IP

01. Juli 2017

Das Scheitern des Chávismus

Im ölreichen Venezuela hungern die Menschen, das Land zerfällt im Chaos

Seit Wochen mobilisiert die Opposition ihre Anhänger gegen die sozialistische Regierung unter Nicolás Maduro. Doch dieser klammert sich an die Macht. Das Land steuert auf einen Bürgerkrieg zu. Ein Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht, trotz Vermittlungsbemühungen hinter den Kulissen.

Im Arbeiterviertel „23 de Enero“, das sich nördlich an den Hügel über Caracas hinaufzieht, ist Hugo Chávez niemals gestorben. Hier ist der selbsternannte Führer der bolivarischen Revolution allgegenwärtig, verewigt auf zahlreichen, über die engen Straßen gespannten Plakaten, die ihn in Militäruniform und mit dem roten Barrett der Fallschirmjäger zeigen. Graffitis auf den bröckelnden Mauern zeigen den 2013 verstorbenen Chávez, wie er die Kinder des Arbeiterviertels zum Fußballspielen ermutigt oder die Hand zum militärischen Gruß hebt – als würde er den Bewohnern noch immer den Weg in die Zukunft weisen.

Fast 90 000 Menschen wohnen in „23 de Enero“, das eines der stärksten Bastionen des Chávismus war und immer noch ist. Während seiner Amtszeit (1999 bis 2013) ließ Chávez hier zahlreiche kastenförmige Blocks mit Sozialwohnungen errichten, die mit ihren bunten Fassaden schon von weitem sichtbar sind. Die Mehrheit der Bewohner muss mit einem Mindestlohn auskommen, viele sind auf die Gratis-Lebensmittelpakete der Regierung angewiesen. Für sie ist Chávez noch immer ein Heilsbringer, den sie bis an ihr Lebensende verehren werden. „Er hat mein Leben verändert, meine Familie aus der Armut geholt“, sagt die 42-jährige Nelly Castillo, die mit ihren Kindern in einem dieser Sozial­blocks lebt. „Er bleibt unser Messias.“ Für seinen Nachfolger, den jetzigen Präsidenten Nicolás Maduro, habe sie nur gestimmt, weil Chávez es so gewollt habe. So wie Castillo denken viele in ihrem Viertel.

Eine explosive Pattsituation

Vom Stadtteil „23 de Enero“ kann man auf den Miraflores-Palast schauen, Maduros Amtssitz. Die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Opposition und regierungstreuen Anhängern lassen sich von dort jedoch nur erahnen. Der Rauch der Tränengasbomben steigt nicht bis nach oben. Bei den gewaltsamen Protesten kamen bisher 65 Menschen ums Leben; mehr als 1000 wurden verletzt, weit über 2000 Menschen festgenommen. Venezuela, eines der rohstoffreichsten Länder weltweit, droht Zerfall und Bürgerkrieg. Das Politexperiment des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ist gescheitert. ­Maduros Macht ist in diesen Schicksalstagen fragil, aber längst noch nicht gebrochen.

Seit mehr als zwei Monaten mobilisiert die Opposition ihre Anhänger zu Massendemonstrationen. Sie kämpfen für vorgezogene Neuwahlen und eine Volksabstimmung über die Absetzung des Präsidenten, dessen Amtszeit regulär 2019 endet. Dieses Mal sind die Regierungskritiker entschlossen, nicht aufzugeben wie damals, im Frühjahr 2014. „Wir wollen Druck auf die Regierung ausüben. Die Demonstrationen sind unser in der Verfassung verankertes Recht, sie sind keine Straftat“, sagt Oppositionsführer Henrique Capriles. Wie lange die Massenproteste noch weitergehen, kann auch er nicht sagen. „Das Volk wird niemals müde“, bekundet der Präsident des von der Opposition dominierten Parlaments, ­Julio Borges.

2015 gewann die Opposition die Parlamentswahl mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Diese starke Mehrheit in der Nationalversammlung ist allerdings nahezu wertlos. Präsident Maduro hat den Ausnahmezustand ausgerufen und regiert mit Notstandsgesetzen an den Abgeordneten vorbei. Der Oberste Gerichtshof, besetzt mit Anhängern der Regierungspartei PSUV, beschnitt zudem die Kompetenzen des Parlaments.

Diese Pattsituation zwischen Regierung und Opposition lähmt das Land nicht nur politisch. Sie trägt zur Eskalation der Krise bei. „Venezuela ist ein Bombe, die jeden Moment explodieren kann“, warnt Oppositionsführer Capriles. Die Gewaltbereitschaft wächst auf beiden Seiten. Jüngst ließ die Regierung eine Demonstration von Rentnern mit Tränengas auseinandertreiben. Fotos von Polizisten, die mit Schlagstöcken auf friedliche ältere Menschen losgehen, schockierten die Weltöffentlichkeit. Aber auch innerhalb der Opposition gewinnen radikale, gewaltbereite Kräfte an Zuspruch. „Es ist nicht abzusehen, ob es kurzfristig zu Verschiebungen der Macht kommt“, sagt Michael Langer, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Venezuela. „Heute gibt es eine breitere Basis für die Proteste als vor drei Jahren.“ Bei der großen Protestwelle 2014 war die Opposition zersplittert und ohne gemeinsame Linie. Heute tritt sie geschlossener und im ganzen Land auf.

Die Regierung spielt auf Zeit

Niemand scheint so recht zu wissen, wie Venezuela sich aus einer Situation befreien kann, in der Gewalt mit Gewalt beantwortet wird. Der Präsident bleibt hart; nicht nur weicht er keinen Millimeter von seinen Positionen ab; er schürt den Konflikt mit seinen Reden weiter an. Ganz nach dem Vorbild seines Ziehvaters Chávez schimpft der Ex-Gewerkschaftsführer auf die „rechten Putschisten“. In den Protesten sieht er nichts als einen „Wirtschaftskrieg des Imperialismus“. Sein jüngster Schachzug war die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die er als Gesprächsangebot an die Opposition anpries. Erwartungsgemäß lehnte diese ab. Es gehe Maduro nur darum, mehr Macht auf das Präsidentenamt zu vereinen und die Regionalwahlen im kommenden Jahr abzusagen, so Oppositionsführer Capriles.

„Die Mobilisierung der Menschen ist die einzige politische Waffe, die die Opposition in der aktuellen Situation hat“, erklärt der Politikwissenschaftler Eduardo Rios, Vertreter des Forschungszentrums CNRS in Brasilien. Die Regierung habe keine wirkliche Strategie für ihren Machterhalt. „Maduro ist an einer politischen Lösung interessiert und keinesfalls an Neuwahlen.“ Diese würde er nach jetziger Stimmungslage deutlich verlieren.

Während die Regierung auf Zeit spielt, wächst der Druck der Straße. Täglich finden im ganzen Land Demonstrationen, Schweigemärsche oder Sitzblockaden statt. Nach Einbruch der Dunkelheit kommt es in Caracas fast täglich zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die beklemmenden Szenen gleichen sich: Das Militär riegelt mit gepanzerten Fahrzeugen ganze Straßenzüge ab und feuert mit Tränengasbomben. Demonstranten verschanzen sich hinter Straßenblockaden oder selbst gebastelten Schutzschildern.

International wird die Kritik am autoritären Verhalten von Maduro immer lauter, auch von der Europäischen Union. Mit der Ankündigung des Austritts aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat Venezuela einen wichtigen möglichen Vermittler verloren. Vorausgegangen war ein harter Schlagabtausch mit OAS-Generalsekretär Luis Almagro, der Neuwahlen forderte. Die USA, wichtigstes OAS-Mitglied, zeigen sich im Venezuela-Konflikt erstaunlich ­zurückhaltend. Ein Grund sind sicherlich die engen wirtschaftlichen Verflechtungen: Die USA sind ein wichtiger Exportmarkt für venezolanisches Erdöl. Doch weil Venezuela keine ausreichenden Raffineriekapazitäten besitzt, muss es teuer Benzin wieder zurückkaufen.

Experten gehen davon aus, dass sich Venezuela außenpolitisch weiter isolieren wird. Neben Kuba unterstützt China offen Maduros Regierung. Da Russland sein gutes Verhältnis zu den Chinesen nicht gefährden will, wird es – zumindest nach außen – loyal bleiben. Viele russische Gas- und Ölfirmen haben zudem in Venezuela investiert, und Maduro bemüht sich sehr um das Wohlwollen des Kremls. Jüngst rief er den „Hugo-Chávez-Friedenspreis“ ins Leben: Der erste Preisträger war niemand anderer als Russlands Präsident Wla­dimir Putin.

Dennoch finden hinter den Kulissen weitreichende Vermittlungsbemühungen der südamerikanischen Staaten statt. So hat Uruguay schon mehrfach bei regionalen Konflikten vermittelt und sich als Streitschlichter einen Namen gemacht. „Die Rolle von Uruguay darf man auch jetzt nicht unterschätzen. Es könnte eine Chance sein“, sagt Michael Langer von der FES.

Jüngst bat Präsident Maduro auch Papst Franziskus, erneute Vermittlungsgespräche zu begleiten. Das Kirchenoberhaupt sagte zwar Unterstützung zu, allerdings nur unter klaren Bedingungen. Der erste Vermittlungsversuch war im Dezember vergangenen Jahres gescheitert, weil die Vorschläge „verwässert“ worden ­seien, ließ der Papst wissen. Auch die ­Opposition ist skeptisch, denn sie besteht auf einer Bedingung: „Es gibt keine Alternative zu freien und demokratischen Wahlen“, so Henrique Capriles. Die von Maduro in Aussicht gestellten Regionalwahlen, die bereits mehrfach verschoben wurden, sind für ihn dabei kein ausreichendes Angebot. Auch müssten alle politischen Gefangenen freigelassen und ein humanitärer Korridor für die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten eingerichtet werden, fordert Capriles im Namen der gesamten ­Opposition.

Schlüsselrolle des Militärs

In Verhandlungen müssten nicht nur die Politik, sondern auch weitere Akteure wie das Militär einbezogen werden, ist Langer überzeugt. „Es kann keine Lösung ohne das Militär geben“, betont er. Das Militär besetzt wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft, überdies ist es auch in die Verteilung von Lebensmitteln eingebunden. Noch stehen die Militärs ­loyal hinter der sozialistischen Staatsführung, auch weil die Verpflegung der Soldaten und ihrer Familien für die Regierung oberste Priorität hat. Chávez genoss starken Rückhalt im Militär, weil er selbst aus deren Reihen kam. Für Maduro gilt das nicht. Doch gibt es seit Chávez eine enge Kooperation mit dem kubanischen Militär. Maduro, der in Kuba studiert hat, pflegt diese Verbindungen. Zudem sollen zahlreiche kubanische Offiziere Schlüsselpositionen im venezolanischen Militär innehaben.

Dennoch ist völlig unklar, wie sich das traditionell äußerst selbstbewusste Militär künftig verhalten wird. Laut Oppositionsführer Capriles wurden vor kurzem 85 vor allem junge Offiziere festgenommen, weil sie die Militärführung wegen ihres Vorgehens bei den Protesten kritisiert haben sollen. Offiziell bestätigt wurde die Zahl nicht. „In den Streitkräften gibt es große Unzufriedenheit“, meint Capriles und fügt hinzu, dass es sich aber nicht um die Mehrheit der Soldaten handele. Vor allem die Nationalgarde steht treu zu Maduro.

Gefährliche Milizen

Noch unberechenbarer sind die so genannten Colectivos, bewaffnete Motorradmilizen, die Chávez einst als „Verteidiger der Revolution“ landesweit gebildet hatte. Oft handelt es sich dabei um Banden, die ganze Stadtviertel tyrannisieren. Sie finanzieren sich durch Drogenhandel, Entführungen und den Schwarzmarktverkauf von Lebensmitteln und Medikamenten – mit Kenntnis der Regierung, wie Experten sagen. Für die chavistische Führung sind sie unersetzbare Handlanger im Kampf gegen die Opposition. Besonders gefährlich ist die kürzliche Ankündigung Maduros, 500 000 Mitglieder der Milizen zu bewaffnen, damit „Frieden garantiert ist“.

Schon jetzt sind die Colectivos für zahlreiche Morde verantwortlich. Vermummt fahren sie auf Motorrädern in Demonstrationen der Opposition, werfen Tränengasbomben oder schießen sogar scharf, wie Roberto Briceño-León von der Nichtregierungsorganisation „Observatorio Venezolano de la Violencia“ bestätigt. „Sie sind die wahren paramilitärischen Banden im Land“, sagt er. Ende April erschossen sie vor vielen Zeugen einen 17-jährigen Studenten.

Anwohner berichten, wie die Banden Gewalt in die Stadtviertel bringen. „Zu demonstrieren oder nachts auf die Straße zu gehen, kommt de facto einem Todesurteil gleich“, erklärt Erika Guevara-Rosas, Amnesty- International-Direktorin für Amerika. Caracas gilt inzwischen als weltweit gefährlichster Ort außerhalb von Kriegsgebieten. 2500 Menschen wurden im vergangenen Jahr in der venezolanischen Hauptstadt ermordet.

Die „Maduro-Diät“

Korruption, Verstaatlichungen, Devisenkontrollen und Misswirtschaft haben das Projekt „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela in den Ruin getrieben. Der Mangel ist überall zu sehen und zu spüren. Es klingt unglaublich, aber die Menschen in dem ölreichsten Land der Welt leiden Hunger: Mehr als drei Stunden stehen die Venezolaner durchschnittlich jeden Tag in langen Schlangen vor Supermärkten und Apotheken an.

Denn das Land muss alle Güter des täglichen Bedarfs – von der Glühbirne über Maismehl bis hin zu Zahnpasta – einführen. Doch oftmals warten die Menschen vergeblich, die Regale bleiben leer. Auf dem Schwarzmarkt sind die Preise für Fleisch, Zucker und Reis mindestens zehn Mal so hoch wie in den Supermärkten.

Die höchste Teuerungsrate der Welt frisst zudem die Ersparnisse der Venezolaner auf. 87 Prozent der Bevölkerung hätten nicht genug Geld, um ausreichend Lebensmittel zu kaufen, fand eine Studie der Universität Simón Bolívar in Caracas heraus. Voller Zynismus spricht die Bevölkerung deshalb von der „Maduro-Diät“. Drei Viertel der Menschen sollen im vergangenen Jahr durchschnittlich acht Kilo an Gewicht verloren haben.

Auch Errungenschaften wie ein gutes staatliches Gesundheitssystem hat Venezuela inzwischen verspielt. Wegen fehlender Medikamente und medizinischer Geräte müssen Notaufnahmen schließen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist in die Höhe geschnellt. Nach einem Regierungsbericht stieg im vergangenen Jahr die Kindersterblichkeit um 30 Prozent und die der Mütter um 76 Prozent. Als Gesundheitsministerin Antonieta Caporale Mitte Mai die alarmierenden Zahlen veröffentlichte, kannte Maduro nur eine Antwort: Er entließ sie.

Drohende Staatspleite

Es gibt kaum ein Land, das so abhängig vom Erdöl ist wie Venezuela; mehr als 96 Prozent der Devisen­einnahmen stammen aus dem Verkauf dieses Rohstoffs. Damit hat auch der Ölpreisverfall das Land in die Krise gerissen. Zu Chávez-Zeiten nahm Venezuela rund 100 Dollar pro Barrel ein, Anfang diesen Jahres sank der Preis sogar unter 40 Dollar. Das staatliche Mineralölunternehmen PDVSA ist derart abgewirtschaftet, dass es die Förderkapazitäten kontinuierlich senken musste. Zahlreiche Raffinerien mussten wegen Ersatzteilmangel schließen. Deshalb kann Venezuela heute nur noch Rohöl exportieren und ist noch mehr von den stark schwankenden Weltmarktprei­s­en abhängig.

Die Regierung Maduro reagiert mit Preis­erhöhungen und treibt so die Inflation in die Höhe. Dieses Jahr könnte nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds der Preisverfall auf 1600 Prozent klettern. Das Land steht damit kurz vor dem finanziellen Kollaps.

Die Regierung in Caracas muss dieses Jahr knapp zehn Milliarden Dollar an ihre Gläubiger zurückzahlen und weiß nicht wie. Analysten von Kreditausfallversicherern gehen zu 98 Prozent davon aus, dass Venezuela in den nächsten vier Jahren in die Pleite rutscht. Im Ausland sollen angeblich noch rund 7,7 Milliarden Dollar in Form von Gold lagern. Das wissen auch Oppositionspolitiker, die jüngst zu einer ungewöhnlichen Maßnahme griffen und einen offenen Brief an Wall-Street-Banken schrieben: „Lasst Maduro keine Gold­reserven eintauschen“, lautete die Botschaft. Der Verkauf wäre der letzte Rettungsanker der Regierung Maduro.

Susann Kreutzmann ist Journalistin, lebt in São Paulo und berichtet über Südamerika u.a. für den österreichischen Standard und die Deutsche Welle.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2017, S. 108 - 113

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren