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01. März 2008

Clausewitz – von Frankreich aus gesehen

Mehr als eine Biografie: ein deutsch-französischer Dialog auf höchstem Niveau

Um die wirklichen geistigen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland steht es nicht gut, wenn man einmal absieht von der oft naiven Frankophilie der Intellektuellen hier und der gelegentlichen Deutschenschelte dort, die gern aus dem Kreis der nicht mehr ganz so neuen „Neuen Philosophen“ kommt. Umso mehr wird man aufmerksam, wenn, vielleicht in jedem Jahrzehnt einmal, ein Werk erscheint, das sich wirklich um Verständnis bemüht. Ich spreche von dem neuen Buch René Girards, des Literatur- und Religionswissenschaftlers. Es heißt „Achever Clausewitz“. Und es ist keine Abhandlung, sondern ein Band, der längere Gespräche zwischen Girard und Benoît Chantre protokolliert. „Achever“ heißt: vollenden, zum Abschluss bringen.

Aber was brachte einen Denker wie Girard zur Beschäftigung mit einem preußischen General? Er fand in ihm, um es kurz zu sagen, einen Spiegel seiner eigenen Intuitionen. Girards Theorie, die er selbst „mimetisch“ nennt, geht von einer notwendigen, unvermeidlichen Nähe der Gegner aus. Beide befinden sich in einem Prozess der Ähnlichwerdung, die den Versuch zur Überbietung des anderen einschließt. So erscheint ihm Clausewitz napoleonischer als Napoleon selbst. Und: Girard denkt den Krieg, die Gewalt, nicht mehr im Sinne der Aufklärung und des Rationalismus. Eine wirkliche Theorie des Krieges, so glaubt er, müsse in der Epoche der Abdämmerung der Institutionen, in der er uns sieht, Rechenschaft über die Vernichtungsdrohung geben können. Girard ist ein Apokalyptiker, er scheut diesen Namen nicht. Gleich im ersten Gespräch nimmt er es deshalb mit der ganz anders gerichteten Deutung auf, die sein Landsmann Raymond Aron Clausewitz in der Spätphase des Kalten Krieges gab („Clausewitz. Den Krieg denken“, deutsch 1980). Damals seien andere Rationalitätsstandards der politischen Akteure vorauszusetzen gewesen – und nun gelte es, eine ungleich radikalere Gewalt ins Auge zu fassen. Nicht mehr die Politikwissenschaft, sondern die Anthropologie bietet den Schlüssel. Bei Clausewitz findet er die Vermutung, der Krieg sei eine Manifestation der Gewalt, die im Zweifelsfall keine Grenzen mehr kenne.

Und Girard geht so weit, die Nähe seiner Konzeption zu der Idee Ernst Noltes von einem „kausalen Nexus“ zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus in Erwägung zu ziehen – beide Geschichtsdenker gehören übrigens zum gleichen Jahrgang 1923, als das deutsch-französische Verhältnis mit der Ruhrbesetzung tatsächlich auf einem historischen Tiefstand war. Allerdings ergänzt er Nolte um den gegenläufigen Gesichtspunkt: Auch dem Stalinismus könne man nicht völlig absprechen, eine Reaktion auf Hitler gewesen zu sein. Das Jahr 23 ist für den Gedankengang Girards nicht ganz unwesentlich. Denn bei der Analyse der Ruhrbesetzung findet er zu seinem Paradox des Krieges: „Die Defensive will den Krieg. Und die Offensive will den Frieden.“ Frankreich habe damals um jeden Preis den Frieden von Versailles erhalten wollen, es sei „bellizistisch aus Pazifismus“ geworden, und Hitlers Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands, gut zehn Jahre später, sei als Antwort zu verstehen. Der „Friedenswille“ Frankreichs habe Teil am Weg zu den Extremen.

Man sieht: Der heiße Kern, der Girard immer wieder anzieht, ist das Verhältnis von Deutschland und Frankreich, in dem er, mit einem nun doch überraschenden Pathos, das A und O der europäischen, ja der Weltangelegenheiten sehen will. Clausewitz tritt in Konstellationen mit Hegel und Hölderlin, mit Madame de Staël, und nebenbei erhalten wir eine subjektive, erlebte Geschichte der deutschen Besetzung Frankreichs von 1940 bis 1944, der Kollaboration und des Widerstands. „Klassik“ im ästhetischen Sinn deutet Girard als napoleonisches Manöver, die französische Hegemonie auch in Angelegenheiten der Kunst zu etablieren. Bewunderungswürdig, wirklich geistvoll in einem echt französischen Sinn ist es, wie leicht Girard die historischen Assoziationen zu knüpfen weiß – wenn er über die Regensburger Rede Benedikt XVI. spricht, versäumt er nicht, auf Hölderlins Aufenthalt in dieser Stadt hinzuweisen.

Der Papst erscheint in diesem Buch nicht zufällig. Girard ist ein religiöser Denker; soeben hat er mit dem Philosophen Robert Spaemann und anderen europäischen Köpfen einen Appell gegen die Abtreibung unterzeichnet. Allerdings hat seine Geschichtstheologie eine Besonderheit: Sie ist extrem „augustinisch“, will sagen: geprägt von einer scharfen Trennung zwischen dem irdischen und dem himmlischen Reich; Verquickungen zwischen den Sphären, wie sie die Lehren vom „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ behaupteten, verwirft er. Man wird sich bei dieser sozusagen glücklichen Koinzidenz zwischen seiner Geschichtsphilosophie und den realen Zielen Frankreichs, die ja über Jahrhunderte vor allem durch die Opposition zum „Reich“ bestimmt waren, nur ein wenig die Augen reiben. Denn andererseits hält Girard mit der Selbstkritik der eigenen Nation nicht zurück: Der französische Napoleon-Kult sei nachgerade leninistisch, und: Man müsse lernen, die Geschichte einmal mit den Augen der Deutschen zu sehen.

Vielleicht ist eine Warnung angebracht. Dies ist kein technisches Buch der Clausewitz-Philologie. Es ist viel mehr: der Zusammenstoß eines sehr eigenständigen Geistes, der sich Rechenschaft über seine Lektüre des Werkes „Vom Kriege“ ablegt. Auf solchem Niveau hat sich schon lange kein deutsch-französisches Gespräch mehr bewegt.

Dr. LORENZ JÄGER, geb. 1951, Diplom-Soziologe und Germanist, unterrichtet an japanischen und amerikanischen Universitäten und ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien von ihm „Das Hakenkreuz – Zeichen im Weltbürgerkrieg. Eine Kulturgeschichte“ (2006).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2008, S. 92 - 93

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