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01. Aug. 2002

Das Europa der Regionen

Buchkritik

Die Gestaltung europäischer Zukunft ist ein Thema, das Politiker und Wissenschaftler in den letzten Jahren intensiv beschäftigt – und dies schlägt sich auch auf dem Buchmarkt nieder. Sowohl in den Staaten der Europäischen Union selbst wie auch bei den europäischen Nachbarn und in den Vereinigten Staaten ist in jüngster Zeit eine ganze Reihe von Studien erschienen, die die politischen und sozialen Implikationen der EU-Erweiterung erörtern. Vier Bände, die diese Fragen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten, sollen hier vorgestellt werden.

So setzt sich ein russisch-amerikanisches Autorengespann mit den Folgen für die russische Region Kaliningrad auseinander, slowakische, rumänische und polnische Wissenschaftler diskutieren die Rolle der Euroregion Karpaten, Autoren aus Deutschland, den USA, Skandinavien, Russland und den baltischen Staaten analysieren die Zukunft der baltischen Region, und eine Gruppe angelsächsischer und deutscher Forscher betrachtet den europäischen Föderalismus in der Spannung zwischen Integration und Renationalisierung. Gemeinsam ist allen Bänden, dass sie mit dem Blick nach vorn Aspekte der EU-Erweiterung thematisieren.

Die Behandlung Kaliningrads (Königsbergs), das im Falle der Aufnahme Litauens in die EU zu einer russischen Enklave innerhalb des EU-Territoriums werden wird, hat im Jahr 2002 in den Gesprächen zwischen Russland und der EU eine erhebliche Rolle gespielt. Die Standpunkte der beiden Seiten unterscheiden sich deutlich: Während die russische Regierung auf einen visafreien Zugang in die Region besteht, sind die EU-Vertreter zwar bereit, über Erleichterungen zu sprechen, wollen aber aus Sicherheitsgründen von einer Visaregelung nicht abgehen.

Lyndelle D. Fairlie von der San Diego State University of California und Alexander Sergounin von der Universität Nishnij Nowgorod haben sich dieses Themas angenommen. Fairlie zeichnet in ihrem Teil der Studie die Probleme nach und warnt davor, das Konfliktpotenzial zu unterschätzen und die Ausarbeitung von Lösungen zu verschleppen. Sergounin zeigt seinerseits den Wandel im russischen Sicherheitsdenken auf, das Kaliningrad heute nicht mehr allein als russisches Problem versteht; er weist zutreffend darauf hin, dass subregionale Kooperation ein wichtiger Sicherheitsfaktor im künftigen Europa sein wird. Auch wenn die beiden Autoren keine wirklichen Lösungsvorschläge formulieren, so geben sie aus zwei unterschiedlichen Perspektiven eine klare Vorstellung vom Ausmaß der Schwierigkeiten, die in nächster Zeit bewältigt werden müssen.

Das Problem Kaliningrad wird auch in einem Sammelband thematisiert, den Helmut Hubel herausgegeben hat. Allerdings wird es hier in einem erheblich breiteren Kontext thematisiert, da der Band die Ergebnisse eines Forschungsprojekts präsentiert, das sich mit der EU, den baltischen Staaten und Russland auseinander setzt. In fünf großen Blöcken untersuchen die beteiligten Autoren die Rolle der EU im Ostsee-Raum. Zunächst entwerfen sie einen Analyserahmen, stellen dann die Entwicklung der EU-Ostpolitik in den neunziger Jahren vor und untersuchen schließlich die Haltung einzelner Mitgliedsländer zu den EU-Erweiterungsstrategien in der Ostsee-Region. Der vierte Block nimmt die Situation in den Anrainerstaaten außerhalb der EU – Litauen, Lettland, Estland, Polen und Russland – in den Blick, der fünfte Abschnitt thematisiert die Zukunft der Subregion Ostsee-Raum und konzentriert sich insbesondere auf die Beziehungen zwischen Russland und den baltischen Staaten.

Auch der Sammelband, den das Forschungszentrum der Slowakischen Gesellschaft für Auswärtige Politik und die ukrainische Stiftung für strategische Studien ediert haben, setzt sich mit der Situation in einer Subregion auseinander – mit der karpatischen Euroregion, in der sich die Staatsgebiete von Polen, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und der Ukraine berühren. Die Probleme dieses Raumes mit seiner komplexen Nationalitätenstruktur werden in der EU-Öffentlichkeit kaum wahrgenommen; dennoch werden sie in Zukunft Gegenstand der EU-Struktur- und Außenpolitik sein müssen, denn die „Schengen“-Grenze wird nach der Osterweiterung nicht nur Kaliningrad vom restlichen russischen Staatsgebiet abschneiden, sie wird auch die Karpaten-Region zerteilen. Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse eines Workshops, auf dem Wissenschaftler und Politiker aller betroffenen Länder Minderheitenfragen, Möglichkeiten grenzüberschreitender Wirtschaftskooperation und eine Verbesserung der Sicherheit in diesem Raum diskutierten. Der Band verdient insbesondere deshalb Aufmerksamkeit, weil er den Blick auf eine Region richtet, die sonst kaum öffentliche Beachtung findet.

Aus einer anderen Perspektive beleuchtet ein Sammelband, den Andreas Heinemann-Grüder herausgegeben hat, die Folgen der EU-Erweiterung. Dessen Autoren interessiert vor allem die Perspektive des europäischen Föderalismus. Eine Erweiterung, die der Europäischen Union neue Mitglieder zuführt, stellt nicht nur an die Beitrittsländer große Anforderungen, auch die innere Struktur der Union selbst muss an die neue Realität angepasst werden. Dabei geht es nicht allein um Effizienz der Entscheidungsfindung, es geht auch um eine höhere Qualität von Politik, um die Synthese unterschiedlicher nationaler Identitäten im Rahmen eines föderalen Selbstverständnisses und um die Stärkung demokratischer Potenziale auf transnationaler Ebene. Der Band geht diese Fragen in großer Breite an, indem er nicht nur die Entwicklung des politischen Systems der Europäischen Union selbst analysiert, sondern die Erfahrungen föderaler Systeme im 20. Jahrhundert in die Betrachtung einbezieht.

 Daher gliedern sich die Beiträge in drei große Abschnitte. Der erste behandelt die strukturellen und demokratie-politischen Implikationen des europäischen Föderalismus, der zweite untersucht gescheiterte föderale Systeme des 20. Jahrhunderts, um daraus Lehren für eine künftige Europäische Föderation zu ziehen, und der dritte thematisiert die Spannungen, die sich aus dem Gegensatz zwischen der Renationalisierung der letzten Jahre und der notwendigen Einbindung der Staaten in eine transnationale Organisation ergeben.

Indem der Band so ein Panorama der verschiedenartigen föderalen Entwicklungen in Europa entwirft – die Fälle Vereinigte Staaten und Kanada bleiben außer Betracht – und die Chancen und die Probleme erörtert, die ihnen innewohnen, skizziert er den historischen Kontext, der bei der Fortentwicklung des politischen Systems der Europäischen Union mitbedacht werden muss, und der in ihren einzelnen Mitgliedstaaten durchaus unterschiedlich wahrgenommen wird.

Der Band, der vordergründig lediglich beansprucht, die Entwicklung von Institutionen zu erörtern, wird so zu einem Plädoyer dafür, den notwendigen Ausbau Europas „politisch“ zu verstehen und die Lehren, die aus der europäischen Geschichte zu ziehen sind, ernst zu nehmen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2002, S.

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