Olympiade der Barmherzigkeit
Das internationale Krisenmanagement auf dem Prüfstand
Die Flutkatastrophe in Südostasien löste international eine in diesem Ausmaß bislang ungekannte Solidarität mit den Opfern aus. Ein neuer Humanitarismus? Oder eine Chance für die spendenden Länder, ihre Interessen zu artikulieren? Über Sinn und Effektivität humanitärer Hilfe.
Die katastrophalen Verwüstungen, die der Tsunami am 26. Dezember 2004 in Südostasien anrichtete, lieferten die einprägsamsten Bilder seit dem 11. September 2001. Diese Naturkatastrophe hat eine internationale Kampagne der Solidarität in Gang gesetzt, die sogar die hoch mediatisierte Aktion des Popsängers Bob Geldorf anlässlich der Hungerkatastrophe in Äthiopien bzw. in der Sahel-Zone 1985 übertraf.
Die Spendenbereitschaft der Staaten wie der Menschen war geradezu atemberaubend. Sie war sogar so überwältigend, dass einige Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Caritas sich gezwungen sahen, die Geber darum zu bitten, Spenden nicht mehr den Tsunami-Opfern, sondern anderen Krisengebieten zukommen zu lassen. Weder die Flutkatastrophe in Bangladesch 1991 mit 300 000 Toten noch die geschätzten 3,5 Millionen Opfer im Kongo seit 2002 konnten die Weltöffentlichkeit in ähnlicher Weise mobilisieren.
Vordergründig haben alle humanitär engagierten Akteure, Politiker, Hilfsorganisationen und privaten Spender den Beweis geliefert, dass das internationale Hilfesystem bestens funktioniert. Doch ob dies tatsächlich der Fall ist, soll unter zwei Gesichtspunkten erörtert werden: 1. Hat das humanitäre Hilfesystem im konkreten Fall tatsächlich effektiv funktioniert? 2. Wird dieses Hilfesystem der humanitären Problematik der Gegenwart insgesamt gerecht? Bei der Beantwortung der ersten Frage geht es insbesondere um die Mobilisierung der Hilfe, ihre Koordinierung und ihre Wirksamkeit, das heißt ob tatsächlich die Opfer im Mittelpunkt stehen. Die zweite Frage betrifft die Krise des humanitären Hilfesystems insgesamt, die spätestens mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center erkennbar geworden ist.
Hat also, Frage eins, das humanitäre Hilfesystem funktioniert? Das muss ohne Zweifel bejaht werden, denn innerhalb kürzester Zeit (24 bis 48 Stunden) waren die wichtigsten Hilfsorganisationen vor Ort, um sich einen ersten Überblick über das Ausmaß der Schäden zu verschaffen und entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Hier zeigte sich, dass die verschiedenen Institutionen aus den Katastrophen der vergangenen zwei Jahrzehnte gelernt haben. Allerdings hat diese Mobilisierung auch die üblichen unerwünschten Nebeneffekte gehabt. Der unbändige Drang, helfen zu wollen, führt immer wieder zu Einzelinitiativen, die nicht unbedingt den Bedürfnissen der Opfer entsprechen. Ein Beispiel möge genügen: Die Ortsgruppe der DLRG Frankfurt beschloss, helfen zu wollen und flog kurzerhand nach Colombo – ohne Kenntnisse des Landes, und ohne dass damit irgend jemandem geholfen gewesen wäre. Denn grundsätzlich gilt: Humanitäre Hilfe erfordert gerade in komplexen Katastrophen professionelle Helfer. Zivilgesellschaftliche Amateure, wie gut sie es auch meinen, sind dort fehl am Platz. Noch problematischer sind Organisationen, die solche Desaster dazu benutzen, unter dem Deckmantel der Hilfe zu missionieren. Auch dies geschah vor Ort.
Die durch Katastrophen ausgelöste Mobilisierung der Hilfsbereitschaft erfasst selbstverständlich auch die Politik; sie meldet ihre eigenen Ansprüche an. Damit ist nicht der rein innenpolitische „Mehrwert“ gemeint, den sich die Politiker durch ihr humanitäres Engagement versprechen, sondern der internationale. Darunter fallen politisch motivierte Aktionen wie die von Präsident George W. Bush, eine humanitäre Koalition der Willigen auf die Beine zu stellen. Zum Glück nahm er von dieser Idee nach wenigen Tagen Abstand. Hier wird deutlich, dass die Politik der Versuchung erliegt, humanitäre Hilfe als außenpolitisches Instrument zu vereinnahmen.
Auch bei Naturkatastrophen, und nicht nur bei bewaffneten Konflikten, lassen die Regierungen der betroffenen Länder die humanitäre Hilfe keineswegs immer bedingungslos zu, obwohl sie dazu völkerrechtlich verpflichtet sind. So bemühte sich die indonesische Regierung durch Erschwerung oder Verbot des Zugangs von Hilfsorganisationen die humanitäre Hilfe ihrer Politik in dem seit Jahren umkämpften Rebellengebiet Aceh unterzuordnen. Indiens Regierung wollte anfangs gar keine internationalen Hilfsorganisationen ins Land lassen.
Stets problematisch ist die Koordinierung der Hilfe. Dabei ist nie recht klar, wer wen wann und wo eigentlich koordinieren soll. Für die UN ist OCHA, das Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, zuständig. Dessen Leiter Jan Egeland war relativ schnell vor Ort. Doch wie aus dem ersten Evaluierungsbericht der UN zur Lage in Indonesien hervorgeht, fanden sich nur etwa 50 der vor Ort geschätzten 200 Hilfsorganisationen in diesem Lagezentrum ein. Möglichkeiten, Koordinierung zu erzwingen, gibt es grundsätzlich nicht. Allerdings wird sie von den großen Hilfsorganisationen vor Ort praktiziert. Auf nationaler Ebene ist das deutsche Vorgehen recht wirksam – ein vergleichsweise einfacher Mechanismus, der über den Arbeitsstab humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt läuft. Dieser lieferte den im Koordinierungsausschuss humanitäre Hilfe vertretenen Mitgliedern die ihm zur Verfügung stehenden Informationen.
Entspricht die Hilfe dem Bedarf?
Kommen wir damit zu der vielleicht entscheidenden Frage: Entspricht die humanitäre Hilfe tatsächlich dem Bedarf? Die Tsunami-Katastrophe hat erneut einen politischen Strukturdeffekt des gesamten Systems verdeutlicht. Dank der dramatischen Bilder und vermutlich auch auf Grund der Tatsache, dass Angehörige des eigenen Landes betroffen waren, kam es zu einer Art Olympiade der Barmherzigkeit nach dem Motto: Wer spendet am meisten?
Laut Schätzungen des Overseas Development Institute (ODI) ist der makroökonomische Schaden der Tsunami-Katastrophe (mit Ausnahme der Malediven) vergleichsweise gering: unter einem Prozent in Sri Lanka, unbedeutend in Indien, Indonesien und Bangladesch, Malaysia und Myanmar.1 Die Malediven dagegen müssen mit einem ernsthaften Rückgang ihrer Wirtschaft rechen, da rund 40 Prozent ihres Bruttosozialprodukts über den Tourismus erwirtschaftet werden. Insgesamt dürften die Schäden aber um ein Vielfaches durch die Spenden wettgemacht werden.
Man kann es auch einfacher formulieren: Manche Katastrophen– wie die in Südostasien – sind überfinanziert, viele andere dagegen dramatisch unterfinanziert. Die Notwendigkeit, die Gelder ausgeben zu müssen, kann soziale Spannungen auslösen, wenn die Opfer plötzlich besser dastehen als die von der Katastrophe nicht unmittelbar Betroffenen.2 Der Zwang, die Spenden auszuzahlen, kann aber auch zu unsinnigen Leistungen führen.
Anhand der Finanzierung bei humanitären Katastrophen kann der allgemeine Aspekt der internationalen Unterstützung aufgegriffen werden: Humanitäre Hilfe appelliert an das Mitgefühl der Menschen. Jean Pictet hat für das Rote Kreuz grundlegende Prinzipien formuliert. Neben dem der Humanität, das auch im Verhaltenskodex der Rotkreuz-Bewegung verankert ist, gilt das Prinzip der Unparteilichkeit, das sowohl Proportionalität wie Nichtdiskriminierung einschließt. Während sich die Staaten nicht daran halten, können sich die humanitären Hilfsorganisationen nur bedingt danach richten. Sie müssen die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel für die Katastrophen ausgeben, für die sie gespendet wurden.
Das Spendenaufkommen für die Tsunami-Katastrophe wird laut ODI weltweit auf 44 Dollar pro Kopf geschätzt. Es könnte aber nach Berechnungen des ODI bis zu 1000 Dollar betragen, wenn alle Zusagen eingehalten werden.3 Im Vergleich hierzu: Mosambik bekam 2003 für die Opfer der Überschwemmung 0,4 Dollar pro Kopf. In Deutschland sammelte allein das Deutsche Rote Kreuz Spenden in Höhe von über 100 Millionen Euro ein, Caritas mehr als 40 Millionen. Zum Vergleich: Der reguläre Etat für Nothilfe beim Auswärtigen Amt liegt bei 40 Millionen Euro. Die Erfolgsbilanz ließe sich beliebig verlängern: So mobilisierte beispielsweise das Rote Kreuz insgesamt rund 14 000 freiwillige Helfer in der vom Tsunami betroffenen Region.
Instrumentalisierung der Hilfe
Dass private Spender ihr Geld nur für spezifische Zwecke spenden, ist verständlich. Dass sich die Staaten in ihrem „Spendenverhalten“ dagegen opportunistisch verhalten, widerspricht ihren humanitären Verpflichtungen, die ohne Schwierigkeiten aus den Genfer Konventionen herausgelesen werden können. Diese Tendenz ist systematischer Natur. Laut Bericht von Development Initiatives4 ziehen es die Staaten als wichtigste Geldgeber vor, ihre Hilfe bilateral zu vergeben. Somit gehen die Gelder an diejenigen, die jenseits des Bedarfs auch aus politischen Erwägungen hilfsbedürftig sind. Die EU verschenkt bislang die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Politik in diesem außenpolitisch sicherlich marginalen Bereich. Sie ist, addiert man die bereitgestellten Mittel der EU zu denen ihrer einzelnen Mitglieder, der weltweit mit Abstand größte Geldgeber: mit 47 Prozent der Gesamtausgaben liegt sie noch vor den USA mit 36 Prozent. Insofern bestätigt die Tsunami-Katastrophe erneut die These von der Politisierung oder Instrumentalisierung der humanitären Hilfe.5 Zugleich dokumentiert sie, dass die EU noch lange kein selbständiger außenpolitischer Akteur ist.
Langfristige Entwicklung
Ein weiteres Thema ist die längerfristige Überwindung von Katastrophen; damit ist die eigentliche Bewährungsprobe gemeint, die noch bevorsteht, die Bewältigung der Rekonstruktions- und Entwicklungsphase. Hierbei geht es erneut um die Finanzierungsfrage. Die offiziellen Zusagen nach der Tsunami-Katastrophe liegen bei über sechs Milliarden Dollar. Doch diese werden, wie die Erfahrung lehrt, von den Staaten in der Regel nicht eingehalten – wie etwa in der Folge des Erdbebens in Bam (Iran) im Jahre 2003. Entweder wird das Geld gar nicht bereitgestellt oder bestehende Programme werden lediglich umdefiniert.
Damit ist auch zu befürchten, dass die Bewältigung des bereits erwähnten Übergangs zur Rekonstruktions- phase finanziell keineswegs abgesichert ist. Dieser Prozess nimmt Jahre in Anspruch. Rekonstruktions- wie Entwicklungsprojekte können nicht von heute auf morgen konzipiert, geschweige denn sofort implementiert werden. Dafür liegen die so genannten „lessons learned“ vor. Diese Erfahrungen aufzuarbeiten und zu verbreiten, hat sich u.a. ALNAP, das Active Learning Network for Humanitarian Accountability and Performance in Humanitarian Action,6 zur Aufgabe gemacht, dem Nichtregierungsorganisationen und staatliche Vertreter angehören. Ob diese „gelernten Lektionen“ berücksichtigt werden, steht auf einem anderen Blatt. Das Know-how ist also vorhanden, doch ob sich die Praxis danach ausrichten wird, bleibt offen. Anhand der Bereitstellung eines Frühwarnsystems wird sich als erstes zeigen, inwieweit Theorie und Praxis miteinander verknüpft werden. Ein entsprechender Beschluss wurde bereits im Januar 2005 auf der Konferenz in Kobe getroffen. Das Problem liegt darin, ob das deutsche Hightech-System auch entsprechend implementiert wird. Ein solches System macht nur dann Sinn, wenn die Informationen nicht nur dort ankommen, wo sie ankommen müssen, nämlich auf der lokalen Ebene, sondern auch in entsprechendes Verhalten der Adressaten umgesetzt werden.
Die Vorbereitung auf Katastrophen ist Bestandteil des Programms 2010 der Föderation des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. Doch gerade dieser Bereich gehört nicht zu denjenigen, die systematisch gefördert werden. Laut Schätzungen der Weltbank hätten die Schäden der Katastrophen in den neunziger Jahren um 280 Milliarden Dollar reduziert werden können, wenn man nur 40 Milliarden Dollar für die Prävention und Überwindung von Katastrophen bereitgestellt hätte.
Koordinierung durch die UN
Von grundlegender Bedeutung ist auch die Frage der Koordinierung durch die Vereinten Nationen. Sie ist keineswegs unumstritten, zumal in bewaffneten Konflikten, da die UN kein neutraler Akteur, sondern von Staaten abhängig sind. Der britische Staatssekretär für internationale Entwicklung Hilary Benn hat diese Problematik gut zusammengefasst. Seiner Ansicht nach verfügt das OCHA weder über die Macht noch über die Mittel, um seine Koordinierungsrolle wirksam zu erfüllen. Hinzu komme, dass die Bedarfseinschätzung oft weder auf objektiven noch aussagekräftigen Indikatoren beruhe. Zugleich würden UN-Organisationen die so genannten „Spendenaufrufe“ häufig dazu nutzen, um ihre Entwicklungsprojekte zu finanzieren.7
Ein Teil dieser Kritik ist durchaus zutreffend. Zieht man allerdings die Erfahrungen aus Afghanistan heran, stellt sich in der Tat die Frage, ob die Reform des UN-Systems für die Stärkung seiner Koordinierungsrolle allein ausreicht. Jenseits ihrer internen Strukturprobleme sind die UN letztlich abhängig vom guten Willen der Politik. Und diese verbindet mit humanitärer Hilfe immer wieder andere Ziele, die nicht unbedingt mit dem humanitären Auftrag kompatibel sind. Insbesondere Afghanistan ist hierfür ein Paradebeispiel.8
Zwei strukturelle Probleme haben wir somit identifiziert: Zum einen die ungleiche Behandlung der Not, die in der Finanzierung von humanitären Notlagen zum Ausdruck kommt. Dieses System reagiert selektiv, im positiven wie im negativen Sinne. Daher haben wir es heute mit einem System zu tun, das angebotsorientiert funktioniert (Spender und staatliche Geldgeber) und nicht, wie es eigentlich sein müsste, durch die Nachfrage (Bedürfnisse der Opfer) bestimmt wird. Daran dürfte sich so bald nichts ändern. Das zweite Problem betrifft die Koordinierung und Umsetzung von Programmen, die die Brücke zwischen kurzfristiger Not und langfristiger Entwicklung schlagen.
Humanitäre Hilfe und Politik
Zwei weitere Probleme stehen direkt im Zusammenhang mit der eingangs aufgestellten These der Krise des humanitären Hilfesystems. Das erste ergibt sich aus der Verführungskraft, die humanitäre Hilfe auf die Politik ausübt. Das zweite resultiert aus den Zwängen, die – vereinfacht gesprochen – von den Normen des humanitären Völkerrechts ausgehen.
Humanitäre Hilfe war nie unpolitisch gemeint. Geht man zu den Ursprüngen zurück, diente sie „lediglich“ der Humanisierung der Kriegsführung. Sie wurde von den Signatarstaaten der ersten Genfer Konvention unter der Bedingung akzeptiert, dass sie neutral, also unpolitisch geleistet wird. Galt dies zunächst nur für die Kombattanten, so wurde mit den Genfer Konventionen diese Hilfe auf die Zivilbevölkerung ausgedehnt, was zugleich ihren Schutz mit einschließt.
Mehrere Entwicklungen trafen zusammen, die den Kern dieses normativen Systems in Frage stellen: erstens das dramatische finanzielle Wachstum des humanitären Sektors. Waren es Anfang der siebziger Jahre um die 300 Millionen Dollar, so liegt der Betrag heute bei rund fünf Milliarden Dollar (OECD-Länder). Ebenso dramatisch ist das Anwachsen der Zahl von Nichtregierungsorganisationen im humanitären Bereich, auch wenn darüber keine genauen Zahlen vorliegen (die Schätzungen liegen zwischen 5000 und 20 000).9 Im Kosovo ging man von rund 350 Nichtregierungsorganisationen aus, in Indonesien waren es allein in der Region Banda Aceh laut UN-Angaben um die 200.
Drittens spielt die Veränderung der internationalen politischen Agenda nach dem Ende des Kalten Krieges eine Rolle: zunächst stand Demokratisierung und Konfliktprävention ganz oben, seit dem 11. September 2001 die Bekämpfung des Terrorismus. So begrüßenswert die Theorie ist, so wenig konsistent ist die Praxis. Humanitäre Hilfe diente immer wieder dazu, politische Abstinenz zu verschleiern; Darfur ist nur eines von vielen Beispielen.
Eine Tendenz, die sich – aus welchen Gründen auch immer – abzeichnet, besteht darin, dass die Rollentrennung zwischen Militär und humanitären Helfern immer unschärfer wird. Das Militär versteht sich heute teilweise als humanitärer Helfer, zum Teil wünscht sich das die Politik. Doch damit wird die unpolitische Rolle der Hilfe unterlaufen. Das Problem stellt sich dabei weniger bei Naturkatastrophen als in Konfliktregionen wie Afghanistan. Während humanitäre Hilfe primär der Überwindung der Not gilt, sollen so genannte militärische humanitäre Einsätze in Konfliktgebieten die „hearts and minds“ gewinnen. Aber auch bei Naturkatastrophen ist das Engagement des Militärs über die logistische Unterstützung hinaus problematisch.
So sehr die Hilfsorganisationen auch auf ihre Unabhängigkeit pochen mögen, die Staaten haben gerade über sie einen gewissen Handlungsspielraum im humanitären Bereich zurückgewonnen. Die Tendenz ist klar erkennbar, humanitäre Hilfe in umfassendere politische Strategien wie nachhaltige Entwicklung, „good governance“ oder Konfliktlösung einzubinden. Doch damit wird die der humanitären Hilfe zugrunde liegende normative Ordnung untergraben.
Spätestens seit dem Krieg gegen den Irak ist deutlich geworden, dass insbesondere die Vereinigten Staaten diese internationale humanitäre Ordnung, wie sie in den Genfer Konventionen 1949 festgeschrieben und seither weiter entwickelt worden ist, in Frage stellen.
Die Berufung auf die Konventionen in diesem Krieg gegen den Terrorismus ist nützlich, weil sie wegen des Kriegszustands das Recht zu töten legitimiert. Auf der anderen Seite haben die Vereinigten Staaten aber auch klargestellt, dass sie sich an die Normen der Genfer Konventionen nicht halten, wenn sie ihren Handlungsspielraum einschränken. Noch stehen die USA mit dieser Haltung relativ isoliert da. Doch bis heute hat diese Politik nicht die Gegenreaktion ausgelöst, die man eigentlich von den anderen Staaten erwartet hätte.
Ist die humanitäre Ordnung überlebensfähig?
Die Tsunami-Katastrophe hat bewiesen, dass das internationale humanitäre Hilfesystem zumindest in „technischer“ Hinsicht recht gut funktioniert, was nicht zuletzt auf die Lern-erfolge seit der Katastrophe in Ruanda zurückzuführen ist. Aber die Staaten haben auch gelernt, wie man dieses System politisch instrumentalisieren kann.
Heute stellt sich die Frage, ob die humanitäre Ordnung insgesamt, die sich seit der ersten Genfer Konvention von 1864 herausgebildet hat, überlebensfähig ist. Mit der Moral, Opfern zu helfen – so scheint es – nehmen es die Staaten erheblich ernster als mit ihren Verpflichtungen, die ihnen das humanitäre Völkerrecht auferlegt. Das hat die Tsunami-Katastrophe gezeigt.
1 Edward Clay: The Tsunami: One month on…, http://www.odi.org.uk/tsunami/one_month_on.html, abgerufen am 23.2.2005.
2 Presseinformation von Caritas International vom 3.2.2005.
3 Simon Maxwell, Edward Clay: The Asian Tsunami: Economic impacts and implications for aid and aid architecture. Overseas Development Institute (ODI), Opinions, No.32.
4 Development Initiatives (Hrsg.): Global Humanitarian Assistance, 2003 (http://www.globalhumanitarianassistance.org, 12.12.2004).
5 Vgl. Wolf-Dieter Eberwein, Peter Runge (Hrsg.): Humanitäre Hilfe statt Politik? Neue Herausforderungen für ein altes Politikfeld, Münster 2002.
6 Rachel Houghton, Tsunami Emergency, Lessons from Previous Disasters, http://www.alnap.org/alnap_cgi_bin/discus/show.cgi?241/241%20 (15.2.2005).
7 Hilary Benn: Reform of the international humanitarian system. Rede vor dem Overseas Development Institute vom 15.12.2004. http://www.odi.org.uk/speeches/Benn15Dec/Humanitarian_Reform_speech_fin… (15.2.2005).
8 Siehe hierzu Nichlas Leader und Mohammed Haneef Atmar: Political Projects – Reform, Aid, and the State in Afghanistan. A. Donini, N. Niland, K. Wermester (Hrsg.): Nation-Buildiung Unraveled? Aid, Peace, and Justice in Afghanistan. Bloomfield CT, 2004, S. 166-185.
9 Philippe Ryfman: Les ONG, Paris 2004, S. 34.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 108 - 113.