Das „Zentrum“ führt auf einen Irrweg
Polen und Deutsche stehen an einer Wegkreuzung
Die Idee eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ wird von den Polen als Bedrohung für die deutsch-polnischen Beziehungen angesehen. Sie missachte, so wird befürchtet, die historischen Zusammenhänge und berge die Gefahr von unkontrollierbaren Emotionen. Es gibt bessere Wege, gemeinsam der Vergangenheit zu gedenken, ohne die deutschen Gefühle bei diesem schwierigen Thema beiseite zu schieben.
Aus der schier hoffnungslosen Situation einer gegenseitigen Feindschaft nach dem Zweiten Weltkrieg heraus haben Polen und Deutschland es geschafft, große Fortschritte im Bereich der Verständigung und Zusammenarbeit zu erreichen. Einzigartig im Geflecht politischer Beziehungen war es, dass sich um diesen Prozess verschiedene Parteien, Gruppen und Persönlichkeiten verdient gemacht haben, die im politischen Alltag einander eigentlich recht fern waren. Dieses Kapital kann noch über Jahre Früchte tragen, kann aber auch vergeudet werden. Zu einem gewissen Zeitpunkt mutete das Erreichte als derart selbstverständlich an, dass sogar von „Versöhnungskitsch“ die Rede war (Klaus Bachmann). Wir haben jedoch vergessen, dass jede Idee ihre Gegner hat und die guten polnisch-deutschen Beziehungen in jeder Generation gepflegt und bekräftigt werden müssen.
Verdienste haben hier ganz unterschiedliche Gruppen. Nennen wir zunächst einmal die Denkschrift der EKD und den Briefaustausch der polnischen und deutschen Bischöfe, dessen 40. Jahrestag wir feiern, dann die konsequente Zusammenarbeit der früheren demokratischen Opposition in der DDR mit der Solidarnosc, aber auch das Wirken u.a. von Willy Brandt und Helmut Kohl, Tadeusz Mazowiecki und Aleksander Kwasniewski, von Protestanten und Katholiken. Unvergesslich bleiben für uns auch Abertausende von Paketen und Briefen aus Deutschland zur Zeit des Kriegsrechts.
Länder, Städte und Gemeinden haben vielfältige gute Beziehungen zu Polen aufgebaut, Hunderte von Projekten des polnisch-deutschen Jahres beweisen dies. Aussiedlerkreise, die sich Landsmannschaften der Vertriebenen nennen, haben oft beständige und sehr gute Kontakte auf regionaler bzw. lokaler Ebene geschaffen. Auch das ist unser Kapital. Es gibt natürlich Probleme, wie die Einstellung zur Dienstleistungsfreiheit und Arbeitsmarktkontrolle, der gesamte Fragenkomplex im Zusammenhang mit der Vertiefung der Oder, der Brückenbau und der Zugang für Eisbrecher – aber das sind kurzfristig lösbare Fragen. Eine aktive Partnerschaft, die Bekämpfung der Kriminalität und vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit funktionieren sehr gut.
Nach dem Jahr 2000 begann jedoch eine „Rückkehr zur Vergangenheit“, u.a. mit dem Projekt,in Berlin ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten. Aus polnischer Perspektive wurde diese Idee als ungerecht undvor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte als falschempfunden. Selbstverständlich sind sich die Polen des Ausmaßes von Unglück und Leid bewusst, das die deutsche Bevölkerung in den ehemaligen Ostgebieten des Reiches erdulden musste. Man darf aber dieses Problem nach 60 Jahren nicht kritiklos aus dem Zusammenhang reißen. Das Dritte Reich hat nicht nur den Krieg begonnen; in seinem Namen sind unvorstellbare Verbrechen begangen worden – u.a. die Vernichtung ganzer ethnischer Gruppen.
Rückkehr zur Vergangenheit
Die Idee, ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten, ist in Polen auf fast einheitlichen Widerstand gestoßen und hat – da sie mit den Forderungen der deutschen Vertriebenenorganisation „Preußische Treuhand“ um Rudi Pawelka zusammenfiel – eine Debatte über Entschädigungen und Kriegsreparationen ausgelöst.
Es ist wichtig, dass die tatsächlichen Gründe des polnischen Protests gegen das Zentrum richtig begriffen werden. Dieser Protest ist keineswegs ein Reflex des polnischen Nationalismus, wie zuweilen zu vernehmen ist; er hat viel tiefere Ursachen. Dies erklärt auch, warum die Idee eines „Netzwerks Erinnerung und Solidarität“1 keinen derartigen Widerspruch hervorgerufen hat und weshalb sich dem Protest Persönlichkeiten wie Wladyslaw Bartoszewski und Leszek Kolakowski sowie die Links-, Mitte- und Rechtsparteien angeschlossen haben. Die Richtigkeit unseres Standpunkts wurde in der Erklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland vom Dezember 2005 bestätigt.2
Man kann die These aufstellen, dass die Idee des Zentrums das Abweichen vom langjährigen Prozess der Versöhnung und einen Paradigmenwechsel bei der Sicht auf die gemeinsame Vergangenheit bedeutet. Man würde sich auf Unrecht und Leid konzentrieren und darauf, dieses in den Medien bestmöglich darzustellen. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, beschreitet damit einen völlig anderen Weg als Willy Brandt, die EKD, die Bischöfe und Helmut Kohl. Es ist kein Zufall, dass das demokratische Deutschland 50 Jahre lang kein derartiges Zentrum errichtet hat, obwohl in dieser Zeit die Vertriebenenverbände mächtiger und ihre Mitglieder jünger als heute waren. Man tat es nicht, weil man bestrebt war, vorwiegend Heimatmuseen und keine Vertreibungsmuseen zu gründen. Das Bewusstsein eines historischen Zusammenhangs war noch stark.
Man sollte den Weg der Besinnung auf die eigene Leidensgeschichte anstatt auf Versöhnung nicht einschlagen, denn es wäre schwer, den Ausbruch bestimmter Emotionen zu zügeln. Es handelt sich um ein Zentrum gegen etwas und nicht für etwas. Das Konzept beinhaltet nicht die Idee einer Solidarität mit anderen, wie es den Anschein haben soll, sondern birgt vielmehr eine Atmosphäre von Konfrontation, wie aus dem vom Vertriebenenverband und dem CDU-Abgeordneten Erwin Marschewski in Auftrag gegebenen Gutachten von Professor Eckart Klein hervorgeht.3 Es ist also nicht möglich, das „Zentrum“ in die Pläne des „Netzwerks“ einzubeziehen – die Ideologien sind völlig verschieden. Die des „Zentrums“ ist falsch und missachtet die Gesamtheit der Geschichte. Ich fürchte, dass sie eine Bedrohung für die deutsch-polnischen Beziehungen darstellt.
Die Beweise dieser These müssen systematisch erörtert, die Ursachen für das polnische Misstrauen aufgezeigt werden. Schreibt doch Friedbert Pflüger in seiner äußerst freundlichen Botschaft „Niemals über die Köpfe der Polen hinweg“,4 das „Zentrum“ dürfe nicht zum Streitobjekt in den deutsch-polnischen Beziehungen werden. Es handele sich um das Gedenken der Vertreibung im Sinne von Versöhnung und darum, so schreibt Pflüger, dieses Phänomen zu dokumentieren und jegliches Unrecht abzurechnen. Für den Autor ist klar, dass das Projekt des Zentrums europäisiert werden und die polnische Seite an dessen Gestaltung teilhaben müsse und dass niemand die Kriegsschuld in Frage stellen und die Geschichte neu schreiben wolle.
In diesem Punkt sehen wir das erste Missverständnis. Ein Problem stellt sich nicht nur bei der Frage, wer den Krieg begonnen hat, sondern vor allem bei der Frage, welch ein schreckliches Schicksal auf polnischem Gebiet Millionen Zivilisten erleiden mussten – Polen und Juden. Denjenigen, die überlebt hatten, erschien die These, dass Polen und Deutsche nicht mehr in einem Staat leben können, ganz natürlich; die Alliierten waren derselben Meinung.
Was soll das „Zentrum“ sein und wer soll es gestalten?
Das Problem besteht darin, dass das „Zentrum“ nicht auf die von Angela Merkel gewünschte Verbindung von „Erinnerung mit zur Versöhnung ausgestreckter Hand“ hoffen lässt. Trotz versöhnlicher Gemeinplätze geben uns die Fakten keinen Anlass für Vertrauen. Im Gegenteil: Alles weist auf einen Paradigmenwechsel hin. Denn wer wird das Zentrum gestalten? Obwohl sie auf dem Hoheitsgebiet der Republik Polen als Tochter eines Unteroffiziers der deutschen Besatzungstruppen in einer Wohnung geboren wurde, aus der zuvor eine polnische Familie vertrieben worden war, glaubt Erika Steinbach, eine Vertriebene und nicht nur Vorsitzende eines Vertriebenenverbands zu sein. Soll das heißen, dass sie auch die Vorkriegsgrenzen Polens in Frage stellt? Wie steht es da um die Garantie, dass die Geschichte nicht neu geschrieben wird?
Der Experte des Vertriebenenverbands, eine Person also, die das Konzept des Zentrums mitbestimmt, ist Eckart Klein. Sein unlängst vom CDU-Bundestagsabgeordneten Marschewski in Auftrag gegebenes Gutachten5 enthält unerhörte Behauptungen. Demnach hätte es polnische Pläne zum Völkermord an den Deutschen gegeben, die nur nicht realisiert wurden. Das Gutachten ist aggressiv und in seinem Inhalt auf Konfrontation ausgerichtet. Sogar die Wortwahl widerspricht dem von der CDU akzeptierten Begriff „Erinnerung mit zur Versöhnung ausgestreckter Hand“.
In öffentlichen Debatten Frau Steinbachs mit Polen wurde keinerlei Verständigung erzielt. Bedeutsam war auch, dass Erika Steinbach gegen Gesine Schwan, die deutsche Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, mit rechtlichen Mitteln vorging, um kritische Äußerungen zu unterbinden.
Den authentischen, tief greifenden Versöhnungsprozess von Millionen Polen und Deutschen, die einst ihre Heimat verlassen mussten, vereinnahmt Steinbach für sich. Sie und ihre Anhänger bringen völlig neue und beunruhigende Elemente in diesen Prozess ein, die, das entnehmen wir ihren Äußerungen, so wesentlich sind, dass die Zusammenarbeit bei Einzelheiten erst recht erfolglos bliebe. Diese veränderte Philosophie hat nichts gemein mit der großen Tradition der Versöhnung, um die sich auch die CDU über Jahre verdient gemacht hat. Das „Zentrum“ wird kein Museum des Zweiten Weltkriegs sein. Ganze Bereiche des Krieges, darunter auch das Leid der deutschen Bevölkerung (z.B. der Opfer der Konzentrationslager seit 1933), „verschwinden“ auf diese Weise aus dem öffentlichen Bewusstsein.
Wir stellen die im Programm der CDU enthaltene Idee der historischen Dokumentation der Leiden der Aussiedler mit gleichzeitiger Akzentuierung der Versöhnung (von polnischer Seite beschäftigt sich damit u.a. das Zentrum „Karta“, das Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften, das Institut für Nationales Gedenken) nicht in Frage. Wir sind jedoch mit dem Konzept des „Zentrums“, das das Jahr 1945 aus dem dramatischen historischen Zusammenhang reißt, nicht einverstanden.
Polen hat durch die Teilnahme am „Netzwerk“ seine Offenheit und Bereitschaft gezeigt, die geschichtliche Erinnerung um das Schicksal der Aussiedler zu ergänzen. Es wurde uns gesagt, die Vorstellungen Erika Steinbachs zur Geschichte wären eine Randerscheinung und sie selbst spiele politisch keine Rolle. Doch nun beobachten wir eine andere Entwicklung.
Wie wird das nach dem Konzept von Erika Steinbach realisierte „Zentrum“ aussehen? Wenn wir einer Meinung sind, dass es zwischen uns keinen Streit darüber gibt, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs weder weggelogen, verfälscht noch neu geschrieben werden dürfe, so überlegen wir doch einmal, was in Berlin vom Zweiten Weltkrieg übrig geblieben wäre. Welche materiellen Spuren würden Schülergruppen und Touristen sehen? Solange das nur das Holocaust-Mahnmal, Friedhöfe und Gedenkstätten des deutschen Widerstands waren, gab es keine Zweifel. Nunmehr soll das offizielle Zentrum gegen Vertreibung zu einem zweiten Bestandteil des Gedenkens werden. Und wo bleiben die Millionen Zivilisten verschiedener Volkszugehörigkeit, die in Polen, Russland, in der Ukraine, in Griechenland und in Weißrussland ermordet wurden?
Gibt es in der Moral der gegenwärtigen starken deutschen Demokratie kein Bedürfnis danach, ein Museum für alle Opfer, die im Namen der kranken, totalitären Ideologie ermordet wurden, zu errichten? Angekündigt ist noch allenfalls ein Gedenkmal zu Ehren der ermordeten Sinti und Roma. Des gemäß dem Generalplan Ost gezielt durchgeführten Mordes an den polnischen gesellschaftlichen Eliten wird aufgrund des Einsatzes sozial engagierter Deutscher wahrscheinlich durch Tafeln an einer Bushaltestelle gedacht werden. Und dabei bliebe es. Werden Touristen aus Polen, Russland, der Ukraine, Griechenland und den Niederlanden daraufhin nicht erbittert sein? Wird sie dies nicht auf die Idee bringen, dass es Heiligtümer des eigenen Leides zu errichten gilt? Keine Denkmäler aus den fünfziger Jahren wie in Babij Jar in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, sondern moderne multimediale Einrichtungen, die alle Gräuel und das gesamte Unrecht veranschaulichen. Sie werden sich fragen, weshalb man keine neuen Zentren gegen den Menschenmord errichten könne, auch wenn nichts mit dem Holocaust vergleichbar sei?
Man wird uns sagen, dass sich auch die Vertriebenenverbände ändern, dass z.B. Johann Böhm, der Sprecher der Sudetendeutschen, zum ersten Mal Theresienstadt und Lidice in Tschechien besucht hat. Sehr interessant war sein Kommentar nach diesem Besuch: „bescheiden, aber suggestiv“.6 Man kann die Morde an der Zivilbevölkerung, wie sie in Lidice oder im polnischen Michniów stattgefunden haben, viel weniger bescheiden, viel moderner zeigen. Und die modernen Mediendemokratien sind Stimmungsdemokratien, Meinungsforschungsdemokratien und Demokratien der Emotionen. Solche Emotionen sind leicht zu entfachen und sehr, sehr schwer zu löschen.
Auch wenn die polnische Protestreaktion am vehementesten war, kann durchaus prognostiziert werden, dass die Errichtung eines sicherlich imposanten „Zentrums“ in Berlin das Gefühl eines schmerzlichen Mangels und auch den Wunsch hervorrufen würde, die eigenen grauenvollen Erlebnisse, z.B. der Russen während des Zweiten Weltkriegs, in größerem Umfang veranschaulichen zu wollen. Die Slawen sind auch zu Emotionen fähig. Möge uns die scheinbare Harmonie der Feierlichkeiten zum 9. Mai im letzten Jahr nicht trügen.
Ein verzweifelter Versuch, diese Bewegung aufzuhalten, ist der Breslauer Vorschlag, ein Versöhnungszentrum zu bauen. Man mag meinen, dass alles übertrieben sei, dass nichts passieren würde, dass einfach nur ein zusätzliches Museum in Berlin entstünde. Möge es so sein, doch es könnte auch ganz anders kommen. Ist es nicht grenzenlos absurd, dass Festakte anlässlich des 600. Jahrestags einer Schlacht (auf dem Amselfeld) friedensgefährdend sein können? Wir alle wissen, wie die Folgen waren – nicht die der Feierlichkeiten, sondern die der politischen Interpretation.
Friedbert Pflüger schreibt in dem zitierten Artikel, niemand stelle in Frage, wer den Krieg angezettelt habe. Wenn das doch der Fall wäre! In Deutschland ist vor kurzem das Buch „Der Krieg hat viele Väter“7 erschienen. Bei Treffen mit Deutschen habe ich häufig erlebt, wie sie historische Tatsachen in Zweifel zogen, weil ihnen ihre Familienangehörigen eine andere, private Version der Geschichte überliefert haben. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily erinnerte bei einem Landsmannschaf-tentreffen am 6. August 2005 in Berlin an den historischen Kontext, darunter auch an „unsere“ Vertreibungen – die Vertreibungen von Polen und anderen Volksgruppen, begonnen mit 1939, und an die Kriegsschuld. Alles Selbstverständlichkeiten, doch für Beobachter (bereits) ein Beweis von Zivilcourage. In privaten Gesprächen tauchen Bemerkungen auf, dass das „Zentrum“ eine Rückkehr zu der Frage der Ansprüche vorbereitet.
Pflüger, aktiver Architekt und Teilnehmer des Versöhnungsprozesses, eines Wunders zwischen Polen und Deutschen, wie es Bronislaw Geremek bezeichnete, nennt ein zusätzliches Argument zugunsten des „Zentrums“: Es müsse mit jedem Unrecht abgerechnet werden. Nun – zum Glück für die Deutschen – nicht mit jedem Unrecht. Man kann ganz einfach gedenken, vergeben und Mitleid empfinden. Die Erinnerung an die Opfer der Aussiedlungen muss bewahrt, ihr Schicksal erforscht und dokumentiert werden, doch das Rezept der Bischöfe („Wir vergeben und bitten um Vergebung“) und die berühmte Formel ihres Briefes hat sich, obwohl ursprünglich so schwer akzeptierbar, als einfach und wirkungsvoll erwiesen. Weisen wir sie nach 40 Jahren nicht leichtfertig von uns, damit wir es späterhin nicht bereuen müssen. Der Bau des „Zentrums“ statt eines Museums des Zweiten Weltkriegs kann also seiner Natur nach die Geschichte verfälschen, auch wenn es nicht von Frau Steinbach errichtet wird. Sogar falls es, was nicht zu erwarten ist, nur die Wahrheit zeigte, so würde es nicht die ganze Wahrheit zeigen.
Emotionen berücksichtigen, aber nicht entfachen
Die Aussiedler, darunter jene in den Jahren 1945 bis 1950 ausgesiedelte Gruppe, die persönliche Tragödien erlebt hat, unterscheiden sich voneinander. Viele von ihnen setzen sich seit Jahren hilfreich für ihre frühere Heimat ein, fahren hin, pflegen Kontakte mit polnischen Bürgern, hegen ihre Erinnerungen.
Das sind wahre Botschafter unserer Beziehungen, wie der mit polnischen Auszeichnungen geehrte, kürzlich verstorbene Gerhard Nitschke, Gründer des Adalbertus Werkes e.V., dem viele frühere und heutige Danziger angehören. Beim 59. Treffen dieser Gruppe im August 2005 auf der Burg Gemen bei Borken hat der Verein Kulturgemeinschaft „Borussia“ seinen enormen Beitrag zur Pflege des Geschichtsbewusstseins im Masurengebiet, darunter auch der deutschen Tradition, dargestellt.
Maria Piotrowicz, als Polin und Tochter ihres in Auschwitz ermordeten Vaters im Vorkriegs-Danzig geboren, zeigte den nach einer poetischen Vision von Günter Grass aufgeführten „Friedhof der nichtexistierenden Friedhöfe“, einen virtuellen Dom, eigentlich aber dessen Umrisse, markiert durch Hecken und Pflanzenspaliere, in der Mitte eine große marmorne Grabplatte, von Geistlichen von vier Konfessionen geweiht.Es ist ein Ort, an dem man Lichter für Verstorbene entzünden kann, deren Gräber nicht mehr existieren, weil es die alten Friedhöfe nicht mehr gibt. Es ist eine Stätte ökumenischer Meditation, ein wahres Zentrum gegen eine geistige Vertreibung, eine Wiederkehr in die Heimat. Diese Stätte wurde von den heutigen Behörden von Danzig eröffnet. Solche Meditationsstätten berücksichtigen Emotionen, lassen sie aber nicht überhand nehmen, und ergänzen notwendigerweise die Idee des „Netzwerks“ und wissenschaftlicher Forschungen.
Um von dem eisernen Thema des „Zentrums“ abzugehen, möchte ich ein anderes Beispiel nennen: Die sächsische CDU hat vor nicht langer Zeit beschlossen, das Schlesien-Museum in Görlitz zu unterstützen. Stellen wir uns vor, dass die Bürgerplattform oder die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ die Errichtung eines Ukraine-Museums in Rzeszów oder eines Litauen-Museums in Suwalki beschließen würde. Wie würden die Nachbarn darauf reagieren? Görlitz und Zgorzelec arbeiten sehr gut zusammen, bemühen sich überdies um den Status einer Kulturhauptstadt Europas (was wir unterstützen). Das Museum wird sicherlich – ähnlich wie Norman Davies in seinem Buch über Wroclaw – die multikulturellen Traditionen Schlesiens zeigen. Gleichzeitig aber wird ein anderes Schlesien-Museum errichtet: Nach 60 Jahren soll das vorsätzlich von Nazi-Deutschland zerstörte Schlesische Museum in Katowice wieder aufgebaut werden. Die Besatzungsmacht hatte das kurz vor Kriegs-ausbruch fertig gestellte, damals hochmoderne und u.a. durch Bürgerspenden finanzierte Haus bis auf den letzten Stein abgetragen. Fassen wir also einen Entschluss: Bauen wir wieder an zwei schlesischen Museen (dazu kommt noch ein drittes in Wroclaw) oder unternehmen wir etwas gemeinsam?
Sehen wir uns einmal andere Ideen an: Die sächsische CDU spricht sich für den 5. August als Tag der Vertriebenen, für einen Vertriebenenbeauftragten und die Errichtung eines neuen „Hauses der Heimat“ aus. Erika Steinbach bedankt sich für diese Initiativen bei den „bewährten Kämpfern um Vertriebenenbelange“. Und nur der frühere Rektor der Universität Leipzig Cornelius Weiss, SPD-Mitglied und ehemaliger Soldat der Wehrmacht, warnt vor dem Aufreißen alter Narben und der Gefährdung der polnisch-deutschen Versöhnung. Er stellt fest, dass ein gesamtnationaler Tag der Befreiung ausreiche und dass man einen besonderen Gedenktag für die Vertriebenen nicht brauche. Das macht nachdenklich.
Fazit
Widerstand gegen das Projekt Zentrum bedeutet nicht die Geringschätzung deutscher Gefühle. Er ergibt sich aus der Besorgnis um die Kontinuität der bisherigen, in ihrem Wesen europäischen Linie der polnisch-deutschen Versöhnung und um die Wahrung des bisherigen Paradigmas. Wir sollten klar und besonnen argumentieren und nach Verständigung suchen, die ja keineswegs ausgeschlossen ist. Das Zentrum ist noch nicht entstanden.
Das Zentrum ist eine Idee, die auf einen Irrweg führt. Wenn es Teil eines großen Museums des Zweiten Weltkriegs in Berlin wäre, könnten wir darüber diskutieren, wo Akzente zu setzen sind, wie die Proportionen (die Jahre 1939 bis 1945) aussehen sollten. Ein eigenständiges Zentrum wird eine gewisse Verfälschung bedeuten, unabhängig von seinen Begründern. Es wird nämlich am vollen Kontext des totalen Krieges HitlerDeutschlands fehlen, seinen Ursachen und Folgen. Angesichts der Versuchung, es als das „kleinere Übel“ zu betrachten, sollten wir bedenken, wie solch „kleinere Übel“ zumeist enden.
Der Dialog mit den ehemaligen Bewohnern unserer Gebiete ist wichtig. Zum Glück sind die heutigen Leitungsgremien der Vertriebenenverbände nicht ihre einzigen Vertreter. Die Bischofskonferenzen Polens und Deutschlands planen einen neuen Brief zum 40. Jahrestag des historischen Briefwechsels. Hoffen wir, dass dieser Brief unseren gegenseitigen Beziehungen einen neuen Anstoß gibt. Die Politiker demokratischer Rechtsstaaten müssen jedoch hier und heute ihre Pflichten erfüllen, die ihnen in schwierigen Zeiten Kirchen oder Autoritätspersonen in Fragen der Moral aus beiden Ländern, wie Stanislaw Stomma, Marion Gräfin Dönhoff oder Karl Dedecius, abnahmen.
Lange hat Johannes Paul II. über unseren Versöhnungsprozess gewacht. Eine scharfsinnige Analyse des Nationalsozialismus hat schon vor Jahren der gegenwärtige Papst Benedikt XVI. vorgestellt. Doch wir sind nunmehr reife Bürgergesellschaften. Polen und Deutsche stehen an der Wegkreuzung der Geschichte. Dank Menschen, die beharrlich Brücken errichteten, haben wir viele Abgründe passieren können. Einzigartig war die Tatsache, dass uns auf dem bisherigen Weg alle großen und kleineren politischen Parteien des demokratischen Polens und Deutschlands unterstützt haben. Mögen wir der Versuchung widerstehen, einen Blick in den Abgrund zu werfen, der doch auch anziehend sein kann. Der Hass ist zuweilen medienwirksamer als scheinbar graue alltägliche Solidarität und Vergebung. Aber nur die Vergebung gibt uns das Gefühl der Sicherheit für die nächsten Jahre.
Prof. Dr. IRENA LIPOWICZ, geb. 1953, ist beauftragte Botschafterin des polnischen Außenministers für die deutsch-polnischen Beziehungen. Sie lehrt an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau.
- 1Ein internationales „Netzwerk gegen Vertreibung“ würde Institutionen vereinen, die das Problem der Vertreibungen und deren Folgen untersuchen.
- 2Zur geplanten Schaffung eines Vertriebenenzentrums in Berlin vgl. www.zentralratdjuden.de/de/article/812.html.
- 3Eckart Klein: Gutachten zur Rechtslage des im heutigen Polen entzogenen Privateigentums Deutscher, Potsdam 2005, vgl. S. 40–42 und die Schlussfolgerungen.
- 4Friedbert Pflüger: Niemals über die Köpfe der Polen hinweg, Rzeczpospolita, 12.8.2005.
- 5Vgl. Anm. 3.
- 6Zitiert nach Mlade Fronta Dnes vom 27.7.2005.
- 7 G. Schultze-Rhonhof: Der Krieg hat viele Väter, Olzog 2005.
Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 120 - 126