Buchkritik: Amerikas schwerer Weg zurück zu Maß und Mitte
Die Spaltung in den USA besorgt Beobachter weltweit, und das mit Recht – gilt doch die Entwicklung in den Vereinigten Staaten als Gradmesser für die Zukunft der Demokratie generell. Lässt sich die Polarisierung überwinden? Sechs Neuerscheinungen.
Hält die Mitte in Amerika? Bereits in den 1960er Jahren hatte die amerikanische Journalistin Joan Didion vom Dichter William Butler Yeats die These „Die Mitte hält nicht“ entliehen, um das aufbegehrende, radikale Amerika zu beschreiben, das sich gegen das damalige Establishment in Wa- shington wendete, gegen den Vietnam-Krieg, das brutale Vorgehen von Polizisten gegen Angehörige von Minderheiten sowie den Kapitalismus in seiner US-Ausprägung mitsamt seinen gesellschaftlichen Auswirkungen.
Demokratie am Abgrund
„Die Mitte hält nicht“: Daran musste Kerstin Kohlenberg als Amerika-Korrespondentin der ZEIT nach eigener Aussage oft denken. 2014 hatte Kohlenberg mit ihrer Berichterstattung aus den USA begonnen und ein Land in großer Unruhe erlebt. Eine Nation, die von Handyvideos erschüttert wurde, auf denen zu sehen war, wie schwarze Menschen bei der Verhaftung durch weiße Polizisten getötet wurden. Sie zeigte ihrer Leserschaft eine Gesellschaft, in der junge Schwarze Molotowcocktails auf Polizisten warfen, Nationalgardisten in Panzerfahrzeugen durch die Straßen rollten und Aktivisten begannen, all das mit dem Hashtag „Black Lives Matter“ zu kommentieren.
Als Kohlenberg dieses Amerika im Spätsommer 2021 wieder verließ, war es für sie zu einem Land geworden, in dem ein großer Teil der Menschen nicht mehr an die zentrale Institution der amerikanischen Demokratie glaubte: freie und faire Wahlen. Für sie war das auch ein Ergebnis emotionaler Veränderungen in der amerikanischen Bevölkerung: vom Stolz auf das eigene Land zu den Kränkungen, die es einem zufügt; von der Hoffnung auf ein glückliches Leben zum Zweifel, ob man es je erreichen werde; vom Glauben daran, dass Amerika das beste Land der Welt sei, zu einem beschädigten Gefühl von Fairness.
Für ihr Buch hat Kohlenberg drei Menschen begleitet: einen Mann, der zu den Stürmern des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 gehörte, einen Black-Lives-Matter-Aktivisten und eine Latina, deren Eltern illegal eingewandert waren. An ihren Beispielen zeigt Kohlenberg, warum die Mitte auch in ihren Augen nicht mehr hält und die Demokratie in den USA am Abgrund steht.
Aufstieg der Extremisten
Zu den Verantwortlichen für all das zählen viele Beobachter die Extremisten bei den Republikanern. Wie es ihnen gelingen konnte, in der einstigen Partei der Sklavenbefreiung die Führung zu übernehmen, schildert die Journalistin Annika Brockschmidt, die bereits mit ihrem Buch „Amerikas Gotteskrieger“ über die Macht der Religiösen Rechten in den USA 2021 einen Bestseller geschrieben hat.
Stationen auf dem Weg der Grand Old Party (GOP) zu einer Partei, die eine autoritäre und rassistische Politik vertritt, waren unter anderem Richard Nixons „Southern Strategy“ einer Partei für Weiße, der Aufstieg der Rechten unter Ronald Reagan, nachfolgend der Aufstieg rechter Medien und die wachsende Salonfähigkeit von Extremismus, die „Kreuzzügler“ unter George W. Bush, der Aufstieg des Rechtspopulismus unter John McCain und Sarah Palin, die Tea Party und ihre Radikalisierungsmaschine, schließlich der Kontrollverlust des Partei-Establishments nach Mitt Romneys Niederlage gegen Barack Obama und die Übernahme der GOP durch Donald Trump.
Bei Brockschmidt kann man noch einmal erleben, wie rechte Akteure die Republikanische Partei gezielt unterwandert und allmählich die Grenzen des Sagbaren verschoben haben. Es entsteht das Bild einer Partei, die heute bereit scheint, eine Herrschaft der Minderheit zu etablieren.
Nach Brockschmidts Beobachtung sind christlich-nationalistische, offen extremistische und rassistische Ansichten längst zur Mainstream-Meinung in der Partei avanciert – mit dramatischen Konsequenzen: In von den Republikanern regierten Bundesstaaten würden im Kampf gegen die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung Bücher verboten, die Rechte von Minderheiten beschnitten, die Wissenschaftsfreiheit beschränkt und das Recht auf Abtreibung abgeschafft oder stark eingeschränkt.
Werkzeug Identitätspolitik
Seit fast einem Jahrzehnt dominiert Donald Trump die Republikanische Partei. Philipp Adorf, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Bonn, macht in seiner Geschichte der GOP darauf aufmerksam, dass Trumps Vorwahlsieg im Frühjahr in vielerlei Hinsicht ein weiteres seiner zahlreichen Comebacks gewesen sei.
Schon lange vor seiner politischen Karriere habe Trump sich damit gerühmt, seine Unternehmen mehrfach aus dem Konkurs zur erneuten Profitabilität geführt zu haben. Wird sein Buch „The Art of the Comeback“ von 1997 eine aktualisierte Auflage im Weißen Haus erleben? Eine erneute Wahl Trumps liegt weiter im Bereich des politisch Möglichen – auch wenn viele Beobachter die Chancen der Demokraten auf einen Wahlsieg mit Kamala Harris als Kandidatin als nun deutlich gestiegen ansehen.
Einen zentralen Schlüssel für Trumps Erfolg erkennt Adorf in dessen Appellen an die Ressentiments und Ängste der republikanischen Kernwählerschaft und der gemeinsamen populistischen Grundhaltung. Im vergangenen halben Jahrhundert habe sich die Republikanische Partei zu einem Experten in der Nutzung von „Identity Politics“ in der Wählergewinnung entwickelt. Auch dank dieser Strategie sei heute die eigene Identität zu einer der zentralen gesellschaftlichen und politischen Konfliktlinien in den USA geworden.
Politik wird nach Adorfs Analyse innerhalb eines beträchtlichen Teils der republikanischen Stammwählerschaft immer stärker als Kampf der verschiedenen ethnischen Gruppen wahrgenommen, in dem der Anstieg an politischem Einfluss der Minderheiten – symbolisiert durch den Sieg Barack Obamas 2008 – unweigerlich auf Kosten der eigenen politischen Relevanz kommt. Das sei ein Narrativ, das von republikanischer Seite seit Jahrzehnten genährt werde – Trumps Triumph sei nur das jüngste Beispiel dafür.
Abraham Lincolns Appell
Steht Amerika vor einem neuen Bürgerkrieg? Manfred Berg, Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg, erinnert daran, dass in der Demokratie Wahlen idealiter dazu dienten, Entscheidungen über Macht- und Sachfragen herbeizuführen, die auch die unterlegene Seite akzeptieren könne. Das Prinzip des friedlichen, demokratischen Machtwechsels, auf das Amerika lange zu Recht so stolz gewesen sei, gerate jedoch ins Wanken. Hier zitiert Berg seinen Kollegen David W. Blight, der 2017 mahnte, „dass es ein Bürgerkriegsrisiko gibt, wenn das Ergebnis einer Wahl für eine Partei oder eine große Bevölkerungsgruppe völlig inakzeptabel erscheint. 2000 ist es bei der Konfrontation zwischen Bush und Gore nicht zum Äußersten gekommen, aber vielleicht waren wir nahe dran. Es ist nicht undenkbar, dass es jetzt passieren könnte.“
Berg ergänzt, dass nur dreieinhalb Jahre nach der Blightschen Warnung der Verlierer der Präsidentschaftswahl einen Putschversuch unternommen habe. Und für das kommende Jahr zeichnen sich in seiner Wahrnehmung neuerlich Szenarien ab, die auf einen Machtkampf hinausliefen, in dem es für beide Seiten um alles oder nichts gehe. Allerdings sieht der Autor auch gute Argumente dafür, dass Aufstände, Putsch- und Sezessionsversuche keine Erfolgsaussichten haben würden, weil die zivilen und militärischen Institutionen der USA im Kern widerstandsfähig und verfassungstreu seien und die große Mehrheit der Bevölkerung zur nationalen Einheit wie zur Demokratie stehe.
Auch vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 habe es nach Auffassung vieler Historiker bis zuletzt Alternativen und Möglichkeiten zum Kompromiss gegeben. Am Schluss seiner Rede zur Amtseinführung am 4. März 1861, einen Monat vor Beginn der Feindseligkeiten, habe Abraham Lincoln seine Landleute beschworen: „Wir sind keine Feinde, wir sind Freunde. Wir dürfen niemals zu Feinden werden.“
Damals verhallte der Appell des Präsidenten. Lincoln sah sich gezwungen, die nationale Einheit mit Gewalt zu verteidigen. Schätzungsweise 700 000 Tote waren zu beklagen – bis heute der verlustreichste Krieg in der amerikanischen Geschichte und ein nationales Trauma. Mehr als 160 Jahre später sieht Berg die Amerikaner gut beraten, sich auf die Mahnungen ihres großen Präsidenten zu besinnen.
Das Alte Rom und der Westen
Dabei, dass Amerika diesem Rat folgt und eine Wiederholung der Geschichte verhindert, könnte ein historischer Vergleich helfen. Peter Heather und John Rapley haben die Entwicklung des römischen und des amerikanisch angeführten westlichen Imperiums miteinander verglichen.
Heather, Professor für mittelalterliche Geschichte am Londoner King’s College, und Rapley, politischer Ökonom an der University of Cambridge, sehen den modernen Westen noch nicht an dem Punkt, an dem sich der römische Westen Ende der 460er Jahre vor seinem Zusammenbruch befand. Die Nationen des modernen westlichen Imperiums verfügten nach wie vor über erhebliche Einkünfte und Ressourcen, auch wenn diese relativ gesehen seit ihrem Höhepunkt am Ende des 20. Jahrhunderts erheblich zurückgegangen seien.
Doch eines macht der Vergleich mit dem Aufstieg und Fall des Römischen Reiches Heather und Rapley zufolge deutlich: Das moderne westliche Imperium befinde sich wie das Alte Rom in einer selbst verursachten Krise. Seine eigenen Strukturen hätten den Aufstieg einer echten konkurrierenden Supermacht in Gestalt Chinas und selbstbewusster neuer Mächte in der ehemaligen imperialen Peripherie des Westens gefördert.
Der Aufstieg dieser neuen Akteure, der dem Geschehen im 4. und 5. Jahrhundert ähnele, habe zu ernsthaften Verwerfungen innerhalb des westlichen imperialen Systems geführt: Derzeit stritten rivalisierende westliche Anführer darüber, wie man auf diese neue postimperiale Weltordnung reagieren solle, in welcher der beispiellose Reichtum von wenigen von der Erosion des Lebensstandards vieler anderer abhänge.
Amerika bleibt unentbehrlich
Wer wird diesen Streit in Amerika für sich entscheiden und mit welchen Folgen für den Westen? Stephan Bierling spricht es klar aus: Machtpolitisch würde sich Europa bei einem Triumph der Nationalisten und Isolationisten in den USA mit der Aufgabe konfrontiert sehen, ohne politische Führung und materielle Unterstützung der USA die Versuche autoritärer Großmächte abzuwehren, das westliche Politik- und Lebensmodell zu zerstören. Bierling, Professor für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg, macht sich keine Illusionen: Ohne Amerika würden die europäischen Demokratien wohl weder den Ersten und Zweiten Weltkrieg noch den Kalten Krieg überdauert haben. Ohne Amerika wären wohl auch Bosnien und der Kosovo der serbischen Aggression in den 1990er Jahren schutzlos ausgeliefert gewesen.
Heute zeigt Bierling der Verlauf von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine eines: Wären die Europäer bei der Hilfe für Kiew auf sich allein gestellt, stünden Moskaus Invasionstruppen wohl bereits an der Grenze von EU und NATO. Die Entwicklung der Demokratie in Amerika ist für Stephan Bierling daher nicht nur von theoretischem Interesse: Sie sei essenziell für das Überleben und Gedeihen der Demokratien in der Welt.
Nach Bierlings Urteil hängt die Zukunft der Demokratie in Amerika entscheidend davon ab, ob sich die politische und gesellschaftliche Polarisierung aufhalten oder vielleicht sogar zurückdrehen lässt, ob Bürger und Politiker zu Maß und Mitte zurückfinden werden. Denn nur dann kann die Mitte halten – in Amerika, in Europa, im Westen.
Kerstin Kohlenberg: Das amerikanische Versprechen. Vom Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land. Stuttgart: Tropen 2024. 341 Seiten, 25,00 Euro
Annika Brockschmidt: Die Brandstifter. Wie Extremisten die Republikanische Partei übernahmen. Hamburg: Rowohlt 2024. 366 Seiten, 24,00 Euro
Philipp Adorf: Die Republikanische Partei in den USA. Geschichte, Parteistruktur, Radikalisierung. München: UVK 2024. 250 Seiten, 27,90 Euro
Manfred Berg: Das gespaltene Haus. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von 1950 bis heute. Stuttgart: Klett-Cotta 2024. 542 Seiten, 35,00 Euro
Peter Heather und John Rapley: Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens. Stuttgart: Klett-Cotta 2024. 284 Seiten, 25,00 Euro
Stephan Bierling: Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie. München: C. H. Beck 2024. 336 Seiten, 28,00 Euro
Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 124-127
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