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01. Nov. 2003

Das Gutmensch-Paradox

Sind die humanitären Organisationen ein Problem?

Oft wird den humanitären Organisationen vorgeworfen, Spendengelder zu verschwenden oder unprofessionell zu arbeiten. Doch ganz im Gegenteil müsse die Politik sich den Vorwurf gefallen lassen, den Stellenwert humanitärer Hilfe zu verkennen, ja sie zum Teil für nationale außen- und sicherheitspolitische Ziele einzusetzen. Vor allem aber gelte es, die weitere Aushöhlung des humanitären Völkerrechts wie im Fall der Gefangenen von Guantánamo aufzuhalten.

Die Frage, ob humanitäre Hilfsorganisationen ein Problem sind, mag bei der breiten Öffentlichkeit – und nicht nur bei ihr – ein bestätigendes Kopfnicken auslösen. Erinnerungen an den einen oder anderen Skandal werden wach oder auch an die regelrechte Invasion von mehr als 300 Hilfsorganisationen nach Beendigung der Kampfhandlungen in Kosovo, an die Katastrophenmeldungen aus Irak oder an die Vorwürfe eines neuen humanitären Imperialismus des Westens. Doch bei näherem Hinsehen wird das Bild differenzierter; insbesondere muss sich die Politik den Vorwurf gefallen lassen, der humanitären Hilfe nicht die Bedeutung einzuräumen, die sie hat. Diese besteht nicht nur in der Hilfe für die Opfer, sondern ebenso in der Durchsetzung der Normen und Prinzipien zur Humanisierung bewaffneter Konflikte. Speziell für Deutschland kommt das Problem hinzu, dass die internationale Diskussion an diesem Land bislang weitgehend vorbeigegangen ist.

Zunächst soll ein kurzer Rückblick auf die humanitäre Bewegung der vergangenen Jahrzehnte die Entwicklung dieses Spannungsverhältnisses zwischen Politik, Recht und Moral verdeutlichen. Die moderne humanitäre Hilfe kann als Kind der Aufklärung bezeichnet werden, denn sie lieferte die Begründung für die erste Genfer Konvention von 1864. Darin garantierten die Signatarstaaten den Anspruch der gefangenen und verwundeten Soldaten auf humanitäre Hilfe, das heißt auf Schutz und Versorgung. Es war das schockierende Erlebnis Henri Dunants auf dem Schlachtfeld von Solferino, auf dem Tausende von Soldaten ohne jegliche Hilfe verbluteten, das ihn zu dieser Initiative bewog, die sich zunächst ausschließlich auf die Kombattanten bezog.1 Spätestens seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts spricht man vom humanitären Völkerrecht, dessen Kernbestand die vier Genfer Konventionen von 1949 und die beiden Zusatzprotokolle von 1977 über internationale und nichtinternationale Konflikte sind. Seitdem gelten die darin festgelegten Normen und Regeln nicht nur für die kämpfenden Parteien, sondern auch für Zivilisten.

Mit dem humanitären Völkerrecht haben sich die Staaten verpflichtet, zur Humanisierung des Krieges beizutragen. Wenn also die Politik versagt und Gewalt als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt wird, greift zumindest theoretisch dieses „ius in bello“ (das Recht im Kriege). Entsprechend ist dann humanitäre Hilfe zu leisten, die laut Genfer Konventionen unparteilich und auf der Basis der Humanität zu leisten ist, sei es von Staaten oder von nichtstaatlichen Akteuren. So gesehen ist humanitäre Hilfe nur Ausdruck des – wenn auch begrenzten – ordnungspolitischen – Gestaltungswillens der Staaten, Rechte und Pflichten für diese Art von Ausnahmesituation festzuschreiben, Pflichten etwa bei der Kriegsführung (Verbot bestimmter Waffen) sowie Rechte der Opfer auf Schutz und Versorgung.

Nach wie vor stellt die Diskussion eher auf die moralische Verpflichtung der Staaten ab, den Opfern zu helfen und damit der Moral Genüge zu tun. Eine Debatte über die Verpflichtung der Regierungen, sich für die Durchsetzung und Einhaltung der Normen und Regeln des humanitären Völkerrechts einzusetzen, erfolgt dagegen bestenfalls am Rande, sofern die Politik nicht einfach darüber hinweg sieht. Das mag damit zusammenhängen, dass weder die Öffentlichkeit (also auch die Journalisten) noch die Hilfsorganisationen selbst mit diesem Regelwerk besonders gut vertraut sind. Das ist insofern kein Wunder, wie David P. Forsythe2 betont, weil es inzwischen so kompliziert geworden ist, dass sich nur noch die Völkerrechtler darin zurechtfinden. So erklärt sich, dass die politische Auseinandersetzung primär zwischen Politik und Moral erfolgt, das bestehende Völkerrecht dagegen vernachlässigt wird. Oder anders formuliert: Während unbestritten ist, dass geholfen werden muss, bleibt der Streit darüber, wie sich die Konfliktparteien zu verhalten haben und wie den Opfern geholfen werden müsste, offen.

Aus der Sicht des Rechtes geht es um die ordnungspolitische Funktion der Staaten, die im humanitären Völkerrecht festgeschriebenen Grundsätze und Normen durchzusetzen. Dies betrifft die humanitären Hilfsorganisationen unmittelbar: sie sollen ihnen den Zugang zu den Opfern zu deren Schutz und Versorgung ermöglichen.

Die Problematik heute

Die aktuelle Problematik der humanitären Hilfe ist keineswegs das Ergebnis einer zielgerichteten Politik der Staaten oder der Strategie der humanitären Hilfsorganisationen. Vielmehr resultiert sie aus der allmählichen Anpassung der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure an die sich verändernden weltpolitischen Rahmenbedingungen einerseits und der Veränderungen der gewaltsamen Konflikte andererseits. Humanitäre Einsätze erfolgen heute direkt bei innerstaatlichen gewaltsamen Konflikten sowie unmittelbar im Anschluss an die Beendigung von kriegerischen Auseinandersetzungen wie etwa in Afghanistan und Irak.

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich ein komplexes Politikfeld herausgebildet, was anhand weniger Zahlen deutlich wird: Belief sich die humanitäre Hilfe der im DAC zusammengeschlossenen Staaten der OECD 1970 noch auf 376 Millionen Dollar, waren Ende der achtziger Jahre die Leistungen bereits auf 1,766 Milliarden Dollar angewachsen; 2001 betrugen die Ausgaben 5,46 Milliarden Dollar.3 Im ähnlichen Ausmaß stieg die Anzahl der humanitären Hilfsorganisationen (wie viele es letztlich sind, darüber gibt es keine verlässlichen Aussagen). Die wichtige Rolle, die humanitäre Hilfsorganisationen beim Schutz und bei der Versorgung der Opfer spielen, wird heute gar nicht mehr in Frage gestellt. Gestritten wird im Wesentlichen über die Modalitäten dieser Tätigkeit, nämlich wie die Komplementaritätsbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, den staatlichen oder politischen und den gesellschaftlichen oder humanitären Akteuren gestaltet sein sollten.

Diese Streitpunkte sind nur vor dem Hintergrund des Wandels der internationalen Rahmenbedingungen und der Herausbildung dieses komplexen Politikfelds und seiner Akteure zu verstehen. Ausgangspunkt der Herausbildung dieser transnationalen gesellschaftlichen Organisationen im humanitären Bereich ist Joanna Macrae zufolge der Sezessionskrieg in Biafra (1967–1970).4 Weder die Staaten noch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) waren damals fähig oder willens, zugunsten der Opfer einzugreifen. Dieses vielfach als fundamentales Versagen der Staaten wie des IKRK empfundene Ereignis führte zur Gründung von „Ärzte ohne Grenzen“. Wie der Name andeutet, machte diese Organisation deutlich, dass sie sich über das im Kalten Krieg als unverletzbar angesehene Prinzip der Nichteinmischung hinwegsetzen würde, um ihren humanitären Auftrag zu erfüllen. Die zweite wichtige Etappe war die Hungersnot in Äthiopien (1984/1985), die mit dem Befreiungskrieg in Eritrea zusammenfiel. Während die äthiopische Regierung die Hungersnot zum Anlass nahm, mit Unterstützung humanitärer Hilfsorganisationen angeblich bedrohte Bevölkerungsgruppen an die südliche Grenze des Landes zu verpflanzen, wurde mit der Schaffung eines kleinen Konsortiums von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Eritrea, des Emergency Relief Desks, die Hilfe der westlichen Staaten in das umkämpfte Gebiet geleitet.5 Damit schufen sie selbst den Präzedenzfall der „illegalen Intervention“, der allerdings nicht nur humanitär motiviert war, zumal er der Opposition gegen das Regime in Äthiopien zugute kam.

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der bipolaren Konfrontation änderte sich die Situation grundlegend, politisch wie humanitär. Mit der Zunahme innerstaatlicher gewaltsamer Konflikte in den neunziger Jahren ging die politische Bereitschaft zur Einmischung der Staaten in diese Konflikte einher, begründet mit dem Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte, aber auch mit der Einsicht in die Notwendigkeit, das Los der Opfer in diesen Konflikten humanitär zumindest zu lindern. Drei miteinander verbundene Entwicklungen in der Politik haben ihrerseits erhebliche Auswirkungen auf die humanitäre Bewegung gehabt. An vorderster Stelle sind die „Agenda für den Frieden“ zu nennen, das Konzept der menschlichen Sicherheit als Voraussetzung für Konfliktminderung und Entwicklung sowie schließlich die Verknüpfung der humanitären Hilfe mit der Sicherheitsagenda der Staaten.6

Schien es zunächst so, als würde die Bereitschaft der Staaten wachsen, in innere Konflikte einzugreifen, zeigte sich jedoch sehr bald, dass die Fähigkeit dazu begrenzt ist. Das Fiasko in Somalia 1993 war für die Staaten ein erster bitterer Lernprozess, dessen Konsequenzen die humanitären Hilfsorganisationen ihrerseits ein Jahr später in Ruanda zu spüren bekamen. Ohne staatliche Unterstützung waren die Hilfsorganisationen gegenüber gewaltbereiten Akteuren, die sich in den Lagern neu formierten, machtlos. Der Genozid löste seinerseits einen Lernprozess unter den Hilfsorganisationen aus. Doch die Schlussfolgerungen, die in der Politik gezogen wurden, deckten sich nicht mit denen der humanitären Hilfsorganisationen.

Politisch wurde zunächst das Kohärenzprinzip7 zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht, demzufolge humanitäre Hilfe in ein Kontinuum von Hilfe, Rehabilitation und Entwicklung einzubinden sei mit der Konsequenz, humanitäre Hilfe zum Mittel einer umfassenden politischen Strategie umzudefinieren, obwohl sie vom Grundsatz her (gemäß den humanitären Grundsätzen) Selbstzweck ist. Der Krieg in Kosovo war insofern ein einschneidendes Ereignis, weil die politischen Bemühungen ganz bewusst darauf hinausliefen, die humanitäre Hilfe sicherheitspolitisch einzubinden. Dies ist noch deutlicher geworden im Anschluss an den Krieg 2001 gegen die Taliban und gegen Irak 2003: die Einbindung der humanitären Hilfe in die Sicherheitsagenda der Staaten.8 Der 11.September 2001 stellt insofern eine Zäsur dar, weil seitdem der Kampf gegen den Terrorismus sicherheitspolitische Priorität hat.

Anspruch und Wirklichkeit

Ohne Zweifel sind Anpassungs- und Lernprozesse auf staatlicher wie nichtstaatlicher Seite seit Jahren im Gange. Sie lassen sich als Beleg dafür heranziehen, dass die Staaten ihren Anspruch, den Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts, Opfern zu helfen, in die Tat umzusetzen bereit sind. Dies spiegelt sich in den entsprechenden institutionellen Veränderungen wider.9 Die Europäische Union hat sich mit ECHO, dem European Community Humanitarian Office, das entsprechende Instrument für ihre umfangreichen Hilfeleistungen geschaffen. Die Vereinten Nationen haben 1992 das Department of Humanitarian Affairs gegründet, mit dem Emergency Relief Coordinator an der Spitze, das 1997 in das Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) überging. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle allein die verschiedenen institutionellen Veränderungen aufzuführen. Sie belegen jedenfalls, positiv gewendet, die politische Bereitschaft, humanitäre Hilfe zu leisten, die ihrerseits als Folge politischen Versagens interpretiert werden muss – des Versagens, Konflikte ohne Gewalt zu lösen.

Problematisch ist allerdings, dass die Regierungen in der Regel, ungeachtet der Verlautbarung, unparteiische und unabhängige Hilfe zu ermöglichen, humanitäre Hilfe erstens selektiv finanzieren,10 zweitens, dass sie diese Hilfe dazu verwenden, militärische Interventionen – innenpolitisch – zu legitimieren und drittens, Hilfe (und damit die Hilfsorganisationen) in ihre sicherheitspolitische Strategie einzubinden. So kritisieren etwa deutsche Hilfsorganisationen den Einsatz der Bundeswehr ab November 2003 als so genanntes Provincial Reconstruction Team  im afghanischen Kundus nicht nur als überflüssig, sondern auch als Gefährdung der neutralen Rolle der humanitären Hilfsorganisationen. Die USA haben seit einiger Zeit solche Teams im Einsatz, an denen sogar manche Hilfsorganisationen teilnehmen, obwohl diese dem Militär unterstellt sind.

Trotz verbaler Bekenntnisse, aber auch entsprechender Dokumente zur zivil-militärischen Zusammenarbeit11 halten sich die Regierungen im Ernstfall nicht an diese Verpflichtungen. Vorschub wird auch durch nicht konsequent durchdachte Konzepte wie „do no harm“ geleistet.12 Dieses Konzept, das sich im Übrigen in Deutschland großer Popularität erfreut, soll verhindern, dass humanitäre Hilfe Kriege verlängert, ein gängiger wie teilweise unreflektierter Vorwurf. Dabei wird letztlich übersehen, dass es die Aufgabe der Politik ist, dafür zu sorgen, dass die humanitären Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit uneingeschränkt ausüben können. Was für entwicklungspolitische Projekte ein gerechtfertigtes Prinzip sein mag, da sie klaren politischen Zielvorgaben unterworfen sind, ist alles andere als eindeutig im Fall humanitärer Hilfe.

Nur wenig reflektiert sind die pauschalen Vorwürfe gegen die Hilfsorganisationen selbst. Es ist in der Tat so, dass sich viele Gruppen im Einsatz befinden, die noch ganz andere Ziele verfolgen, etwa Missionierung. Doch den wichtigen Hilfsorganisationen, von denen weniger als zehn den überwiegenden Teil der Hilfe leisten, kann der Vorwurf, Gelder zu verschwenden oder unprofessionell zu handeln, nicht gemacht werden. Drei Punkte sollen für die Lern- und Anpassungsprozesse, die nach dem Fiasko in Ruanda einsetzten,13 angeführt werden:

1.normativ durch die Bemühungen, die grundlegenden Prinzipien humanitären Handelns in so genannten Codes of Conduct14 festzuschreiben, beruhend auf den vier Grundsätzen Humanität, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität;

2.organisatorisch-technisch mit der Erarbeitung operativer Prinzipien, die in dem SPHERE-Projekt15 festgelegt sind und das bestimmte minimale Standards für humanitäre Hilfe vorgibt, und

3.organisatorisch-substanziell durch das Humanitarian Accountability Project,16 das dazu dient, die Verpflichtungen der humanitären Hilfsorganisationen gegenüber den so genannten „beneficiaries“, aber auch den Geldgebern zu formulieren und zu konkretisieren. Dazu gehört auch die Evaluierung humanitärer Projekte.

Man kann diese Anpassungsleistungen der wichtigen humanitären Hilfsorganisationen als Lernprozess und Vorleistungen an die Politik interpretieren. Allerdings kann man nur partiell von der staatlichen Honorierung dieser Professionalisierung sprechen. Durch die zunehmende bilaterale Vergabe der Hilfe wird deutlich, dass die einzelnen Regierungen selbst die Kompetenz behalten wollen, darüber zu entscheiden, wem ihr humanitärer Beitrag zugute kommt. Inwieweit die im Juni 2003 verabschiedeten Regeln über „good humanitarian donorship“17 zur Veränderung der Situation beitragen, damit auch die Opfer vieler vergessener Konflikte versorgt werden können, bleibt abzuwarten. Kritisch ist insbesondere das Thema der zivil-militärischen Zusammenarbeit.

Hinzu kommt, dass das humanitäre Völkerrecht Gewohnheitsrecht ist. Entsprechend der Änderung der Staatenpraxis ändern sich auch die Normen bzw. deren Interpretation. Seit dem Krieg gegen Al Khaïda bemüht sich die amerikanische Regierung, eine solche Änderung mit dem Begriff der „illegal combattants“ voranzutreiben, ein Begriff, den es im humanitären Völkerrecht bisher nicht gibt. Damit soll die rechtlose Situation der im kubanischen Guantánamo inhaftierten angeblichen Terroristen legitimiert werden, die dort ohne jeglichen rechtlichen Schutz der amerikanischen Regierung ausgeliefert sind. Die Regeln für die Behandlung der Kriegsgefangenen laut vierter Genfer Konvention werden damit einseitig außer Kraft gesetzt. Wird dies mehr oder weniger stillschweigend von den anderen Staaten hingenommen, ist es durchaus denkbar, dass dies eines Tages zum Gewohnheitsrecht wird.18 Doch kürzlich hat das IKRK erstmals öffentlich die Politik der USA kritisiert, obwohl diese Organisation normalerweise keine öffentliche Kritik übt.

Die internationale Diskussion

So vorbildlich in Deutschland die institutionellen Rahmenbedingungen auch sein mögen, ändert es nichts daran, dass das Politikfeld der humanitären Hilfe politisch wie wissenschaftlich ein Schattendasein fristet. Es gerät nur kurzfristig ins grelle Licht der medialen Aufmerksamkeit, wenn eine so genannte humanitäre Katastrophe – die eigentlich eine politische ist – der Berichterstattung würdig erscheint. Daran ist auch die wissenschaftliche Enthaltsamkeit in Deutschland schuld. Im Gegensatz dazu dominieren Themen wie Konfliktprävention, zivile Konfliktbearbeitung, Entwicklungspolitik oder Menschenrechte, die politisch und wissenschaftlich entsprechend gefördert werden.

Die internationale Diskussion, die insbesondere von zwei Institutionen maßgeblich beeinflusst wird, dem Overseas Development Institute in London mit dem Humanitarian Policy Network sowie dem Humanitarianism and War Project, das an der Tufts University in Massachusetts angesiedelt ist, wird in Deutschland so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Nicht zu vergessen ist auch die umfangreiche französische Diskussion, die, bedingt u.a. durch die Sprache, international nur begrenzt Aufmerksamkeit findet. In Deutschland hat sich lediglich am Wissenschaftszentrum Berlin die Arbeitsgruppe Internationale Politik im Verlauf der vergangenen Jahre mit dieser Problematik kontinuierlich auseinander gesetzt.19

Dies ist umso bedauerlicher, weil auch die humanitäre Hilfe, wie argumentiert wurde, ordnungspolitisch von Bedeutung ist. Ein Rückschritt ist erkennbar, weil erstens die Bezeichnung von Regimegegnern als Terroristen, was nicht nur formal mit dem humanitären Völkerrecht nicht konform ist, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten legitimiert, in Tschetschenien etwa, sondern sie sogar noch begrüßt, auch wenn dabei schwere Verstöße gegen Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht begangen werden.

Zweitens hat dieser Kampf gegen den Terrorismus die westlichen Hilfsorganisationen in islamischen Ländern verwundbar gemacht, weil sie als verlängerter Arm des Westens bzw. der Vereinigten Staaten diskreditiert werden können und es zum Teil auch werden.

Drittens aber, und dies stellt die Herausforderung für die sozialwissenschaftliche Forschung dar, fehlt die systematische Analyse zur Rolle der humanitären Hilfe in Kriegs- wie in Nachkriegssituationen.

Was kann die humanitäre Hilfe unter derartigen Bedingungen tatsächlich leisten? Tun sich die Staaten einen Gefallen, wenn sie die humanitäre Hilfe als Instrument ihrer Außen- und Sicherheitspolitik einsetzen wollen? Diese Tendenz zeichnet sich jedenfalls seit 2001 ganz klar ab, auch wenn dies schon die EU im ehemaligen Jugoslawien mit dem Programm „oil for democracy“ getan hat, d.h. humanitäre Hilfe als Belohnung oder Bestrafung der Konfliktparteien einzusetzen. An Wunschvorstellungen zur Verknüpfung der humanitären Hilfe mit friedenschaffenden und die Entwicklung fördernden Maßnahmen fehlt es nicht; am Wissen darüber wohl.

Was kann humanitäre Hilfe wirklich leisten?

Humanitäre Hilfe mag zwar durchaus als Akt der Barmherzigkeit, somit als ethische Verpflichtung, begriffen werden. Diese Vorstellung ist nicht etwa rein christlich-abendländischen Ursprungs, sondern in allen Gesellschaften verankert, daher grundsätzlich universell. Universelle Gültigkeit beansprucht auch das humanitäre Völkerrecht, das allerdings ein Recht der Opfer impliziert und damit die moralisch-ethische Verpflichtung mit der rechtlichen Pflicht ergänzt. Diese rechtliche Dimension ist sicherlich vergleichsweise eng, weil sie nur für bewaffnete Konflikte gilt.

Doch wenn es gelänge, diese Humanisierung des Krieges zu bewirken, wäre in diesem begrenzten Rahmen vermutlich viel gewonnen. Die Forderung, humanitäre Hilfe solle mehr leisten als nur Hilfe für die Opfer in Not, mag zwar verständlich sein. Doch jede zusätzliche Vorgabe, sei sie sicherheits- oder entwicklungspolitischer Natur, würde ihre eigentliche Funktion bestenfalls vermindern, schlimmstenfalls aber pervertieren, ohne dabei letztlich den politisch erwünschten Zusatzeffekt zu haben.

Anmerkungen

1  Zur Entwicklung des humanitären Völkerrechts siehe Hans-Peter Gasser, Das humanitäre Völkerrecht, Bern 1995.

2  Vgl. David P. Forsythe, The International Committee of the Red Cross and International Humanitarian Law, in: Humanitäres Völkerrecht, 2/2003, S.64ff.

3  Die Angaben beruhen auf konstanten Preisen, Basis: 2000. Vgl. hierzu Judith Randel und Tony German, Global Humanitarian Assistance, Development Initiatives, Nottingham 2003.

4  Vgl. Joanna Macrae, u.a., Uncertain Power: The Changing Role of Official Donors in Humanitarian Action, in: HPG Report (Humanitarian Policy Group), Nr. 12 (Overseas Development Institute), Dezember 2002. S.12, <http://www.odi.org.uk/hpg/papers/hpgreport12.pdf&gt;.

5  Diese staatlich gelenkte Vertreibung führte zum öffentlichen Protest von Ärzte ohne Grenzen. Diese Organisation wurde in der Folge des Landes verwiesen. Darauf hinzuweisen ist, dass diese Aktion vermutlich mehr Opfer gekostet hat als die Hungersnot.

6  Vgl. Macrae, u. a., a.a.O. (Anm. 4), S. 12.

7  Vgl. hierzu Joanna Macrae, Aiding Recovery? The Crisis of Aid in Chronic Political Emergencies, Basingstoke 2001.

8  Eberwein, Realism or Idealism, or Both? Security Policy and Humanitarianism. Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), Papier 2001,307.

9  Vgl. Yasemin Block, Whoever Pays the Piper Calls the Tune: Gleichklang oder Polyphonie? Humanitäre Konzeptionen und die Bandbreite humanitärer Hilfe der Geberländer, WZB, Papier2002, 302.

10 Vgl. dazu Randel/German, a.a.O. (Anm. 3), Fußnote 3 auf S. 32.

11 Vgl. United Nations, DHA, Guidelines on the Use of Military and Civil Defence Assets in Disaster Relief. PROJECT DPR 213/3 MCDA, May 1994, sowie die neuere Version: Guidelines on the Use of Military and Civil Defence Assets to Support United Nations Humanitarian Activities in Complex Emergencies, March 2003 (non-edited version).

12 Vgl. Mary B. Anderson, Do no Harm: How Aid Can Support Peace – or War, Boulder/ Colorado, 1999.

13 Vgl. das Gutachten von John Eriksson u.a.,  Joint Evaluation of Emergency Assistance to Rwanda, Synthesis Report, Danida, 31.12.1997.

14 Vgl. Rebecca Macnair, Code of Conduct for the International Red Cross and Red Crescent Movement and NGOs in Disaster Relief, Relief and Rehabilitation Network, Network Paper 7, 1994. Inzwischen gibt es eine ganze Fülle solcher Regelwerke. Der Koordinierungsausschuss für Humanitäre Hilfe hat einen solchen Verhaltenskodex bereits 1994 verabschiedet. Vgl. auch Nicholas Leader, The Politics of Principle: the Principles of Humanitarian Action in Practice (Overseas Development Institute, London), in: HPG Report, Nr. 2, 2000.

15 Dieses Projekt hat sein Büro in Genf, vgl. Agnès Callamard, The HAP and humanitarian accountability, in: Humanitarian Exchange (ODI), Nr. 23, S. 35 ff., März 2003.

16 Vgl. The SPHERE Project: Humanitarian Charter and Minimum Standards in Disaster Response, Oxfam Publishing, First final edition, 2000.

17 Die „Principles and Good Practices of Humanitarian Donorship“ wurden auf einem Treffen von u.a. Vertretern von Regierungen, multilateralen Gebern, UN-Institutionen, dem IKRK, am 17. Juni 2003 in Stockholm verabschiedet <http://www.reliefweb.int/cap/ToTBinder/ Hum_Financing_Studies/imgd.pdf>.

18 Vgl. die Diskussion in: Humanitäres Völkerrecht, 4/2002, S.201ff.

19 Vgl. Eberwein und Peter Runge (Hrsg.), Humanitäre Hilfe statt Politik? Neue Herausforderungen für ein altes Politikfeld, Münster 2002, sowie die Papiere der Arbeitsgruppe Internationale Politik, <http://www.wz-berlin.de/publikation/discussion_papers/ liste_discussion_papers.de.htm>.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2003, S. 37 - 44

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