Datenschutz
Für Deutschlands Medien sind die Fronten in der NSA-Abhöraffäre klar: hier die sammelwütigen Angelsachsen, denen Sicherheit alles und das Recht auf Privatheit nichts ist, dort die durch bittere Erfahrung geläuterten Deutschen, tapfer die Freiheit des Individuums verteidigend. Hält eine dieser Thesen einer näheren Überprüfung statt? Nein. Zum Glück.
Die Demokratie ist in Gefahr
Gemach. „Wir erleben einen historischen Angriff auf unseren demokratischen Rechtsstaat.“ So stand es in einem offenen Brief, den 32 deutsche Schriftsteller an Bundeskanzlerin Merkel schrieben und in der FAZ veröffentlichten. Man darf annehmen, dass viele Intellektuelle und Meinungsmacher so denken wie sie. Was aber bei der aufgeregten Diskussion um Prism, Tempora usw. immer wieder unterschlagen wird: Es gibt nun einmal Feinde der Demokratie, und sie sitzen nicht im Weißen Haus, in der CIA-Zentrale in Langley, im „Doughnut“ des britischen Abhördiensts GCHQ in Cheltenham oder in der Konzernzentrale von Goldman Sachs.
Es ist merkwürdig, dass Verschwörungstheoretiker das Herz der Finsternis immer im Westen verorten. Es gibt ja tatsächlich Verschwörungen gegen die Demokratie: Sie heißen zum Beispiel Al-Kaida. Deren Leute, inzwischen Teil eines globalen Franchising-Netzwerks, benutzen neben Sprengstoff auch Telefone und das Internet; und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Amerikaner lügen, wenn sie angeben, mit Hilfe ihrer Datennetze 50 Terroranschläge verhindert zu haben, davon einige in Deutschland. Es scheint einem Teil der deutschen Öffentlichkeit nicht in den Kopf zu wollen, dass es Leute gibt, die tagaus, tagein Angriffe auf die Demokratie planen, wie etwa die in New York und Washington, Madrid und London. „Kein Krieg, nirgends“ – so fasste Henryk M. Broder die Reaktion der deutschen schnatternden Klasse auf 9/11 zusammen. Nicht die Dschihadisten, sondern „die Bush-Krieger“ waren das Problem, über das sich die deutsche Öffentlichkeit echauffierte.
Nicht, dass man den „Krieg gegen den Terror“ bedingungslos gutheißen müsste. Der Nachfolger George W. Bushs hat in Berlin unter Berufung auf den Gründervater James Madison darauf hingewiesen, dass ein permanenter Kriegszustand die Demokratie gefährdet. Der islamistische Terror bleibt auf unabsehbare Zeit eine Gefahr für die Sicherheit und damit auch für die Demokratie; aber die ständige Berufung auf den Ausnahmezustand schafft Institutionen und – schlimmer – Einstellungen auf Seiten der Exekutive, die dem Gedanken der Kontrolle durch Parlament und Justiz skeptisch bis feindlich gegenüberstehen. Eine ähnliche Funktion erfüllte der – an sich gerechtfertigte, ja notwendige – Antikommunismus während des Kalten Krieges. Ein Richard Nixon, ein Joseph McCarthy und andere Kommunistenjäger, die in jedem Linksliberalen einen Verräter witterten, haben der Demokratie schweren Schaden zugefügt. Doch sollte im Rückblick nicht vergessen werden, dass es tatsächlich eine kommunistische Gefahr gab, dass es tatsächlich Verräter gab, die sich als harmlose Bürger tarnten, und dass viele Linksliberale auf sie hereinfielen. Nixon war tendenziell paranoid, aber der von ihm angeklagte Alger Hiss, in den Augen vieler Menschen bis heute ein Märtyrer, war tatsächlich ein sowjetischer Spion.
Oder, um ein zeitlich und geografisch näher liegendes Beispiel zu nehmen: Im Kampf gegen den Linksradikalismus mögen die Regierungen Brandt und Schmidt mit Berufsverboten, Rasterfahndung und dergleichen überreagiert haben; aber im Gegensatz zur „Isolationsfolter“ oder anderen Schreckgespenstern der linksliberalen Öffentlichkeit, die der Regierung den Vorwurf einbrachten, die Demokratie außer Kraft zu setzen, existierten bewaffnete Gruppen wie die RAF und die Bewegung 2. Juni tatsächlich; gab es tatsächlich Pläne der DDR zur – auch militärischen – Nutzung ihrer fünften Kolonne zur Destabilisierung der Bundesrepublik im Fall einer krisenhaften Entwicklung im Westen.
Amerika hat kein Interesse an einer Kontrolle seiner Geheimdienste
Au contraire. Zuweilen heißt es, die Amerikaner seien aufgrund ihrer Terror-obsession und ihres Sicherheitsdenkens weniger empfindlich gegenüber Einschränkungen der Freiheit durch die Regierung. Nichts könnte weiter entfernt sein von der Wirklichkeit. Was Geheimdienste dürfen oder nicht, wird – anders als hierzulande – in den USA von Gerichten überprüft. Erst kürzlich hat das Repräsentantenhaus darüber mit großem Ernst verhandelt, und spätestens 2015 wird es neu zu definieren sein, wenn das unter Präsident Bush Junior verabschiedete Antiterrorgesetzespaket „Patriot Act“ ausläuft und erneuert – oder verändert oder gar abgeschafft – wird. Bei der leidenschaftlichen Diskussion über die Befugnisse der NSA im Kongress ergaben sich übrigens hoch interessante Koalitionen quer durch die Parteien, bei der die in Deutschland oft als durchgeknallte Rechtsextreme verschrienen Anhänger der „Tea Party“ den libertären Widerstand gegen das Auswerten von Telefon- und Internetdaten anführten.
Das Grundrecht auf Privatheit liegt den Deutschen am Herzen
Das kann man auch anders sehen. Die Demonstrationen gegen den „Datenklau“ blieben jedenfalls überschaubar; Facebook bleibt populär. Trotz einer beispiellosen Medienaufgeregtheit scheinen die Deutschen mit ihrer Kanzlerin zu meinen, Deutschland sei „kein Überwachungsstaat“ – oder sich in realistischer Einschätzung der Gefahrenlage mit der Notwendigkeit einer Überwachung abgefunden zu haben. Was Angela Merkel nicht davon abhält, die patriotische Karte auszuspielen, das schadet ja nie. „Bei uns in Deutschland“ gelte „nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts“, so Merkel, anders anscheinend als jenseits von Ärmelkanal und Atlantik. Und „auf deutschem Boden hat man sich an deutsches Recht zu halten“. Nun ja, natürlich. Um „deutschen Boden“ geht es aber erstens nicht, da die betreffenden Telefon- und Internetdaten nicht auf deutschem Boden abgefischt werden, sondern in amerikanischen Servern. Und zweitens gehört es nun einmal zur Jobbeschreibung von Geheimdienstlern, Dinge auf illegalem Wege herauszubekommen, weshalb sie ja geheim arbeiten. Auch der Bundesnachrichtendienst, hoffentlich jedenfalls.
Wo wir beim Thema „Überwachung“ sind: Dass die Bürger eines Landes, in dem es für alle Einwohner, vom Kind bis zum Greis, eine strafbewehrte Meldepflicht gibt und wo auf mysteriösem Wege private Adressen von Meldeämtern an Werber dubiosester Sorte und kriminelle Gangs geraten; eines Landes, in dem über jeden Schüler eine Akte geführt wird, in die der gesamte Lehrkörper, nicht aber der Betroffene Einsicht nehmen kann; eines Landes, in dem der Staat, wie Deutschlands oberster Finanzrichter Rudolf Mellinghoff kürzlich sagte, von seinen Bürgern die „Offenbarung aller wirtschaftlichen und privaten Verhältnisse verlangen darf“; in dem es in Gestalt diverser Ämter zum „Verfassungsschutz“ eine ausufernde, weitgehend unkontrollierte Behörde zum Ausspionieren der eigenen Bürger, zum Infiltrieren legaler Parteien und illegaler Terrorgruppen, zur Überwachung von Moscheen, Antifa-Aktivisten und radikalen Öko-Freaks gibt (was es so in keinem anderen westlichen Land gibt) – dass also ausgerechnet die Deutschen wähnen, in Sachen Freiheit des Individuums dem perfiden Albion und den sicherheitsbesessenen Amerikanern etwas voraus zu haben, wollen wir unter der Rubrik „Skurriles“ verbuchen.
Freunde abhören ist inakzeptabel
Soso. Aber Feinde abhören, das geht schon in Ordnung? Einen Teil der deutschen Hysterie kann man auf enttäuschte Liebe zurückführen. „Freunde abhören, das ist inakzeptabel, das geht gar nicht“, so Regierungssprecher Steffen Seibert in einer ersten Stellungnahme. Das ist die Haltung der beleidigten Leberwurst: Ich dachte, wir wären Freunde, und nun dies! Wobei man von deutscher Regierungsseite schnell bewies, dass man auch austeilen kann: Vizekanzler Philipp Rösler unterstellte dem US-Geheimdienst vorsorglich – und ohne jeden Beweis – finstere Absichten gegenüber der Klientel seiner Partei: „Wirtschaftsspionage unter engen Partnern ist nicht akzeptabel. Es kann nicht angehen, dass Betriebsgeheimnisse so in Gefahr geraten“, so der FDP-Mann. Man kennt ja die amerikanische Produktpiraterie, nicht wahr.
Was die Frage des Datenschutzes mit der deutsch-amerikanischen Freundschaft zu tun hat, bleibt unklar. Wären die Daten der Bürger von Staaten, die den USA weniger wohlgesonnen sind als Deutschland, weniger schützenswert? Feindbürger abhören, das geht schon in Ordnung? Auch die bereits zitierten 32 Schriftsteller beklagen in ihrem offenen Brief, dass die NSA „deutsche Bundesbürger“ in einer Weise überwache, die „den deutschen Behörden verboten“ sei; die Kanzlerin habe die Pflicht, „Schaden von deutschen Bundesbürgern abzuwenden“. Die patriotische Entrüstung ist unüberhörbar. Was der Unterschied zwischen deutschen und nichtdeutschen Bundesbürgern ist, und ob es okay wäre, wenn in Deutschland Nicht-Bundesbürger oder Nicht-Deutsche abgehört wären, fragt man vermutlich vergeblich: Wenn es um „einen historischen Angriff“ der Amerikaner auf das Vaterland geht, dann können die deutschen Gäule auch mit einem deutschen Schriftsteller durchgehen. „Unsere politischen Einstellungen, unsere Bewegungsprofile, ja selbst unsere alltäglichen Stimmungslagen sind für die Sicherheitsbehörden transparent“, lautet die Anklage. Dies von Schriftstellern der B- und C-Riege, die bei jedem sich bietenden Anlass Texte über ihre politischen Ansichten, ihre Reise- und Flaniererfahrungen und – ja, leider auch – ihre alltäglichen Stimmungslagen veröffentlichen und eher darunter leiden, dass sich fast niemand dafür interessiert. In dieser Hinsicht dürfte die NSA kaum eine Ausnahme bilden.
Die Deutschen sind aufgrund ihrer Vergangenheit besonders sensibel
Heikles Terrain. Um nicht in Sachen Antiamerikanismus abgehängt zu werden, gab Bundespräsident Joachim Gauck zu Protokoll, der von unserem NATO-Verbündeten USA als Verräter gesuchte Geheimnisträger Edward Snowden „verdiene Respekt“. Wir Deutschen hätten ja „den Missbrauch staatlicher Macht mit Geheimdienstmitteln zwei Mal in unserer Geschichte erleben müssen“ (sic). Woraus der „Demokratielehrer“ (Gauck über Gauck) freilich nicht etwa ableitete, dass es möglicherweise für die USA gute Gründe gibt, gegenüber Ländern, in denen man solche Diktaturen nicht „erleben musste“, ein wenig mehr Vertrauen an den Tag zu legen als gegenüber Deutschland. Sondern vielmehr, dass wir Deutschen „auf diesem Gebiet hellhörig“ seien, offenbar im Gegensatz zu den in Sachen Freiheit schwerhörigen Angelsachsen. „Und das müssen unter anderen unsere amerikanischen Freunde ertragen.“
Die Formulierung „unsere amerikanischen Freunde“ verwenden Politiker hierzulande immer gern, wenn sie Amerika-Kritik üben, so wie Israel-Kritik immer mit der Versicherung daherkommt, man kritisiere den Judenstaat gerade deshalb, weil man dessen Freund sei (und weil wir Deutschen uns wegen unserer Geschichte besonders gut als Bewährungshelfer in Sachen Demokratie eignen). Nun, die amerikanischen Freunde werden die Belehrung sicher ertragen, wenn auch kopfschüttelnd ob der insinuierten Gleichsetzung von Geheimdienstaktionen zum Schutz der Demokratie mit der Tätigkeit von Organen, die Diktaturen vor der Demokratie schützen sollten. Eher sollten sich die Deutschen besorgt fragen, was in den Köpfen ihrer führenden Politiker eigentlich abläuft.
Aber die Opposition weist mit Recht auf Verfehlungen hin
Bitte wer? Etwa die rot-grüne Opposition, die während ihrer Zeit auf der Regierungsbank nichts dagegen einzuwenden hatte, dass BND und BKA Informationen verwerteten, die der syrische Geheimdienst aus Oppositionellen herausgeprügelt hatte, oder die von der CIA in Afghanistan und in Guantánamo mit „robusten Verhörtechniken“ beschafft wurden? Nicht zufällig kritisierte der Innenminister der rot-grünen Regierung Otto Schily die „teilweise wahnhaften Züge“ der Kritik am Staat und warnte, dabei gebe es für seine SPD „kaum etwas zu gewinnen“. Für die Linkspartei doch wohl auch nicht, deren Personal teilweise mit der Stasi kooperierte und die nicht nur die DDR, sondern auch Putins Russland ständig verteidigt und verniedlicht. Von den bedauernswerten Piraten, die mit der Losung totaler, netzgestützter Offenheit der Politik antraten und sich nun wundern, dass die Amerikaner und Briten sie längst verwirklicht haben, ganz zu schweigen.
Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten
Auch Quatsch, leider. Die Liste der Leute, die aufgrund falscher geheimdienstlicher „Erkenntnisse“ Nachteile erleiden mussten, bis hin zur Zerstörung ihres Rufs oder ihrer Existenz, ist nicht eben kurz. Dem Schreiber dieser Zeilen wurde 1969 die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt, weil er als 17-Jähriger die Wohnung der „Kommune 1“ besucht hatte und darum dem Verfassungsschutz als Terrorsympathisant galt; die Begründung erfuhr er freilich erst mehr als zehn Jahre später. War das eher eine Farce, so war die Fütterung der Kommissionen, die Berufsverbote im öffentlichen Dienst erteilten, mit Informationen des Verfassungsschutzes schon eher skandalös; und die Entlassung des Bundeswehrgenerals Günter Kießling wegen seiner vom „Amt für die Sicherheit der Bundeswehr“ und der Kölner Kripo aufgedeckten angeblichen Homosexualität war eine ausgemachte Staatsaffäre. Ganz ohne Vorratsdatenspeicherung und Internetüberprüfung können unschuldige Menschen in die Räder – und zuweilen unter die Räder – der geheimdienstlichen und polizeilichen Maschinerie kommen. Wer das leugnet, ist naiv. Ob die Fähigkeiten zum maschinellen Erkennen von Kommunikationsmustern und zum Durchforsten von Google-Suchen und Facebook-Likes die Wahrscheinlichkeit einer falschen Beschuldigung erhöhen oder eher verringern, ist noch nicht ausgemacht. Sagen wir es einmal so: Die Anwendung der DNA-Analyse in der Kriminologie, die auch begleitet war von Klagen über die Aufgabe der informationellen Selbstbestimmung – hier des eigenen Genoms –, hat schon einige Menschen aus der Todeszelle befreit. Umgekehrt hat die angeblich lückenlose Überprüfung durch NSA & Co. die Gebrüder Tamerlan und Dzokhar Tsarnaew nicht daran gehindert, den Anschlag auf den Boston-Marathon zu planen und auszuführen, obwohl Tamerlan dem FBI bekannt war.
In einem Rechtsstaat muss der Bürger die Möglichkeit haben, sich gegen falsche Anschuldigungen zu wehren, zu wissen, wer ihm was aufgrund welcher Indizien vorwirft. Das ändert sich im digitalen Zeitalter nicht.
Die Fragen, um die es hier geht, sind nicht Fragen der Moral, sondern der Politik. Sie lassen darum auch keine absoluten Antworten zu, sondern erfordern Abwägungen. Es geht also darum, in einer transatlantischen Diskussion zu einem Kompromiss zu gelangen, der das Recht des Individuums auf Privatheit abwägt gegen die Pflicht des Staates, Leben, Eigentum und Freiheit aller Bürger zu verteidigen. In der Ära des World Wide Web ist nationaler Partikularismus nicht nur technischer Unsinn, sondern auch politisch gefährlich. Daten-Nationalismus ist – wie jeder Nationalismus – eine Antwort von gestern auf Probleme von heute und morgen.
Alan Posener ist politischer Korrespondent der WELT-Gruppe
Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 58-63