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25. Febr. 2022

Das Ringen der SPD um die Ostpolitik

Schon der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze stellte die SPD und Kanzler Olaf Scholz vor eine Herausforderung – auch aus historischen Gründen.

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Bild: Putun und Scholz an einem Verhandlungstisch im Kreml
Sind die alten Russland-Konzepte der SPD noch zeitgemäß? Von „Wandel durch Annäherung“ kann hier schon rein optisch nicht die Rede sein. Olaf Scholz (r.) bei Wladimir Putin in Moskau, 15. Februar 2022.
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Nur wenige Stunden nach seiner Vereidigung machte der neue Bundeskanzler Olaf Scholz sein Credo im Umgang mit Russland deutlich. Als der SPD-Politiker am 8.Dezember 2021 im ARD-Interview gefragt wurde, was er nun als Kanzler angesichts der russischen Spannungen mit der Ukraine tun werde, antwortete er mit einem Dreiklang: Zum einen seien Gespräche sehr wichtig, zum anderen eine klare Ansage des Westens, dass Grenzen in Europa nicht mehr gewaltsam verändert werden dürften. Falls dies doch geschehe, müsse dies drittens „klare Konsequenzen“ haben.



Dann schob Scholz nach: „Ich will noch einmal erinnern an zwei sozialdemokratische Bundeskanzler – Willy Brandt und Helmut Schmidt –, die mit der Ostpolitik und der Entspannungspolitik die Grundlage dafür gelegt haben, dass jetzt die Demokratie in vielen Ländern Europas möglich geworden ist, wo früher kommunistische Diktaturen waren, dass der Eiserne Vorhang verschwunden ist, dass wir alle gemeinsam in der EU zusammen sind.“



Der erste sozialdemokratische Kanzler seit 2005 stellte sich damit in eine Reihe mit dem Übervater der Nachkriegs-SPD, der übermenschengroß als Statue das Atrium des Willy-Brandt-Hauses dominiert. Die Einlassung von Scholz hatte eine doppelte Funktion: Nach innen symbolisierte der Hinweis den neuen Stolz der Sieger der Bundestagswahl. Die Erwähnung des in der SPD unumstrittenen Brandts sollte zudem die innerparteilichen Reihen schließen. Scholz formulierte den Gegenanspruch zur Union, die stets darauf verweist, dass sie die meiste Zeit in der bundesrepublikanischen Geschichte den Kanzler oder die Kanzlerin stellte.



Die zweite Botschaft war allgemeiner Natur und nach außen gerichtet: Der neue Kanzler formulierte mit dem Dreiklang die Linie, der er im Russland-Ukraine-Konflikt bis zum Redaktionsschluss der IP folgte.



Was ist Ostpolitik?

Scholz’ Dreiklang unterschied sich eigentlich nicht von der Politik, die auch seine Vorgängerin Angela Merkel verfolgt hatte. Aber die Anlehnung an die sozialdemokratische Ostpolitik löste geradezu ­reflexhafte und heftige Reaktionen aus. Zum einen warf der Begriff die Frage auf, ob er überhaupt noch in die Zeit passe. „Die Nutzung des Begriffs Ostpolitik ist sehr unglücklich“, sagte Gwendolyn Sasse, Direktorin des Osteuropa-Instituts ZOiS. Zwar sei der Begriff in der SPD sehr positiv besetzt, „aber die Reaktion in Mittel- und Osteuropa ist sehr negativ.“ Ostpolitik wecke Misstrauen wegen eines möglichen deutschen Alleingangs Richtung Russland über die Köpfe etwa Polens hinweg. Er knüpft also an historische Ängste an – die von osteuropäischen Regierungen allerdings über Jahre auch aus innenpolitischen Gründen systematisch am Leben gehalten wurden.



Die zweite Kritiklinie lautet, dass man die damalige Sowjetunion nicht mehr mit dem heutigen Russland vergleichen könne. Anders als die Sowjetunion wolle Russland heute bewusst Grenzen neu ziehen, meinte CDU/CSU-Fraktionsvize Johann Wadephul und verwies auf Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, sowie auf die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und den Georgien-Krieg. „Wer heute von Ostpolitik spricht, ist einer Illusion erlegen“, sagte er und stellte so die Verbindung zu den jahrzehntelangen Debatten zwischen SPD und Union her.



Doch emotionale Schärfe kam vor allem in die Diskussion, weil sie sich mit mindestens zwei weiteren Debatten vermischte. Vor allem der neu aufgeflammte Streit über Sinn und Unsinn der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 heizte den Streit an. In der Opposition hatten sich vor allem die Grünen zu den deutlichsten Kritikern von Nord Stream 2 entwickelt. Die seit Jahren regierenden Sozialdemokraten und die Union gehörten und gehören dagegen zu ihren Unterstützern.



Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP den Streit noch mit einem Formelkompromiss vertagt. Die Pipeline wurde nicht erwähnt, stattdessen heißt es dort: „Wir wollen die Energieversorgung für Deutschland und Europa diversifizieren. Für energiepolitische Projekte auch in Deutschland gilt das europäische Energierecht.“ Das erlaubte den Grünen, ihren Anhängern anzudeuten, dass die Genehmigung ohnehin nicht kommen werde. Dem Kanzler und der SPD sollte dies dagegen aus ihrer Sicht die Möglichkeit bieten, die Debatte zu „entpolitisieren“. Es gebe ein „ganz geordnetes Verfahren“ zur Inbetriebnahme der Pipeline, sagte der Jurist Scholz deshalb am 8. Dezember in „Welt“-TV. „Viele Entscheidungen sind schon getroffen, sonst wäre ja die Pipeline nicht fertiggestellt worden.“



Am 17. Dezember legte der Kanzler auf dem EU-Gipfel in Brüssel sogar noch nach. „Es handelt sich im Hinblick auf Nord Stream 2 um ein privatwirtschaftliches Vorhaben, das so weit vorangetrieben worden ist, dass dort jetzt eine genehmigte Pipeline liegt und dass noch eine Teilfrage entschieden wird, inwieweit das den Bundling-Kriterien des europäischen Energierechts entspricht. Darüber entscheidet ganz unpolitisch eine Behörde in Deutschland, die aber viele zur Konsultation heranzieht.“ Diese Haltung übernahm auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert am 8. Januar im Reuters-Interview, als er in Richtung des grünen Koalitionspartners sagte: „Irgendwann muss auch mal ein politischer Frieden und ein Rechtsfrieden bei so einer Frage eintreten. Es sind Genehmigungen, also rechtliche Fragen, die dem endgültigen Betrieb noch im Wege stehen.“



Das doppelte Problem für die SPD in der öffentlichen Debatte: Die Äußerungen erweckten bei den Gegnern der Pipeline den Verdacht, Scholz und die SPD könnten an der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 selbst im Falle einer russischen Aggression gegen die Ukraine festhalten wollen. Aus Sicht von Scholz war das zwar absurd, weil er noch als Vizekanzler der alten Regierung bereits am 21. Juli 2021 in der deutsch-amerikanischen Erklärung das Gegenteil schriftlich mit zugesagt hatte. Aber weil die öffentlichen Zweifel immer wiederholt wurden, rang sich der Kanzler dann am 18. Januar nach vielen Nachfragen zu der Aussage durch, dass im Falle einer russischen Aggression „alles“ auf dem Tisch liegen müsse – was logischerweise Nord Stream 2 mit einschließt.



Dennoch wollten Scholz und andere SPD-Spitzenpolitiker wie Parteichef Lars Klingbeil in der Sanktionsdebatte den Begriff Nord Stream 2 partout nicht in den Mund nehmen: Intern lautete das Argument, dass man mit einer als völlig überzogen empfundenen Zuspitzung der Debatte auf eine noch gar nicht in Betrieb genommene Pipeline nur denen in die Hände spiele, die die Pipeline schon vor dem russischen Truppenaufmarsch aus anderen Gründen abgelehnt hatten. Die Notwendigkeit zur westlichen Geschlossenheit verhindere auch eine offene Diskussion, warum nicht in gleichem Maße debattiert werde, dass die USA als LNG-Produzent vielleicht ganz eigene Interessen in der Debatte verfolgen könnten – und im Übrigen Erdöl aus Russland einkauften. Die Nichterwähnung von Nord Stream 2 sollte aber auch vermeiden, dass sofort ein Sturm der Entrüstung der innerparteilichen Befürworter der Pipeline losbrach.



Veränderte Rahmenbedingungen

Ein weiterer Grund für die leidenschaftliche Debatte über die „Ostpolitik“ waren die plötzlich veränderten Rahmenbedingungen. Im neuen sicherheitspolitischen Umfeld wirkten die Festlegungen anders: Als Scholz am 8. Dezember den Begriff in den Mund nahm, war der russische Truppenaufmarsch zwar bereits weit fortgeschritten. Aber eine mögliche militärische Auseinandersetzung lag zumindest nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden in weiter Ferne. Dann wuchs jedoch die Angst, weil Russland immer mehr Kriegsmaterial zusammenzog und auch in Be­larus stationierte. Plötzlich erschien der Hinweis auf die Ost- und Entspannungspolitik, verbunden mit der Festlegung der Ampelregierung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, zumindest für Kritiker als weltfremd – obwohl sich die Haltung der Regierung in Wahrheit nicht von der der Merkel-Regierung von 2014 unterschied, als Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte.



Für die SPD ist die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Ostpolitik – und übrigens auch der Bau anderer Gaspipelines aus Russland – kein neues Thema. Umstritten war der Kurs in Zeiten aller drei SPD-Bundeskanzler: Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Und dies setzte sich auch fort, als die SPD in der Kanzlerschaft Merkels die Außenminister stellte. Scholz erwähnte aber am 8. Dezember ganz bewusst nicht nur Brandt, sondern auch Schmidt – der auch für den NATO-Doppelbeschluss stand, also für Entschlossenheit gegenüber Russland.



„Brandt und Schmidt wussten genau, dass es keinerlei Chance auf Erfolg im Umgang mit der Sowjetunion geben würde, wenn man den Dialog aus der Perspektive eigener Schwäche führt“, betonte der scheidende Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. Scholz selbst hatte im Wahlkampf mehrfach herausgestrichen, dass mit ihm als Finanzminister der deutsche Verteidigungsetat deutlich gestiegen war – wohlwissend, dass das nicht in allen Teilen der SPD populär ist.



Die demonstrativ ausgestreckte Hand Richtung Moskau bestimmte jedenfalls lange die Grundlinie der SPD: Als Frank-Walter Steinmeier 2005 Außenminister wurde, betonte Schröders ehemaliger Kanzleramtschef die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Nach dem Amtsantritt des russischen Präsidenten Dmitri ­Medwedew bot er Russland eine „Modernisierungspartnerschaft“ an. Das war nicht nur SPD-Linie: Die gesamte Große Koali­tion setzte damals darauf, dass nach dem Wechsel von Präsident Putin neuer Wind in Moskau wehen würde, der liberale Wirtschaftsreformen ermöglichen würde. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 widersetzte sich auch Bundeskanzlerin Merkel entschieden dem Ansinnen von US-Präsident George W. Bush, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Dann folgte der ­Georgien-Krieg, der die Ost-West-Beziehungen deutlich ­ein­trübte.



Als die SPD 2013 erneut Merkels Regierungspartner wurde, fand sich im Koalitionsvertrag fast eine Seite zu Russland. Darin wurden bei aller Kritik an der innenpolitischen Verhärtung nach der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012 auch ein „offener Dialog und breitere Zusammenarbeit mit Russland“ angeboten. Aber schon wenig später musste die Regierung diese Pläne fallen lassen, weil Russland den Euromaidan und die Flucht des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zum Vorwand nahm, die Halbinsel Krim zu annektieren und die prorussischen ­Separatisten im Donbass zu unterstützen. Zur Überraschung auch vieler US-Beobachter organisierten ausgerechnet Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier den Kurs der Wirtschaftssanktionen gegen Russland – und demonstrierten somit, dass Deutschland sehr wohl Prinzipien über wirtschaftliche Interessen stellte.



Als Heiko Maas 2018 Außenminister wurde, veränderte sich die Tonlage – geprägt durch die dauerhafte Ernüchterung über den innen- wie außenpolitischen russischen Kurs unter Putin. Maas sprach zunächst von einer „neuen Ostpolitik“ und übte, wie auch die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, deutliche Kritik an Moskau. Die Folge waren heftige Debatten in der SPD. Traditionalisten kritisierten die angebliche Distanzierung vom heiligen SPD-Erbe. Dabei hatte Maas nur auf die geänderten Rahmenbedingungen hin­gewiesen.



Moderne Ostpolitik müsse eben immer die engen Partner in Osteuropa einbeziehen. Während man früher über Moskau gehen musste, sitzen seit der EU-Erweiterung die östlichen Hauptansprech- und auch wichtigsten Handelspartner Deutschlands in Warschau, Prag oder Bratislava. Um die Gemüter in der SPD zu beruhigen, sprach Maas dann von einer „europäischen Ostpolitik“ – ein Terminus, den führende Sozialdemokraten wie SPD-Co-Chef Lars Klingbeil aufnahmen. Auch Scholz stellte in der Regierungserklärung am 16. Dezember 2021 klar, dass dies seine Orientierung sei: „Ostpolitik kann im vereinten Europa nur eine europäische Ostpolitik sein.“



Neuaufstellung der Russland-Politik

Dennoch geriet die SPD Anfang 2022 zunächst weiter in die Defensive. Neben dem fortgesetzten russischen Aufmarsch trug dazu bei, dass sich Altvordere der Partei wie Gerhard Schröder, Matthias Platzeck oder Sigmar Gabriel verstärkt öffentlich äußerten und den Eindruck einer sozialdemokratischen Kakophonie erzeugten – meist mit Positionen, die an die „alte“ Ostpolitik erinnerten. Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi veröffentlichte ein Buch, in dem er eine erneute Osterweiterung der NATO als ­Gefahr für Europa bezeichnete. Aber vor allem die Rolle Schröders mit seinen Jobs für die russische Gaswirtschaft wurde zum Imageproblem der SPD, als er auch noch der Ukraine „Säbelrasseln“ vorwarf – und Anfang Februar dann für den Aufsichtsrat von Gazprom nominiert wurde.



Während die SPD nach außen abstritt, in der Russland-Politik überhaupt gespalten zu sein, war man intern durchaus alarmiert. Denn es entstand der Eindruck, über die Achillesferse eines vermeintlich zu engen, naiven Russland-Bildes als Partei politisch angreifbar zu werden. In der SPD-Fraktion und im Präsidium fanden danach Debatten statt, um die Reihen hinter dem Scholz’schen Dreiklang zu schließen. Der für Außenpolitik zuständige neue SPD-Chef Klingbeil traf sich zunächst mit Thinktankern und lud am 31. Januar zu einer Russland-Spitzenrunde aus Partei, Fraktion und SPD-Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Damit sollte vor allem auch für die Öffentlichkeit eine klare Trennmauer zwischen den früheren und den aktiven, relevanten Parteivertretern gezogen werden – nur letztere zählten, betonte Klingbeil immer wieder.



Danach fielen zwei Entwicklungen zusammen. Zum einen startete Kanzler ­Scholz nach Abstimmungen im Hintergrund in eine nun auch öffentlich sichtbare Krisendiplomatie, die ihn nach Wa­shington, Kiew und Moskau und zu einer Vielzahl von Treffen mit den europäischen Verbündeten führte. Damit wurde auf Regierungsseite der Eindruck korrigiert, nur die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sei in der Krise aktiv.



Zum anderen leitete SPD-Chef Klingbeil auch öffentlich eine sehr grundsätzliche Neupositionierung der Russland-Politik seiner Partei ein. Im Reuters-Interview am 3. Februar stellte er selbstkritisch fest, dass die heutige SPD über zu wenige Kontakte nach Russland, aber auch in die osteuropäischen Staaten verfügte. Klingbeil rüttelte zudem an einer Grundüberzeugung, die die deutsche Außenpolitik lange geprägt hatte: „Ich frage mich, ob das jahrzehntelang gepflegte Konzept noch passt, mit immer mehr Verflechtungen und ökonomischen Beziehungen den Wandel in einem Land herbeiführen zu wollen. Wenn man sich Russland anschaut, muss man einfach sagen, dass sich dort die innenpolitische Situation in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert hat“, sagte er. In China sei dies ähnlich. „Wir haben in der Politik bis heute keinen überzeugenden Umgang mit autoritären Staaten gefunden.“



Klingbeil formulierte für sich und seine Partei damit einen Arbeitsauftrag, die Russland-Politik neu aufzustellen – ohne das in der Entspannungspolitik enthaltene Element des Dialogs zu entwerten. Zwar betonte er, dass es „wahnsinnig viele“ mögliche Kooperationen von Städtepartnerschaften bis zum gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel gebe. Aber: „Eine positive Agenda mit Russland ist leider derzeit in weite Ferne gerückt.“ Putin habe es selbst in der Hand, ob man zu einer engeren Zusammenarbeit zurückfinde. „Wenn er deeskaliert, werden solche Kooperationen perspektivisch wieder stärker möglich sein“, aber man müsse „Fragen grundlegend“ beantworten: „Stimmen unsere alten Überzeugungen über ­Außenpolitik noch?“

In den folgenden Wochen gab es weitere Versuche der Bundesregierung, mit Putin zu sprechen. Am 15. Februar flog Scholz zu einem lang erwarteten Treffen nach Moskau – nachdem der Kanzler am Tag zuvor Kiew besucht 

hatte. Doch die Hoffnung, dass der russische Präsident einlenken würde, verflog schnell. Eine Zusicherung, dass Putin nicht angreifen würde, habe er nie erhalten, bekannte der Kanzler später.



Am Montag, den 21. Februar, gab Russland bekannt, dass es die beiden abtrünnigen Regionen Donezk und Lugansk anerkennt, womit das Minsker Abkommen und auch die Grundlage für die Normandie-Gespräche quasi 

beerdigt war. Am nächsten Tag reagierte der Bundeskanzler, indem er Nord Stream 2 auf Eis legte und ankündigte, dass die Bundesregierung an einer neuen Bewertung ihrer Energiesicherheit-Analyse arbeiten werde. "Und das 

wird seine Zeit brauchen", fügte Scholz hinzu und deutete an, dass er nicht darauf wetten würde, dass Nord Stream 2 jemals in Betrieb gehen würde.



Dann folgte die russische Invasion in der Ukraine – und der Kurswechsel in der SPD beschleunigte sich noch. Nach dem russischen Angriff sagte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, deutlich: "Der russische Präsident ist ein Kriegsverbrecher." "Präsident Putin und die russische Führung werden dafür einen hohen Preis zahlen", kündigte Scholz an und machte zugleich deutlich, dass er Putin persönlich in der Verantwortung sieht. "Das ist Putins Krieg." Die persönliche Konzentration der Kriegsschuld auf Putin bildete danach ein festes Element in der Position der Bundesregierung, die damit eine klare Unterscheidung zwischen „Russland“ und „Putin“ deutlich machen wollte.



Wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine forderten die sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Schröder auf, seine Aufsichtsratssitze bei den russischen Energiekonzernen aufzugeben. 

Auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig fand nun eine neue Tonlage: Die stellvertretende SPD-Vorsitzende kündigte einen Stopp aller Kontakte der Landesregierung zu Russland an - und 

forderte den Altkanzler auf, seine Ämter bei russischen Energiekonzernen abzugeben.



Das Wochenende des 26. und 27. Februar sah dann eine komplette Kehrtwende der sicherheitspolitischen Aufstellung der Ampel-Koalition, vor allem aber von SPD und Grünen. Am Samstag entschied die Regierung unter internationalem und innenpolitischem Druck, nun doch defensive Waffen an die Ukraine zu liefern. Am Sonntag kündigte Scholz dann in einer Regierungserklärung im Bundestag an, dass die Koalition ab 2022 nun doch mehr als die von der Nato angestrebten 2 Prozent des BIP für die Sicherheit ausgeben werde. Um dieses Ziel zu erreichen, solle ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen zur Finanzierung neuer militärischer Ausrüstung eingerichtet werden.



Scholz verabschiedete sich in der Rede von dem alten Konzept der Einbindung Russlands in eine europäische Sicherheitsarchitektur mit den Worten: "Ja, langfristige Sicherheit in Europa ist gegen Russland nicht 

möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar gesagt werden. Wir nehmen die Herausforderung der Zeit an – nüchtern und entschlossen.“ Eine erneute Referenz zur Ost- oder Entspannungspolitik vermied Scholz bewusst. Und den Grund nannte er auch: „Wer Putins historisierende Abhandlungen liest, wer seine 

öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat, oder wer wie ich kürzlich persönlich mit ihm stundenlang gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten.“



Andere führende Sozialdemokraten äußerten sich ähnlich – was auch zu einer immer stärkeren Distanzierung von Altkanzler Schröder führte. Am 3. März stellte sich der SPD-Bundesvorstand hinter einen Brief der Parteivorsitzenden Klingbeil und Saskia Esken, in dem diese Schröder auffordern, „zeitnah“ seine Aufsichtsratsämter niederzulegen. Der 

Altkanzler wurde zugleich aus der historischen Galerie großer Sozialdemokraten gestrichen, in der SPD der Region Hannover wurde ein Parteidisziplinarverfahren gegen Schröder eingeleitet – und die Mitarbeiter seines Bundestagsbüros liefen ihm auch noch davon. Die im Landtagswahlkampf befindliche SPD-Vize und saarländische 

Vize-Ministerpräsidentin Anke Rehlinger drohte ihm mit einem Parteiausschluss. Zu alledem schwieg der ehemalige Kanzler. 

 

Dr. Andreas Rinke ist Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2022, S. 58-63

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