Das Ende der Illusionen
Auf dem Weg zum Europa-Wir-Gefühl
Vielleicht hat die Krise doch auch etwas Gutes: Die Defizite der Union wurden offenbar und könnten jetzt korrigiert werden. Dazu müssen sich die Europäer aber von Illusionen verabschieden und energisch Reformen voranbringen. Damit künftig nicht mehr mit dem Finger auf „die da“ gezeigt wird, sondern ein europäisches „Wir-Gefühl“ entstehen kann.
Krisen, Kräche, Kakophonie: Europa bietet in diesen Wochen ein altbekanntes Bild. Denn seit die Haushaltskrise der Griechen die Länder der Euro-Zone in die nächste Runde der Finanzmarktturbulenzen gezogen hat, plagen die Europäer gleich mehrere Probleme: Erstens wanken die Pfeiler der Währungsunion, denn offensichtlich reicht der Stabilitätspakt in seiner bisherigen Form nicht aus, um die gemeinsame Währung dauerhaft zu sichern; die nächste Reform ist also unausweichlich. Da zeigt sich zweitens, dass die EU-Staaten in ihrer wirtschaftspolitischen Grundanschauung ideologisch weit mehr differieren, als es für eine Wirtschaftsunion gut ist und sich darüber auch noch heftig zerstreiten. Und da erklingen drittens zu allem Übel auch noch in manchen Ländern Töne über andere Nationen, die bis dato überwunden schienen.
Kurz: Zwischen den Europäern scheint das Trennende zu wachsen. Das Fingerzeigen auf „die da“ wird häufiger, das europäische „Wir“ seltener. Die Europäische Union oder zumindest die Währungsunion erscheint in der öffentlichen Debatte immer häufiger als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung. Und selbst in Deutschland, bisher wohl der sicherste Motor der europäischen Integration, wandeln sich Stimmung und Politik.
Plötzlich fürchten die Deutschen, dass andere Regierungen den Euro durch Schuldenmacherei weichspülen, und die Boulevardpresse zündelt sogar ganz offen mit der Abscheu vor südeuropäischem Schlendrian. Die französische Europa-Abgeordnete Sylvie Goulard warnte wegen solcher Töne vor deutschem „Rassismus“ gegenüber dem Süden. Die Griechen erinnern sich an die Gräuel der Nazizeit und die Kriegsanleihen, die die deutschen Besatzer damals zwangsweise erhoben und nie zurückzahlten. Und Angela Merkel, einst als Madame Europa auf dem ganzen Kontinent gelobt, wird nun in manchem Nachbarland wenig schmeichelhaft mit Margaret Thatcher verglichen: Ihr harter europapolitischer Kurs, ihr langes Zögern, bis auch sie den Griechen politische und ökonomische Solidarität zu gewähren bereit war, ihr Gedankenspiel über den Rauswurf unsolider Länder aus der Eurozone, hat viele verstört: „Europa wird wieder von der deutschen Frage heimgesucht“, schrieb Philip Stephens in der Financial Times und warnte vor einer allzu nach innen gewandten Bundesrepublik, und die französische Libération schimpfte gar über den deutschen „Klotz“ am europäischen Bein.
Die Kritiker eint eine Beobachtung. Bisher galt als Konstante und Mantra der deutschen Europa-Politik: Ganz egal welche Koalitionen im Kanzleramt regierten, jeder Kanzler vermied tunlichst den Eindruck eines deutschen Alleingangs auf Kosten der Partner. Mehr Integration galt als grundsätzlich sinnvoll für Deutschland und als langfristig dienlich für die deutschen Interessen. In dieser Krise ist das plötzlich anders. Ganz offen hat die Bundeskanzlerin in der Griechenland-Frage ihre Meinungsverschiedenheit mit der Mehrheit der anderen Regierungschefs ausgetragen.
Am pointiertesten aber hat das Neue in der Berliner Politik wohl der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer beschrieben: Unter dem Titel „Frau Germania?“ klagte er über einen neuen deutschen Egoismus, über eine vor allem nach innen gewandte Politik der Berliner Koalition, die sich für den kurzfristigen Wahlsieg positioniere und dafür den Alleingang Deutschlands und zugleich tiefe Verstimmungen im Ausland in Kauf nehme. Dies habe Europa „über den Tag hinaus verändert“.
Andere Europa-Politiker mahnen indes zur Ruhe. Schon oft genug, so erinnern sie gern, wurde Europa gerade in, durch oder nach Krisen weiterentwickelt und stand danach oft besser und geeinter da als je zuvor. Immer wieder haben die Regierungen in Berlin, Paris, Luxemburg oder Lissabon in der Vergangenheit politische Dispute auf höchst kreative Weise genutzt – selbst wenn ein Land mit starken nationalen Interessen die Einigung lange blockierte. Warum also soll das nicht auch Deutschland einmal tun? Oft genug endeten unangenehme Streitigkeiten schließlich mit einem passablen Kompromiss: So entstanden die Kohle- und Stahlunion, der Euro und auch die Osterweiterung. Deswegen wurden die EU-Verträge wieder und wieder reformiert und reichen doch nicht als Antwort auf die Gegenwart. Deswegen ist Europa immer weiterentwickelt und doch nie fertig gebaut worden.
Könnte nicht auch die Griechenland-Krise so enden? Immerhin suggerieren die Schlussfolgerungen des EU-Frühjahrsgipfels diese Möglichkeit. Nach Wochen des Hin und Her haben sich die Staats- und Regierungschefs Ende März in Brüssel ja doch noch darauf geeinigt, Griechenland im Falle der akuten Finanznot auszuhelfen. Möglich war das, weil die Bundesregierung am Ende, als ihr ein gesichtswahrender Kompromiss angeboten wurde, klein beigab.
Wochenlang hatte sich Deutschland vor diesem Schritt geziert, auch weil er hierzulande höchst unpopulär ist. Stärker als anderswo ist hierzulande, wie es ein belgischer Diplomat unlängst formulierte, der „Glaube an Regeln“ verankert; folglich müssen Betrüger und Regelverletzer bestraft werden. Gegenargumente wie „Europa muss der Welt jetzt zeigen, dass es seine Probleme allein lösen kann und deswegen den Griechen aus der Finanzmisere helfen“, wirken dagegen kaum. Und auch der Glaube daran, dass Europa und die europäischen Nachbarländer aus Fehlern lernen können, scheint sehr begrenzt. Lieber schickt man das betroffene Land zum Internationalen Währungsfonds (IWF), nicht zuletzt auch deshalb, weil er den Ruf hat, „Regeln“ besser durchzusetzen.
Die Haltung ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, schließlich hat der IWF tatsächlich mehr Erfahrung mit bankrotten Ländern als die EU. Doch sie ist problematisch. Denn erstens offenbart sie ein tiefes Misstrauen der Deutschen gegenüber politischen und besonders europäischen Institutionen (zugunsten scheinbar unpolitischen wie der Bundesbank oder dem IWF). Zweitens wird sie im Ausland eindeutig als Zeichen mangelnder Solidarität verstanden – von einem Land, das nach Meinung vieler vom europäischen Binnenmarkt mehr als viele andere profitiert hat. Und drittens führt sie zu der zögerlichen Haltung der Bundesregierung bei der Hilfe für europäische Nachbarn und beim Ausbau der europäischen Institutionen.
Die Hängepartie und damit die Furcht vor einem möglichen Staatsbankrott, die in den Wochen vor dem EU-Gipfel entstand, erwiesen sich als höchst gefährlich für die gesamte Euro-Zone. Wohl auch damit nicht weitere Euro-Länder in den Fokus der Finanzmarktspekulationen gerieten (mit unkalkulierbaren Folgen für alle), einigten sich die Staats- und Regierungschefs schließlich zum ersten Mal seit Gründung der gemeinsamen Währung der EU darauf, auch Euro-Zonenländern finanziell zu helfen.
Ob diese Entscheidung ökonomisch richtig und rechtlich haltbar ist, ist ausführlich diskutiert worden: Kritiker argumentieren, die „No-Bailout-Klausel“ des Maastricht-Vertrags verbiete so einen Schritt, sie werfen den Politikern also die Vorbereitung eines Vertragsbruchs vor. Andere halten die Gipfelentscheidung für unabwendbar, um Schaden vom Euro und damit den Mitgliedstaaten abzuwenden. Viel interessanter ist daher, wie die Entscheidung die Union künftig politisch verändern wird.
Neue Regeln
Sicher ist nun immerhin: Sollte Griechenland oder irgendein anderes Land in naher Zukunft finanzielle Hilfe brauchen, könnte es diese von den Mitgliedsländern der Euro-Zone bekommen. In einigen Ländern wird das allerdings Debatten in den Parlamenten über Sinn und Rechtmäßigkeit der Zahlungen auslösen. In Deutschland wird das Bundesverfassungsgericht angerufen werden, je nach Urteil könnte Europa dadurch schnell in die nächste Vertrauenskrise rutschen.
Auf jeden Fall aber kommt auf die EU dann in Windeseile eine Debatte über die Reform des Stabilitätspakts zu. Leicht wird die nicht werden. Denn dem deutschen Ruf nach strengeren Regeln und harten Konsequenzen für Betrügereien und zu hohe Haushaltslöcher wird sich ein Teil der südlichen Länder widersetzen – und zwar nicht nur, weil sie, wie hierzulande oft suggeriert wird, den Schlendrian pflegen. Ihnen ist auch die deutsche Stabilitätskultur bis heute suspekt, ihnen ist die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank viel zu sehr auf die Bedürfnisse der großen Räume ausgerichtet. Zudem ist der ganze Kurs der ideologisch von deutschem Denken dominierten Währungspolitik in Europa umstritten. Und auch die deutsche exportorientierte Wirtschaftspolitik, die die Binnennachfrage vernachlässigt, ist spätestens seit der öffentlichen Kritik der französischen Finanzministerin Christine Lagarde unter Beschuss. Das mag nicht ganz fair sein, es erschwert aber sicher einen europäischen Konsens darüber, wie neue Regeln für die Wirtschafts- und Finanzpolitik aussehen müssten.
Übersteht Europa die Finanzmarktturbulenzen ohne nennenswerte weitere Krisen und Rettungsaktionen, sinkt der Reform- und Debattendruck. Die Europäer könnten in diesem Fall wahrscheinlich noch eine ganze Weile so weiterwursteln wie bisher. Allerdings werden die Euro-Länder dann Probleme bekommen, ihre ökonomischen Disparitäten zu überwinden: Eine einheitliche, für alle passende Geldpolitik wird immer schwieriger, was die Wachstumsaussichten zumindest in Defizitländern weiter eintrüben könnte. Das abnehmende politische Kapital, das die EU bei den Bürgern noch besitzt, wird auch dadurch weiter schrumpfen.
Abschied von Illusionen
Der Ausweg läge, wie schon in der Vergangenheit, im konstruktiven Streit. Europas Regierungen, seine Staatschefs und Berater müssten die Debatte über wirtschaftspolitische Meinungsverschiedenheiten und die kulturellen Gräben eröffnen – auch ohne dass die Krise aktuell drückt. Damit das aber funktioniert, müssen sich (vor allem, aber nicht nur) die Deutschen zunächst von ein paar Illusionen verabschieden. Die erste Illusion: Eine Währungsunion ist ohne Wirtschaftsunion möglich.
Spätestens seit Griechenland an den Rand des Abgrunds geraten ist, seit auch in Spanien und Portugal immer größere Haushaltslöcher entstehen, seit der Euro im Kurs fällt und ein mögliches Ende der Währungsunion nicht mehr als völlig undenkbar gilt, ist offensichtlich: Die Mitglieder der Euro-Zone müssen sich künftig nicht nur besser kontrollieren, sondern auch anders regieren.
Die bessere Kontrolle, die Betrügereien wie die der Griechen künftig verhindert, lässt sich noch relativ leicht und ohne Vertragsänderung erreichen. Es genügt, wenn der Rat der Kommission mehr Möglichkeiten zur Überprüfung von Daten genehmigt. Komplizierter und umstrittener ist indes die Frage der Koordinierung. Keine Regierung will oder kann die Kontrolle über ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik an die Brüsseler EU-Kommission abgeben. Denn damit würde sie nicht nur substanzielle Teile der nationalstaatlichen Kompetenz abgeben (was zumindest in Deutschland sofort zu einem weiteren Urteil des Verfassungsgerichts führen könnte). Es fehlte für solch einen Schritt wohl auch das Verständnis vieler Bürger.
Dennoch ist inzwischen klar, dass sich Europa ökonomische Disparitäten wie sie beispielsweise zwischen Spanien und Deutschland herrschen, auf Dauer kaum leisten kann – zumindest nicht, wenn es weiter eine gemeinsame Währung haben will und dazu eine für alle Mitglieder einigermaßen adäquate Geldpolitik. Also werden sie ihre Steuer- und Finanzpolitik stärker abstimmen müssen als bisher. Leider ist das leichter gesagt als getan, denn es trennen sie Ideologie, nationale Interessen und Gewohnheiten. All das kann nur mit viel gutem Willen und einem neuen Umgang miteinander überwunden werden.
Möglich wäre es, beispielsweise im von Herman Van Rompuy geführten Rat der Regierungen, der sich inzwischen viel häufiger und in kleinem Kreise trifft. Leichter und mit einem stärkeren Focus auf die ökonomischen Fragen wäre es aber in der viel kleineren Euro-Gruppe. Doch deren Ausbau wird leider vom Kanzleramt blockiert; zu groß ist die Furcht, dass dort eine französische Agenda dominieren könnte. Die zweite Illusion: Nach dem Lissabon-Vertrag braucht Europa keine weiteren Vertragsveränderungen.
Finanzminister Wolfgang Schäuble brach im März ein Tabu: Er schlug vor, die EU-Verträge erneut zu reformieren. Nicht nur im Berliner Kanzleramt wird das mit wenig Begeisterung gesehen. Manchem Politiker, der noch die kräftezehrenden Verhandlungen über den Lissabon-Vertrag mitgeführt hat, fehlt für einen solchen Schritt wahrscheinlich die Energie. Groß ist zudem die Angst, dass weitere Vertragsveränderungen bei 27 Mitgliedern quasi unmöglich sind. Dennoch wird man Europa natürlich weiter umbauen müssen, es ist ja nicht gut wie es ist. Griechenland hat das bewiesen. Die Debatte über die Reform sollte also besser früher als später beginnen. Denn was Schäuble will – strengere Regeln für Defizitsünder, einen Europäischen Währungsfonds, der in der Krise den Euro-Mitgliedern helfen kann (allerdings gegen strenge Auflagen) – ist längst kein europäischer Konsens. Um den herzustellen, braucht es Zeit und viele Diskussionen. Die dritte Illusion: Die Union ist eine Selbstverständlichkeit.
Die vergangenen Wochen haben eines gezeigt: Die Europäische Union ist mitnichten für jede Krise gewappnet, und das vermeintliche „Wir“ der Europäer ist ein höchst fragiles Etwas. Wenn im Süden so leicht Ängste vor einem egoistischen, selbstbezogenen Deutschland geweckt werden können, wenn hierzulande der Frust über die EU rasant wächst, das proeuropäische Gefühl erodiert, wenn der Euro plötzlich als gefährdet gilt – dann entsteht ein latent gefährliches Gemisch.
Die Politik reagiert zumindest hierzulande bis dato höchst unbeholfen. Fast ängstlich ist sie darauf bedacht, die Bürger nicht mit zuviel Europa zu konfrontieren, wähnt sie reformfrustriert und integrationsmüde. Wohl auch deswegen tut sie so, als ob mit ein paar Reparaturen alles wieder ins Lot kommt. Neue Ideen, neue Projekte, neuer Elan, neue Begründungen für das europäische Wir: Nur Finanzminister Schäuble hat so etwas unlängst versucht – als er seine Idee eines Europäischen Währungsfonds präsentierte. Dabei ist doch evident: Finden die Politiker in Deutschland (und auch in manch anderem EU-Land) nicht eine andere Art, über Europa zu reden und es zu begründen, wird die Zustimmung bei den Bürgern weiter sinken. Das wiederum wird es noch schwieriger machen, aktiv eine Europa-Politik zu betreiben, die nicht kurzfristigen nationalen Interessen dient.
Die politischen Folgen der Griechenland-Krise? Vielleicht werden Europas Staats- und Regierungschefs den Griechen eines Tages heimlich dankbar sein. Hätte das kleine Land in Südeuropa seine Haushaltsdaten nicht so offensiv gefälscht, das mitten in der Finanzkrise zugegeben und wäre dann von den Märkten nicht mit Kreditentzug bestraft worden, dann wären die Fehler der Währungsunion erst viel später aufgefallen, möglicherweise bei einem Fall mit größerem finanziellen Ausmaß und viel bittereren politischen Folgen. So sind die Politiker zwar unsanft aus einem Blütentraum – Europa hat die stabilste, beste und sicherste Währung der Welt – aufgewacht. Und auch die stille Hoffnung, dass die EU nun erstmal fertig gebaut ist, ist zerstoben. Immerhin gibt ihnen das aber die Chance, ihre Politik vielleicht noch rechtzeitig zu verändern.
PETRA PINZLER arbeitet im Berliner Büro der ZEIT.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 58 - 63
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