Buchkritik

25. Juni 2021

China: Zukunftsmacht oder Auslaufmodell?

Facetten einer beunruhigenden Wirklichkeit: Drei Bücher widmen sich auf unterschiedliche Weise dem Aufstieg Pekings.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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China boomt – auch auf dem deutschen Büchermarkt. Fast könnte man von einem eigenen Genre sprechen, inklusive wiederkehrender Einschätzungen und Argumentationsmuster, ja selbst nahezu identischer Buchtitel. So lässt der Journalist Frank Sieren seinem 2018 erschienenen Buch „Zukunft? China!“ in dieser Saison den Titel „Shenzhen. Zukunft made in China“ folgen.



Profund recherchiert und flott geschrieben („Shenzhen ist Kiez und Kapitalismus, Kader und Kids“), wird hier die atemberaubende Entwicklung der einstmals als Modellstadt gedachten „Sonderwirtschaftszone“ geradezu sinnlich erfassbar: E-Mobilität und IT-Technik, 5G-Vernetzung, künstliche Intelligenz, börsennotierte Hersteller von pflanzlichen Proteinen, die sogar das Essen nachhaltig machen – ein Traum für Wirtschaftsliberale ebenso wie für Umweltaktivisten, so scheint es. Reportagehafte Kapitel, denen man zahlreiche Leser wünscht, gerade unter denjenigen Wählern und Entscheidern, die eine autofreie Friedrichstraße und immer neue, steuersubventionierte „Kultur- und Begegnungsräume“ für das Nonplusultra des Urbanen halten. Vielleicht könnte bei der Lektüre dieses Alltagsbuchs aus der Zukunftsstadt zumindest partiell die Ahnung aufscheinen, welche Entwicklungen der Exportweltmeister Deutschland seit Jahren verschlafen hat – und anscheinend auch weiterhin zu verschlafen gedenkt.



Es wäre dem Buch zugute gekommen, hätte es Sieren bei solch detailsatter Beschreibung belassen, ohne zugleich eine (bei allen eingebauten „Obwohls“ doch ziemlich eindeutige) Apologie des Huawei-Konzerns zu verfassen und den skeptischen Westen wieder einmal mehr der marktprotektionistischen Hysterie zu zeihen. Hoch ambivalent auch seine Darstellung der nahezu alle Lebensbereiche durchdringenden, ebenso smarten wie rabiaten Überwachungs-„Kultur“ in Shenzhen. Diese wird zwar nicht geleugnet oder verharmlost, erfährt aber sogleich ihre kulturrelativistische Interpretation: „Interessant dabei ist, dass die Chinesen das Social Scoring anders aufnehmen als die Menschen im Westen. Die Chinesen denken dabei zuerst an Sicherheit und Transparenz, während wir sofort an Orwellsche Überwachung denken.“



Wer aber hat „die“ Chinesen je um ihre Meinung gefragt? In Hongkong (gar nicht zu reden von Taiwan) waren „die“ Chinesen jedenfalls zu ganz anderen Schlussfolgerungen gelangt. Sieren jedoch verpackt geradezu penetrant jede vorsichtige Erwähnung von Menschenrechtsverstößen in die Formel, hier liege womöglich ein Problem „für viele Menschen im Westen“ beziehungsweise „nach deutschem Rechtsverständnis“.



Vielleicht muss jemand, der mit seiner Familie seit Jahrzehnten in Peking lebt und dort trotz inzwischen flächendeckender Medienkontrolle auch zu bleiben gedenkt, auf solche Weise verbal jonglieren. Der Preis dafür ist freilich hoch. Er besteht erstens im Weiterverbreiten des Staatspartei-Narrativs von der angeblich kulturell determinierten und folglich relativen Bedeutung von Grundrechten und zweitens im Nachplappern jenes homogenisierenden, ebenso altkolonialistischen wie neototalitären Geredes von „den“ Chinesen.



Anschließend folgt, als sei auch hier ein Wiederholungszwang am Werk, das bereits von den Ostblock-Schönrednern zu Zeiten des Kalten Krieges gern benutzte Warn-Raunen: Vernehmliche westliche Kritik führe lediglich dazu, „liberale Kräfte“ innerhalb des Systems zu schwächen und den Hardlinern Oberwasser zu verschaffen. Als gäbe es im gleichgeschalteten Machtzirkel des Genossen Xi überhaupt noch solche Binnendifferenzen.



Gefühlte Überlegenheit

Der US-Journalist Michael Schuman lebt ebenfalls in Peking und wundert sich in seinem Buch „Die ewige Supermacht“ mit Recht über die westliche Verdutztheit angesichts von Chinas rasantem (Wieder-)Aufstieg. „Die Phase, als China von seinem Status als Supermacht abgesetzt wurde, war jedoch nur eine kleine Unterbrechung auf dem langen chinesischen Zeitstrahl, sie betraf lediglich ein paar Seiten in Geschichtsbänden, die ein ganzes Bücherregal füllen.“



Schuman erinnert daran, dass China bereits Jahrtausende lang ein riesiger Verbrauchermarkt und Warenproduzent war, dass die chinesische Zivilisation sich als „die“ Zivilisation betrachtete und Fremde – siehe Marco Polos Erfahrungen – als Kuriositäten wahrnahm, von deren Know-how man jedoch partiell durchaus lernen könnte. „Die Reformära unter Deng Xiaoping kann man mit der Tang-Dynastie gleichsetzen. Jetzt, unter Xi, schwingt das Pendel erneut zurück zu einer verstärkten Fremdenfeindlichkeit nach Art der Ming-Dynastie. Im heutigen China lassen deshalb Politologen und andere Denker das übliche chinesische Selbstbild von einer überlegenen Zivilisation wiederaufleben, die dazu ausersehen sei, in der globalen Hackordnung den höchsten Rang einzunehmen.“



Dass der Westen dagegen eher von Tag zu Tag beziehungsweise von Wahlperiode zu Wahlperiode denkt und Vergangenheit größtenteils als etwas wahrnimmt, das überwunden und moralisch be- und verurteilt werden muss, beweist noch lange nicht, dass andere Kulturen ebenso „ticken“. Auch deshalb erweist sich Michael Schumans Blick auf Chinas lange Geschichte und auf ein stolzes Traditionsbewusstsein, das verblüffenderweise sogar Maos Tabula-Rasa-Periode überdauert hat, als Augenöffner für so manch westeuropäische Arroganz.



Doch gerät auch er in die Nähe eines Essentialismus, der quasi „Kultur aus einem Guss“ präsentiert. Kein Zufall, dass in seinem Buch weder die konfuzianischen Warnsprüche vor despotischer Herrschaft eine Rolle spielen noch der Denker Zheng Guanying, der Anfang des 20. Jahrhunderts Chinas temporäre Schwäche und die fortgesetzte wirtschaftliche Abhängigkeit vom einstigen Opiumkriegsgewinner Großbritannien beklagt hatte. Was Zheng nämlich beobachtete: Der Westen war auch deshalb so stark geworden, weil ein parlamentarisches System und ein freier, von Regierungsgängelei freier Markt ungeheure Kreativkräfte freisetzten und gleichzeitig eine Debattenkultur das permanente Thematisieren von Fehlentwicklungen und Missständen ermöglichte.



Wenn dies im Laufe der Zeit auch in den sogenannten „asiatischen Kulturraum“ gewandert war, nach Taiwan, Südkorea und Japan, weshalb sollte dann China auf immer und ewig eine autoritäre Ausnahme bleiben? Demgegenüber klingt der von Schuman zitierte neue Große Vorsitzende Xi Jinping doch arg mechanisch, wenn er von der notwendigen „Erhöhung der kulturellen Soft Power des Landes“ spricht, die Chinas neue oder wiedergefundene Stellung in der Welt absichern soll.



Stellschraubenherrschaft

Dass dies so einfach zu dekretieren sei, bezweifelt der China-Kenner und langjährige ZEIT-Korrespondent Matthias Naß. In seinem Buch „Drachentanz“ äußert er sich voll fairer Bewunderung über die immense Leistung, innerhalb einer historisch überschaubaren Zeitspanne Millionen und Abermillionen Menschen aus der Armut herausgebracht zu haben.



 Gleichwohl fragt er nach der nationalen Nachhaltigkeit und internationalen Leuchtkraft eines Modells, das nach wie vor auf einer Einparteien-Diktatur fußt. „Wie aber“, schreibt er, „ist es um die soziale Stabilität bestellt, um die sich die Führung so sorgt? So gut offenbar nicht, wenn man bedenkt, dass seit Jahren schon die Staatsausgaben für die innere Sicherheit höher sind als der Verteidigungshaushalt.“



Denn lassen sich die neuen Herausforderungen – eine alternde Gesellschaft und damit eine schrumpfende Zahl von Berufstätigen, eine trotz aller hehren Klimaziele noch immer immense Umweltzerstörung – tatsächlich mittels einer ins Digitale überführten, aber dennoch zutiefst anachronistischen Stellschraubenherrschaft lösen? Sind die Region Xinjiang und die brutalen „Umerziehungs“-Lager für die uigurische Minderheit nicht die logische Kehrseite des boomenden Shenzhen, wo die Überwachung lediglich in smarterer Form stattfindet?



Vor allem aber: Was folgt daraus für andere Länder? Ist es so, wie manche Experten mutmaßen, dass China aus seiner Tradition heraus keineswegs einen Weltmachtstatus anstrebe, sondern „nur“ im Indo-Pazifik dominieren wolle und damit zufrieden sei, weltweit wirtschaftliche Vasallenverhältnisse zu installieren? Wäre der Westen in diesem Fall womöglich geneigt, das demokratische Taiwan zu opfern – oder gäbe es, auch im Sinne der Biden-Regierung, noch die Chance auf eine friedlich entschiedene Einhegung?



Matthias Naß zitiert den amerikanischen China-Kenner Thomas L. Friedman: „Unser größter Vorteil gegenüber China: Wir haben Verbündete, die unsere Werte teilen; China hat nur Kunden, die seinen Zorn fürchten.“ Wohlgemerkt: Keine Garantie, sondern ein Vorteil, nicht mehr und nicht weniger.



Jenseits von barmender Apokalyptik, fragwürdigen Patentrezepten und blindem Zweckoptimismus beschreibt Naß die Facetten einer beunruhigenden Wirklichkeit, der wir uns endlich stellen sollten.



Marko Martin ist Schriftsteller in Berlin. Im Oktober erscheint im Tropen Verlag sein literarisches Tagebuch „Die letzten Tage von Hongkong“.

 

Frank Sieren: Shenzhen. Zukunft made in China. München: Penguin Verlag 2021. 415 Seiten, 22 Euro

Michael Schuman: Die ewige Supermacht. Eine chinesische Weltgeschichte.Berlin: Propyläen Verlag 2021. 512 Seiten, 26 Euro

Matthias Naß: Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet. München: C.H. Beck 2021. 320 Seiten, 24,95 Euro

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 124-126

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