerechtigkeit zu finden, schließt auch die Geschichte der Täter und Mitläufer ein und deren Sicht auf ihre ehemaligen Funktionen und deren Handeln, Rechtfertigungen und Entschuldigungen. All dies ist vielschichtig und bedarf gerade deshalb eines systematischen und organisierten, auf mehrere Jahre angelegten Prozesses, der auch die Zeit ab Beginn der Revolution am 25. Januar 2011 umfassen sollte, einschließlich der Tötung, willkürlichen Verhaftung, Folterung und zahlreicher anderer Repressionen gegen die Anhänger der Revolution; die Herrschaft des Obersten Militärrats vom 13. Februar 2012 bis zur Amtseinsetzung Mursis am 30. Juni 2013; die Herrschaft Mursis und die Vorwürfe, er habe mit seinem Griff nach totaler Kontrolle über Staat, Institutionen und Justiz das Land auf eine Theokratie vorbereiten wollen. Schließlich Mursis Absetzung durch das Militär, die Beseitigung der bis dahin verfassungsmäßigen Ordnung und mutmaßliche Fälle unverhältnismäßiger Gewalt wie die Tötung von 53 Anhängern Mursis bei einer Demonstration am 8. Juli 2013.
Ohne die Beschäftigung mit allen Phasen, so Adel Maged, komme es zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft und andauernder, sich verschärfender Gewalt. Dies sorgt die Anhänger aller Lager. Denn auch jenen, die den Militärcoup unterstützten, ist klar, dass Teile der Muslimbruderschaft zu gewaltsamen Aktionen übergehen könnten, sollten sie sich ausgegrenzt fühlen. Diese Gefahr zu erkennen bedeutet nicht, sich der Drohung mit Gewalt zu beugen. Vielmehr fußt diese Haltung auf einer realistischen Analyse des gegenwärtigen Zustands und der Einsicht, dass eine Zukunft ohne Dialog keine gute sein wird.
Richter als Hoffnungsträger
Maged kritisiert, dass es allen politischen Strömungen in der Zeit nach dem 25. Januar 2011 ausschließlich um die Macht gegangen sei, anstatt im übergeordneten nationalen Interesse an der so dringend benötigten gesellschaftlichen Versöhnung zu arbeiten. Der Vizepräsident des Kassationsgerichts schreibt dies als Angehöriger einer Berufsgruppe, der vorgeworfen wird, Fahnenträger des alten Mubarak-Regimes gewesen zu sein. Diese Charakterisierung der ägyptischen Justiz ist jedoch nicht wirklich zutreffend. Ein Bericht zur Unabhängigkeit der Justiz in Ägypten vom Juni 2010 – verfasst für die Organisation Euro-Mediterranean Human Rights Network, die auch von der EU-Kommission unterstützt wird – kam zu dem Schluss, dass die Richterbewegung, die sich gegen Wahlbetrug formiert hatte, zum Hoffnungsträger für die gesamte Gesellschaft geworden sei. Innerhalb der Richterschaft finden sich außerdem nicht wenige, die den Wahlsieg der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und die Wahl Mursis zum Präsidenten begrüßt hatten.
Diese Freude hatte allerdings recht schnell nachgelassen. Ein hochrangiger Richter und ehemaliger Anhänger Mursis bringt wohl auf den Punkt, was vermutlich viele seiner Kollegen empfinden: „Ich hasse ihn.“ Aber auch die Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mursi hassen ihre Gegner, wie die Tamarod-Bewegung und das Militär – und diese wiederum hassen die Anhänger Mursis. In diesem Klima des Hasses aller gegen alle wird es ohne eine breit angelegte und geplante Phase einer Transitional Justice kaum gelingen, Ägypten dauerhaft zu befrieden. Die Frage ist, nach welchen Regeln dieser Prozess ablaufen soll.
Aufarbeitung mit Hilfe der Scharia
Die Prinzipien des UN-Generalsekretärs zur Transitional Justice mögen zwar keine genauen Vorgaben enthalten; elementar ist jedoch, dass internationale Normen und Standards Beachtung finden und der jeweilige landesspezifische Kontext berücksichtigt werden muss. Um eine umfassende Beteiligung am Prozess sicherzustellen – denn nur dann hat er Aussichten auf Erfolg – wäre es für eine religiös geprägte Gesellschaft wie die ägyptische durchaus denkbar, bestimmte Prinzipien der Scharia einzubinden. Fälschlich hält man die Scharia im Westen oft für ein System, das sich auf rigorose körperliche Strafen beschränkt. Aber es ist ein komplexes Rechtssystem, dem auch Begriffe wie Vergebung und Versöhnung nach Konflikten keineswegs fremd sind. Der Versuch, Scharia-Regelungen in Verbindung mit international anerkannten Menschenrechtsprinzipien zur Lösung moderner Fragestellungen heranzuziehen, ist nicht neu. So veröffentlichte das Büro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen 2009 eine Studie des ägyptischen Professors Ahmad Abu Al Wafa zum Recht auf Asyl, das die Scharia und internationales Flüchtlingsrecht einbezog. UN-Flüchtlingskommissar António Guterres schreibt in seinem Vorwort, dass die arabischen und islamischen Werte direkt und indirekt als Referenz für viele internationale Gesetze und Konventionen gedient hätten.
Um den ägyptischen Übergangsprozess in diesem Sinne zu beflügeln, veröffentlichte Richter Maged im Juni eine Schrift zum Thema International Transitional Justice Standards und das Recht der Scharia. Schließlich wolle man „den Extremisten nicht die Interpretationshoheit überlassen“.
Jobs für ehemalige Schläger
Noch ist unklar, wie sich ein Prozess der Aufarbeitung in Ägypten gestalten wird. Die Regierung Mursis unternahm keine systematischen Schritte in diese Richtung, wohl auch aufgrund der allgemeinen Ratlosigkeit und Unkenntnis, wie ein solcher Prozess zu organisieren sei.
Immerhin zeigte sich der ehemalige Justizminister Ahmad Mekki bei Gesprächen in Kairo im Februar 2013 offen und interessiert an derlei Initiativen. Noch vor seinem Rücktritt im April 2013 ernannte er ein im Justizministerium angesiedeltes Komitee, das mit der Vorbereitung einer nationalen Transitional-Justice-Konferenz in der zweiten Jahreshälfte beauftragt war. Nach dem Militärputsch im Juli wurde der ehemalige Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, Amin El Abbassi El Mahdi, zum Minister für Transitional Justice und Nationale Versöhnung ernannt. Ob die Muslimbruderschaft beziehungsweise die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FGP) das Angebot zur Wahrheitsfindung und Versöhnung annehmen und sich am Prozess beteiligen werden, bleibt fraglich. Das Komitee zur Vorbereitung der Konferenz wurde mittlerweile wieder aufgelöst.
Bislang boykottiert die FGP alle neu ernannten Funktionsträger und alle neu geschaffenen Institutionen und besteht auf einer Wiederherstellung des Status quo ante. In einer informellen Stellungnahme bezeichnete einer der außenpolitischen Sprecher der FGP die im Artikel von Maged skizzierten Gedanken zum Transitional Justice Prozess aber immerhin als „großartig“. Gleichzeitig betonte er, dieser Prozess müsse umfassend sein. So müssten nicht nur Taten aufgedeckt und bestraft werden, die von Polizei- und Staatsorganen in ihren offiziellen Funktionen begangen worden seien. Das Mubarak-Regime habe ein Heer von Schlägern unterhalten, die zum Teil weiterhin von den Strukturen des „deep state“ bezahlt würden, um Chaos zu verbreiten. Zur Eingliederung in die Gesellschaft dieser mehrere hunderttausend zählenden Söldner des ehemaligen Regimes bedürfe es eines besonderen Planes, einschließlich der Bereitstellung von Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeit.
Die Herausforderungen sind sichtlich komplex und die Atmosphäre gespannt. Aussagen wie die Mageds und des FGP-Sprechers lassen immerhin die Hoffnung zu, dass in beiden Lagern Kräfte existieren, die weiter denken und einen konstruktiven Weg in die Zukunft finden könnten. Ob dieser sich materialisieren wird, hängt wesentlich vom sich entwickelnden Demokratieverständnis ab. Die Alternativen heißen Teilhabe aller oder Alleinherrschaft der Mehrheit.
Patrick Schneider
ist Projektbereichsleiter Nordafrika / Nahost bei der Deutschen Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 88-92