Gegen den Strich

05. Mai 2014

Das deutsch-französische Tandem

Fünf Thesen auf dem Prüfstand

Das deutsch-französische Tandem ist aus dem Gleichgewicht: Deutschland brauche Frankreich nur noch, um seine Stärke zu verdecken, und umgekehrt Paris Berlin, um seine Schwäche zu kaschieren, wird seit langem in Brüssel geraunt. Wie steht es wirklich um Europas traditionellen Integrationsmotor? Fünf Thesen gegen den Strich gebürstet.

„Merkollande“ ist nicht „Merkozy“

Stimmt – und das ist gar nicht so bedauerlich. Denn in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen ist die große Harmonie von „Merkozy“, zwischen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, eine Anomalie gewesen. Dass sich Bundeskanzler(in) und französischer Präsident gut verstehen, dass aus ihrer Zusammenarbeit sogar Freundschaft wird, ist keine Seltenheit. Doch bei aller Freundschaft hat es stets kontroverse Diskussionen gegeben, die am Ende zu Kompromissen führten, die auch die anderen Partner tragen konnten.

Auch die Zusammenarbeit zwischen Merkel und Sarkozy folgte zunächst diesem Muster: Die Maßnahmen, auf die sich die beiden in Reaktion auf die Finanzkrise 2008 einigten, waren meistens Synthesen aus sehr unterschiedlichen, wenn nicht gar konträren Vorstellungen. Paris konnte Berlin von der Notwendigkeit überzeugen, einen Rettungsschirm zur Krisenbewältigung zu schaffen und dann auf Dauer anzulegen – und auch davon, der Europäischen Zentralbank zu erlauben, Schuldtitel geschwächter Mitgliedstaaten der Euro-Zone aufzukaufen. Zu den Bedingungen, die Deutschland seinerseits mit der Verabschiedung dieser Maßnahmen verknüpfte, gehörte die Schuldenbremse, um strikte Haushaltsdisziplin innerhalb der Euro-Zone durchzusetzen. Diese ist seither im „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ (dem SKS-Vertrag) verankert.

Doch angesichts der deutlichen Machtverschiebungen zugunsten Berlins, die sich im Laufe der Krise ergaben, entschied sich Sarkozy in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 dafür, im Umgang mit Deutschland zukünftig traditionelle Forderungen Frankreichs auszuklammern. So wurde aus der klassischen „Konsenswerkstatt“ ein Harmonie-Tandem, das Meinungsverschiedenheiten nicht länger artikulierte. Das führte dazu, dass beide Länder immer weniger in der Lage waren, jeweils die unterschiedlichen Interessen europäischer Partner zu vertreten und somit ihre anerkannte Führungsrolle zu spielen. Auch in Frankreich schrumpfte die Akzeptanz für die europapolitischen Entscheidungen, während die Stimmen, die ein „deutsches Europa“ kritisierten, immer lauter wurden – nicht zuletzt in den Reihen der französischen Sozialisten.

Die „freundschaftliche Spannung“, wie Staatspräsident François Hollande die deutsch-französische Zusammenarbeit im März 2013 umschrieb, ist der Versuch, eine Alternative zum eingeschlagenen Europakurs zu entwickeln und sich gegenüber Berlin Gehör zu verschaffen – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche und der haushaltspolitischen Probleme Frankreichs ist Hollandes politischer Handlungsspielraum gering. Gleichzeitig zeigt Deutschland wenig Kompromissbereitschaft. Zwar geht die Zusammenarbeit ihren gewohnten Gang – sowohl auf administrativer als auch auf politischer Ebene. Davon zeugen die jüngste Einigung zur Bankenunion im März 2014 sowie die enge Abstimmung in Reaktion auf die Krim-Krise. Aber ein gemeinsamer, ambitionierter Impuls in der Europa­politik ist von „Merkollande“ in nächster Zeit nicht zu erwarten.

Unterschiedliche Ansätze schaden dem Motor

Au contraire! Bei den meisten europapolitischen Themen vertreten Deutschland und Frankreich immer noch sehr unterschiedliche Ansichten, die in ihren jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Kulturen verankert sind und außerdem die großen Unterschiede in ihren Ausgangslagen widerspiegeln. Trotz der vielen Kompromisse in Reaktion auf die Finanz- und Schuldenkrise liegen zum Beispiel die Positionen in der Wirtschaftspolitik weit auseinander: Während Deutschland weiter auf Haushaltsdisziplin pocht, hat für Frankreich der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit oberste Priorität.

Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es starke Divergenzen. Zwar fordern Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ein stärkeres internationales Engagement Deutschlands. Dennoch beurteilen deutsche und französische Entscheidungsträger weltpolitische Gefahren immer noch nach sehr unterschiedlichen Maßstäben. Ganz zu schweigen von der Energiepolitik, wo Übereinstimmungen sehr rar sind.

Doch in Wahrheit sind unterschiedliche Interessen bezogen auf die europäische Integration eine gute und keine schlechte Sache für die bilaterale Zusammenarbeit. Gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit gelangen Paris und Berlin zu Synthesen, in denen sich auch ihre europäischen Partner wiederfinden, weil sie darin ihre Interessen berücksichtigt sehen. In der Regel ist das Streben nach Harmonie im deutsch-französischen Tandem also eher kontraproduktiv: Vive la différence, vive le compromis!

Nicht Interessenunterschiede sind das größte Hindernis für eine ergebnisreiche Kooperation, sondern der fehlende Wille, sie zu überwinden. In diesem Punkt ist die politische Konstellation seit der Bundestagswahl günstiger geworden. Die parteipolitische Nähe zwischen Berlin und Paris erhöht die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und bringt eine gewisse inhaltliche Annäherung mit sich. Insbesondere die von der SPD durchgesetzte Einführung eines Mindestlohns – die der alten Forderung Frankreichs nach einer Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland entspricht –, trägt zur Entspannung der Beziehungen bei. Das gilt auch für das sozialdemokratische „Coming Out“ von Hollande, der im Januar den so genannten „Pakt der Verantwortung“ mit milliardenschweren Einsparungen und Steuerentlastungen für Unternehmen ankündigte und nach dem Debakel der Kommunalwahl Ende März mit Manuel Valls einen Premierminister ernannte, der dem rechten Flügel der Sozialisten angehört und Voluntarismus verkörpert.

Auch der günstige Wahlkalender könnte die Zusammenarbeit beflügeln: Bis 2017 steht in beiden Ländern kein entscheidender Wahltermin an. In der Politik sind drei Jahre eine relativ bequeme Zeitspanne, die es sogar erlaubt, über den nationalen Tellerrand hinaus zu denken.

Frankreich bleibt Juniorpartner 

Fürs erste – aber nicht auf alle Zeiten! Schon im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl hatte François Hollande die Notwendigkeit, das deutsch-französische Verhältnis neu auszubalancieren, zum Thema gemacht. Auch bei seinem Antrittsbesuch in Berlin im Mai 2012 sprach er das „Wiederherstellen des Gleichgewichts“ an: Es gehe darum, den besonderen Charakter der Zusammenarbeit mit Deutschland nicht zu gefährden oder sie gar langfristig durch neue bilaterale Partnerschaften zu ersetzen.

Kurzfristig zielte Hollande natürlich darauf ab, Frankreichs Positionen bei der europäischen Krisenbewältigung mehr Gehör zu verschaffen. Aus dem gleichen Grund intensivierte Paris Gespräche mit Rom und Madrid; mit beiden Partnern, die wie Frankreich in einer tiefen Wirtschafts- und Sozialkrise stecken, gibt es traditionell Übereinstimmung in europapolitischen Fragen.

Obwohl diese Gespräche das europäische Krisenbewältigungspaket nicht in Frage stellten, haben sie dennoch bestimmte politische Linien verschoben. Deutschland sah sich in der Folge isoliert und musste wesentliche Zugeständnisse machen. So stimmte Angela Merkel auf dem EU-Gipfel am 29. Juni 2012 auf Druck von Italien und Spanien nach langen Verhandlungen doch noch dafür, Banken direkt aus dem Rettungsfonds ESM zu rekapitalisieren.

Mittel- und langfristig kann es aber nur zu einer neuen Ausbalancierung des deutsch-französischen Verhältnisses kommen, wenn es Frankreich gelingt, seine wirtschaftlichen, haushaltspolitischen und sozialen Probleme in den Griff zu bekommen. Denn sie sind es, die Frankreichs politischen Einfluss auf europäischer Ebene mindern – vor allem und gerade auch, weil Deutschland aus der Schulden- und Finanzkrise gestärkt hervorgeht. Daraus folgt, dass an tiefgreifenden Reformen kein Weg vorbeiführt, die politisch wie gesellschaftlich schwer umzusetzen sind und deren Wirkungen erst einige Jahre später spürbar werden dürften. Zur Herstellung eines neuen Gleichgewichts im deutsch-französischen Tandem wird also viel Geduld und Durchhaltevermögen gefragt sein.

Hollande scheint sich nun für diesen Weg entschieden zu haben. Dies kann man zumindest der Ankündigung des „Paktes der Verantwortung“ entnehmen, dessen Umsetzungsmodalitäten Premierminister Valls in seiner Regierungs­erklärung am 11. April dargelegt hat. Dass sich Frankreichs Präsident inzwischen von der Rhetorik der Konfrontation mit Deutschland distanziert hat, um zu einem klassischeren Muster der bilateralen Zusammenarbeit zurückzukommen, ist ein zusätzliches Indiz.

Allerdings bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die Ernennung des neuen italienischen Ministerpräsidenten, Matteo Renzi, auf die wirtschafts­politische Linie Frankreichs haben wird. Die ehrgeizigen Pläne des Sozialdemokraten sollten den Druck auf Frankreich weiter erhöhen, Strukturreformen anzupacken – will Paris nicht bald isoliert dastehen.

Gleichzeitig könnte Renzis Forderung nach dem Ende der „Austeritätspolitik“ die Regierung von Premierminister Valls ermutigen, von der Europäischen Kommission eine Lockerung der Haushaltsdisziplin zu verlangen, um die wirtschaftliche Konjunktur zu beleben. Eine solche Übereinstimmung der Interessen spricht jedenfalls dafür, dass Paris in naher Zukunft eine engere Zusammenarbeit mit Rom suchen wird – zumal Italien im Juli dieses Jahres die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird.

Steinmeier und Fabius: das neue Dreamteam

Das muss man abwarten. Grundsätzlich gilt: Die Schwierigkeiten der französischen Wirtschaft befördern umso mehr die deutsch-französische Asymmetrie, je stärker sich die europapolitische Diskussion auf Wirtschafts- und Haushaltsfragen fokussiert hat – also ausgerechnet auf das Politikfeld, das Deutschlands Stärke ausmacht. Zur Entspannung der Beziehungen kann hingegen eine Erweiterung der Zusammenarbeit auf andere Felder der Europapolitik beitragen. Insbesondere die Außen- und Sicherheitspolitik, bei der Frankreich traditionell eine Führungsrolle beansprucht, eignet sich gut für eine solche Öffnung.

Da fällt die Initiative der beiden Außenminister auf, zukünftig gemeinsame Auslandsreisen zu unternehmen: Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius kündigten dies im Januar 2014 an, einige Wochen vor dem deutsch-französischen Ministerrat. Gewiss, es geht dabei in erster Linie um Symbolpolitik, die keine direkten Konsequenzen für das operationelle Handeln der Regierungen haben wird. Zudem können gemeinsame Reisen nur zu einer deutsch-französischen Annäherung beitragen, wenn sie regelmäßig und auf längere Zeit stattfinden. Langfristig ist jedoch die Wirkung von Bildern in der nationalen wie auch in der internationalen Politik nicht zu unterschätzen, vor allem wenn es um den Abbau von Spannungen und um die Schaffung von Vertrauen geht.

Für den Erfolg der Initiative wird entscheidend sein, ob Steinmeier und Fabius bereit sind, über die traditionelle geografische „Arbeitsaufteilung“ (der Osten für Deutschland, der Süden für Frankreich) hinauszugehen und sich auf eine Teilung von Verantwortung und Einfluss in wichtigen Regionen einzu­lassen. Dass sich Berlin an den von Paris gewünschten Missionen in Mali und Zentralafrika beteiligt, und dass sich beide bemühen, in der Krim-Krise mit einer Stimme zu sprechen, sind erste Schritte in diese Richtung.

Außerdem sollte die Bereitschaft zum gemeinsamen Auftreten von strategischen Überlegungen begleitet werden. Eine enge Zusammenarbeit beider Planungsstäbe wäre deshalb sinnvoll. Auch bei Fragen, die nicht unmittelbar mit der deutsch-französischen Kooperation zusammenhängen, könnte die dauerhafte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen politischen Traditionen, außenpolitischen Kulturen und Positionen zu einer Annäherung beitragen und somit das Terrain für künftige deutsch-französische Initiativen bereiten.

Der Weg zu einer Öffnung führt über Weimar 

Nein. Seit der EU-Osterweiterung vor zehn Jahren hat sich die Zugkraft der deutsch-französischen Zusammenarbeit für europapolitische Entscheidungsprozesse stark relativiert. Manche schätzen, dass das deutsch-französische Tandem nur noch ein Viertel der Entscheidungen auf europäischer Ebene maßgeblich bestimmt. Wegen der Komplexität der Abstimmungsprozesse innerhalb einer EU mit nun 28 Mitgliedstaaten ist aber intergouvernementale Führung gefragt, in manchen Fällen mehr denn je – insbesondere in Krisen­situationen, die ein schnelles Handeln notwendig machen. Diese Rolle können Berlin und Paris aber nur noch wahrnehmen, wenn sie ihre bilaterale Zusammenarbeit öffnen. Andere Partner einzubeziehen, erlaubt es, ihnen bei Entscheidungen mehr Gewicht in die Waagschale zu legen. Und neue Partner können Positionen abdecken, die Deutschland und Frankreich allein nicht vertreten. In dieser Hinsicht birgt unter anderem Polen Potenzial.

Zugegeben: Das „Weimarer Dreieck“ hat, abgesehen von ein paar Initiativen wie der Absichtserklärung zu einer verstärkten Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vom Juli 2011, bis heute kein entscheidendes europäisches Projekt hervorgebracht. Die Gründe dafür liegen in der Ungleichheit der Partner: Wirtschaftlich gesehen ist die Diskrepanz zwischen Polen einerseits, Deutschland und Frankreich andererseits, hoch – zumal Polen der Euro-Zone (noch) nicht beigetreten ist. Hinzu kommt, dass die Partnerländer sehr unterschiedlich miteinander verflochten sind. Im Übrigen repräsentiert Polen nur bedingt die Interessen kleinerer Länder in Ost- und Mitteleuropa, auch wenn es auf eine gemeinsame Geschichte mit ihnen zurückblickt.

Trotzdem ist es nützlich, Warschau einzubeziehen, insbesondere in den Feldern der Sicherheitspolitik, der Energiepolitik und der östlichen EU-Nachbarschaft. Das jüngste Beispiel hierfür ist die Krim-Krise. Aufgrund seiner geografischen wie auch politischen Nähe zur Ukraine erweitert Polen den Denkhorizont des deutsch-französischen Tandems bei der Krisenreaktion und verstärkt die Glaubwürdigkeit eines gemeinsamen Auftretens gegenüber den anderen beteiligten Akteuren. Allerdings ist es für eine solche Kooperation gar nicht notwendig, dasselbe Maß an Institutionalisierung zu schaffen, wie es im deutsch-französischen Bereich existiert. Informelle Gesprächskanäle sind für die Abstimmung untereinander bestens geeignet, nicht zuletzt, weil sie einfacher und schneller zum Einsatz kommen können.

Außerdem ist nicht nur Polen ein geeigneter Partner für Dreieckskoopera­tionen. Mit Blick auf die Währungsunion wäre eine enge Zusammenarbeit mit Italien durchaus sinnvoll, genauso wie in Fragen der Migrations- und Mittelmeerpolitik oder der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. In strategischen Fragen der Außenpolitik hat wiederum die Einbeziehung Londons einen Mehrwert, zum Beispiel beim Atomstreit mit dem Iran. Solche Formate sind flexibel und komplementär, darin liegt ihr größter Vorteil: Je nach Thema und Interessenlage der Partner können sie jederzeit ausgeweitet werden. Paris und Berlin wären gut beraten, diese Formate in Zukunft so offen wie möglich zu halten, ohne sie zu sehr zu institutionalisieren. Wechselhafte Konstellationen um einen starken deutsch-französischen Kern ergänzen den Bilateralismus in sinnvoller Weise, ohne ihn zu ersetzen.

Dr. Claire Demesmay 
leitet das Programm Frankreich/deutsch-französische Beziehungen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 72-77

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