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05. Mai 2014

„Brüssels Beitrag: Panik statt Politik“

Wer bremst Europas Energiewende aus? Interview mit Reinhard Bütikofer

Deutschlands Energiewende ist in die Kritik geraten. Wirtschaftsexperten warnen vor einer Gefährdung des Standorts Deutschland, die europäischen Nachbarn fühlen sich ungenügend eingebunden und verfolgen zum Teil ganz andere Wege. Was tun? Reinhard Bütikofer, Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament, im Gespräch.

IP: Herr Bütikofer, drei Jahre, nachdem Angela Merkel Deutschlands Energiewende ausgerufen hat, mehren sich die Stimmen, die mangelnde Wirtschaftlichkeit und fehlende Einbettung in die europäische Energiepolitik kritisieren. Hat Berlin seine Führungsrolle in Sachen Energie und Klima in der EU verloren?

Reinhard Bütikofer: Wenn wir über Klimapolitik sprechen, dann würde ich sagen: Die Zeit, zu der auch sehr viele Ökos zugestimmt hätten, dass man Deutschland als Vorreiter bezeichnen kann, ist lange vorbei, so etwa sieben Jahre. Seit 2007, als Frau Merkel in ihrem roten Anorak vor dem Gletscher in Grönland stand, hat die Bundesregierung keine Chance versäumt, Chancen zu versäumen.

IP: Inwiefern?

Bütikofer: Jedes Mal, wenn es galt, sich zu entscheiden, ob man der Klimapolitik Vorrang einräumt oder Wirtschaftsinteressen, hat man sich für Letzteres entschieden. Nehmen Sie nur die Verhandlungen zwischen den EU-Umweltministern über die Grenzwerte für den CO2-Ausstoß von Autos ab 2020. Da haben zwei Anrufe aus Konzernzentralen ausgereicht, damit die Bundeskanzlerin persönlich mit beiden Füßen auf die Bremse steigt. Inzwischen gehören CDU-Abgeordnete im Europäischen Parlament zu den heftigsten Kämpfern gegen eine Klima-Vorreiterrolle Deutschlands.

IP: Hat das damit zu tun, dass die Erneuerbaren angeblich zu teuer sind?

Bütikofer: Meines Erachtens ist der Hauptgrund eine Führungsschwäche. Wenn man eine aktive Klimapolitik betreiben will, dann müsste man diese Strategie eigentlich bei allen industriepolitischen Entscheidungen berücksichtigen. Wenn man aber einen Führungsstil hat, der eher taktierend-moderierend ist, dann steht man oft vor der Situation, jetzt noch einmal – „nur dieses eine Mal“, aber natürlich in Wirklichkeit immer wieder – dem kurzfristigen Interesse vor einer langfristigen Perspektive den Vorrang geben zu müssen. Davon mal abgesehen, dass das klimapolitische Umdenken natürlich in der Union auch nie von allen getragen wurde. Seitdem in den USA die Fracking-Welle rollt, haben die Skeptiker die „zweite Luft“ bekommen. Und ist es nicht so, dass in den USA dank Schiefergas die Emissionen sinken? Also heißt es in interessierten Kreisen: Es geht auch fossil weiter. Das Selbstvertrauen, mit dem Argumente gegen Klimapolitik vorgetragen werden, ist in den vergangenen drei, vier Jahren wieder gestiegen. Ich will das nicht der Bundeskanzlerin anlasten oder irgendeiner Partei. Aber es fällt schon auf, wenn Emma Marcegaglia, die Präsidentin von Business Europe, bei einer offiziellen Veranstaltung fordert, dass die EU ihre Klimaziele aufgeben sollte.

IP: Weg vom Zwei-Grad Ziel?

Bütikofer: Ach, so genau will Frau Marcegaglia das nicht wissen. Aber schon Ziele wie das, den Ausstoß der Treibhausgase bis 2030 um 40 Prozent zu senken, leuchten der Dame überhaupt nicht ein.

IP: Wobei ja dieses Ziel für sich genommen gar nicht so ambitioniert ist…

Bütikofer: Nein, natürlich nicht. Aber mittlerweile wird eben die Formulierung jeglicher Ziele überhaupt in Zweifel gezogen. Und zu allem Überfluss macht sich dann auch noch Günther Oettinger, immerhin EU-Energiekommissar, auf derselben Veranstaltung öffentlich über die Klimaziele der Union lustig und bezweifelt, dass das alles jemals erreichbar ist – und niemand widerspricht ihm dort.

IP: Ist die EU insgesamt dabei, ihre Vorreiterrolle einzubüßen?

Bütikofer: Ja, leider. Deutschland ist in der EU nicht mehr die treibende Kraft, das EU-Parlament fährt nicht mehr den entschiedenen Kurs wie noch zu Beginn dieser Legislaturperiode. Trotzdem ist in der Energiepolitik der Kampf um die Energiewende nicht entschieden. „Energiewende“ als Lehnwort gibt es ja erst seit 2011. Da kommt wohl auch Kritik von den Nachbarn, aber ich habe überhaupt nicht den Eindruck, dass da überall in Europa ein Abgesang angestimmt würde.

IP: Wie würden Sie denn die vorherrschende Stimmung beschreiben? Eher ein gespanntes Interesse von der Art „Wenn Deutschland es hinbekommt, seine Energieversorgung auf Erneuerbare umzustellen, ohne seine Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden, dann können wir das vielleicht auch“? Oder geht man davon aus, dass die Deutschen das Projekt, salopp gesprochen, an die Wand fahren werden?

Bütikofer: Es gibt in Europa durchaus den einen oder anderen, der jedem, der es hören will, sagt, dass die Deutschen scheitern werden. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán ist dieser Meinung, und die polnische und die tschechische Regierung sehen das ganz ähnlich. Andererseits nimmt man in Europa durchaus wahr, was für ein Potenzial diese Entwicklung hat. Nur ein Beispiel: Unmittelbar nach der Entscheidung der Regierung Merkel für die Energiewende stellte in Paris Ex-Umweltminister Klaus Töpfer das Konzept in der deutschen Botschaft vor, und der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing konnte nicht an sich halten, seine Verachtung für diese lächerliche deutsche Politik zum Ausdruck zu bringen. Aber hinterher kamen die französischen Atommanager und erkundigten sich interessiert, was die Folgen wären, wenn das wirklich klappen sollte.

IP: Vor allem für die französische Atomindustrie ...

Bütikofer: Ja. Wobei die Erwartung, dass es funktionieren wird, auch so ihre Konjunkturen kennt. Aber natürlich muss man das System immer wieder neu anpassen, je größer der Anteil der Erneuerbaren wird. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Anteil von 5 Prozent habe oder von 40 Prozent.

IP: Wenn das Interesse in Europa da ist, müsste der nächste Schritt doch sein, das tatsächlich zu europäisieren – in einer gemeinsamen Infrastruktur, in einem gemeinsamen Markt. Wie groß sind die Chancen, dass sich da etwas bewegt?

Bütikofer: Das wird nicht einfach. Im EU-Budget fehlen schlicht die Mittel, um einen großangelegten Ausbau der Stromnetze in Europa zu finanzieren.

IP: Genau das bräuchten wir aber.

Bütikofer: Ja, aber dieses Budget gibt es nicht. Die Mitgliedsländer haben sich da für einen gewissen Haushaltspopulismus entschieden: Wenn wir sparen müssen, muss Europa auch sparen. Mit der Folge, dass der EU-Haushalt sinkt. Der Anteil, den Europa für Netzinfrastrukturausbau beisteuern kann, liegt bei rund 10 Prozent. Ein bisschen Spiel nach oben ist da bei strategisch wichtigen Projekten, vielleicht bis zu einem Drittel, aber wir sind weit davon entfernt, das komplett aus öffentlichen Mitteln bestreiten zu können. Entweder die Mitgliedsländer müssen das übernehmen, oder man mobilisiert privates Kapital. Außerdem gibt es noch einige Länder, die bei der Netzintegration seit jeher auf der Bremse stehen, Frankreich zum Beispiel.

IP: Zugunsten der guten alten Atomenergie?

Bütikofer: Natürlich. Und das ist umso bedauerlicher, als Länder wie Spanien liebend gerne viel mehr von ihrem erneuerbaren Strom in die europäischen Netze einspeisen würden. Aber die Kuppelstellen an der französischen Grenze sind so schmal dimensioniert, dass man den Strom da nicht durchbekommt.

IP: Mittlerweile haben die Franzosen Atomkraftwerke, die 30 Jahre und älter sind. Das ist doch auch ein finanzielles Himmelfahrtskommando, diese Reaktoren auf Vordermann zu bringen.

Bütikofer: Natürlich. Und vor seiner Wahl hatte Präsident Hollande ja auch angekündigt, die Abhängigkeit Frankreichs von der Atomenergie deutlich zu reduzieren – von rund 75 Prozent auf dann vielleicht noch 50 Prozent. Von der Dimension her wäre das fast mit dem deutschen Atomausstieg vergleichbar. Nur leider deutet nichts darauf hin, dass man das auch tatsächlich umsetzen will. Aber das ist ja nicht das einzige Thema, bei dem die französische Regierung ihre Probleme in der Theorie ganz gut beschreibt, nur um sie dann in der Praxis umso konsequenter zu ignorieren.

IP: Nun heißt es ja oft, die Energiewende sei nur etwas für Länder, in denen es einen erfolgreichen, exportorientierten Mittelstand gibt wie in Deutschland. Ist da was dran?

Bütikofer: Natürlich haben wir nicht überall diesen produktiven Mittelstand, der das Rückgrat der deutschen Exportwirtschaft ausmacht. Aber unsere Energiewende ist ja vor allem deshalb ein mittelständisches Projekt, weil die großen Energieversorgungsunternehmen sich systematisch geweigert haben, in dieses Geschäftsfeld zu investieren, trotz allen guten Zuredens. Heute haben RWE oder Vattenfall auch deshalb enorme Schwierigkeiten, ertragreiche Geschäftsfelder zu finden, weil sie diesen Sprung viel zu lange verpasst haben. Dank des Finanzierungsmechanismus des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist eine ganz neue Klasse von Unternehmern entstanden: Rechtsanwälte, Ärzte, Landwirte, die ihr Geld in Windräder investieren und dadurch die Industrie ankurbeln. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem sich mangelnde Kapitalstärke als Entwicklungshindernis erweisen kann. Im Konflikt zwischen der deutschen und der chinesischen Photovoltaikindustrie etwa war die höhere Kapitalkraft der Chinesen ein entscheidender Vorteil.

IP: Und da braucht man dann doch wieder die großen Unternehmen?

Bütikofer: Natürlich, die Frage ist nur, wie man beides miteinander kombiniert, ähnlich wie bei der Diskussion zwischen dezentraler Energieproduktion und Netzintegration. Wenn man ausschließlich dezentrale Energieversorgung haben will, dann wird das wesentlich teurer, als wenn man zusätzlich die Vorteile der Netzintegration nutzt. Vielleicht könnten Unternehmen in anderen Ländern vom deutschen Beispiel lernen, dass man einsteigen sollte, bevor man einen Markt verloren hat. Und wenn ich mir anschaue, wo gegenwärtig die technologischen Innovationen etwa in der Photovoltaik stattfinden, dann taucht da eine ganze Reihe französischer Namen auf. Es wäre also falsch, in deutscher Selbstzufriedenheit zu sagen: Wir haben es begriffen, und der Rest Europas muss bei uns in die Schule gehen.

IP: Zumal man ja mittlerweile auch wieder nachbessern muss. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel will jetzt das Erneuerbare-Energien-Gesetz reformieren und den Anstieg der Strompreise durch die Energiewende mit Förderkürzungen beim Ökostrom bremsen. Außerdem will er den Ausbau besser steuern, um den Atomausstieg bis 2022 zu schaffen. Glauben Sie, dass das funktionieren wird?

Bütikofer: Ich sehe da zwei Probleme. Das eine ist, dass Gabriel den Ausbau der Windkraft an Land zu stark begrenzt – das ist ja auch eine Kritik, die aus SPD-regierten Ländern kommt. Stattdessen werden die großen Investoren umworben, indem man verkündet, wir wollen Offshore-Windkraft ausbauen, vielleicht nicht in dem Maße wie früher mal geplant, aber doch relativ ambitioniert. Das hat natürlich seinen Preis, weil Offshore-Windkraft viel teurer ist. Und das zweite Problem ist, dass über die geplanten Ausschreibungsverfahren tendenziell die Bürgergenossenschaften und die kleineren Spieler wieder vom Markt vertrieben werden. Ich sehe da eine Tendenz zur Re-Oligopolisierung der Energieproduktion angelegt.

IP: Was ja genau der Strategie widersprechen würde, von der wir gerade geredet haben – der Kombination von mittelständischen und großen Unternehmen.

Bütikofer: Leider. Ich würde aber nicht kritisieren, dass Gabriel überhaupt reformiert. Offenkundig lässt sich das System nicht unreformiert fortschreiben. Denn wenn man sich über die Kosten angreifbar macht, dann wird die ganze Legitimität des Systems untergraben. Womit ich nicht sagen will, dass die Kostenargumente alle zutreffen würden. Denn darüber, wie etwa die Gas- oder Ölpreise in derselben Zeit gestiegen sind, verlieren diejenigen, die von hohen Stromkosten und Energiearmut sprechen, kein Wort. Aber die Erneuerbaren marktfähig zu machen, das war eigentlich von Anfang an das Ziel. Es ging ja nie darum, eine dauerhaft subventionierte Industriebranche aufzuziehen. Wir wollten das als Subventionierung einer entstehenden Industrie, die man dann Stück für Stück entwöhnt.

IP: Wie läuft denn die Diskussion in Ländern, die von der Wirtschaftskrise besonders betroffen waren, in Italien, in Spanien, in Griechenland? Können die sich die Energiewende leisten, wollen die das noch?

Bütikofer: Ich glaube nicht, dass man die Länder über einen Leisten schlagen kann. Die Spanier etwa waren ja längst überzeugt. Die hatten einen grandiosen Ausbau von Erneuerbaren, vor allem von Sonnenenergie. Eine kurze Zeit lang war Spanien der wichtigste Markt für Photovoltaik! Nun haben die das aber übers Budget finanziert. Und als in der Krise die Frage aufkam, wo gekürzt werden könnte, da hat es die erneuerbaren Energien erwischt – und zur massiven Vernichtung von Werten geführt. Auch in Griechenland gab es durchaus eine Politik zur Förderung der Erneuerbaren. Da hat dann ausgerechnet die Troika die Weitsicht besessen zu sagen, dass Griechenland sich das nicht mehr leisten kann. Aber die wirklichen Bremser sitzen woanders.

IP: Zum Beispiel?

Bütikofer: Europas Hauptproblem ist, dass es neben denen, die interessiert und mit wachem Blick den deutschen Weg verfolgen, auch andere gibt, die unversöhnlich wie eh und je für eine fossile Energiepolitik eintreten. Und die bekommen Oberwasser. Da spielen vor allem die Briten eine verhängnisvolle Rolle. Weil sie unglaublich hohe Steuersubventionen für Schiefergas und für Atomenergie anbieten. Und auch die Polen, die Tschechen und die Ungarn – eigentlich ist ganz Osteuropa da keine große Unterstützung.

IP: In Polen hat die Diskussion um Kohle, Atom und Schiefergas einen dezidiert politischen Hintergrund. Hier will man unbedingt aus der Abhängigkeit von russischem Gas rauskommen. Nun gilt aber Erdgas als ideale Ergänzung zum Ausbau der Erneuerbaren, weil Erdgaskraftwerke schnell hoch- und wieder runtergefahren werden können. Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise stellt sich die Frage noch einmal ganz neu. Glauben Sie, dass der Konflikt die Energiewende gefährdet?

Bütikofer: Ich sehe überhaupt nicht, dass das in irgendeiner Weise eine Bedrohung für die Energiewende werden könnte.

IP: Eher im Gegenteil?

Bütikofer: Ja, ich würde eher einen Schub erwarten. Denn wenn man nicht mehr so stark von russischer Energie abhängig sein möchte, muss man sich fragen, wo die Alternativen sind …

IP: Aserbaidschan und Iran wohl nur bedingt ...

Bütikofer: Dafür bräuchte man ja auch erstmal die entsprechenden Leitungen oder Flüssigerdgas-Terminals. Was dann? Amerikanisches Schiefergas? So weit, dass die Amerikaner ihr Schiefergas exportieren können, sind sie noch nicht. Und beim Blick auf einheimische Ressourcen, etwa Schiefergas, muss man feststellen, dass die Kosten für die Förderung dreimal so teuer wie in den USA wären, u.a. weil man tiefer bohren muss. Davon einmal abgesehen, dass vieles darauf hindeutet, dass sich das auch in den USA als Blase erweisen wird.

IP: Sieht man das auch in Polen so?

Bütikofer: Mittlerweile schon. In Polen ist Schiefergas eine der großen Enttäuschungen. Als das aufkam, war das quasi eine neue nationale Religion. Wenn im EU-Parlament über Schiefergas diskutiert wurde, waren mindestens die Hälfte der Diskussionsteilnehmer Polen. Aber inzwischen wächst der Widerstand bei der Landbevölkerung, und die meisten amerikanischen Investoren sind wieder abgezogen. Und so bleibt am Ende als einzig praktikable Alternative übrig, auf Erneuerbare zu setzen – und auf Energieeffizienz. Bisher haben wir ja in Deutschland aus bestimmten historischen Gründen die Energiewendedebatte vor allem als Diskussion über Energieträger geführt. Das Thema Energieeffizienz wurde nur am Rande angesprochen …

IP: Quasi als Anhängsel der Debatte …

Bütikofer: Ich glaube, dass Effizienzstrategie eine wesentlich größere Rolle spielen muss. Denn die hat auch etwas mit künftiger Wettbewerbsfähigkeit zu tun. Wenn ich Energieeffizienz in meine Produkte integriert bekomme, dann bin ich auch im globalen ökonomischen Wettbewerb in einer ganz anderen Lage, als wenn ich nur einen anderen Energieträger anzubieten habe. Die Schwäche der europäischen und vielleicht auch zum Teil der deutschen Energiewende liegt darin, dass sie dieses Thema nicht ausreichend berücksichtigt. Der strategische Ort, von dem aus man da die Rechnung verändern kann, ist die Energieeffizienz.

IP: Also ein Thema, zu dem jeder einzelne Haushalt, jede einzelne Firma einen Beitrag leisten kann.

Bütikofer: Ja. Wobei es da natürlich Schwerpunkte gibt. Einen Großteil unserer Energie verwenden wir zum Wärmen oder Kühlen unserer Gebäude. Und da wird nach wie vor zwischen 40 und 50 Cent von jedem Euro, den wir für Wärme ausgeben, de facto verschwendet – einfach weil wir die bereits technisch vorhandenen Isolierungsmöglichkeiten nicht anwenden, die es uns erlauben würden, mit wesentlich weniger Energieaufwand denselben Wärmekomfort zu sichern. Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass der Mythos von der unvermeidlichen Erhöhung der Abhängigkeit von Gasimporten rasch in sich zusammenfiele, wenn man die Energieeffizienz im Gebäudebereich umsetzen würde. Gerade in Europa haben wir jede Menge Firmen, die hier über fortschrittliche Technologien verfügen. Leider hat die EU sich von jeglichem Ehrgeiz in Sachen Energieeffizienz verabschiedet. Für 2030 hat man sich noch nicht mal mehr ein konkretes Energieeffizienzziel gesetzt.

IP: Wie erklären Sie sich das?

Bütikofer: Damit, dass es einer bestimmten Industrielobby gelungen ist, das als Kostenfaktor zu denunzieren, was in Wirklichkeit ein Kostendämpfer wäre.

IP: Aber das ist doch keine Frage der Meinung, sondern eine der Fakten. Wenn man nachweisen kann, dass Energieeffizienz in jedem Unternehmen ein Kostendämpfer ist, wie lässt sich dann dagegen argumentieren?

Bütikofer: Aus Sicht eines Einzelunternehmens dauert es zu lange, bis sich diese Maßnahmen rentieren. Die Fristen, bis wann Investitionen wieder eingespielt sein müssen, liegen oft bei zwei bis zweieinhalb Jahren. Es gibt relativ wenige Investitionen, die so durchschlagend sind, dass sie alle Kosten innerhalb dieses Zeitraums wieder reinspielen. Energieeffizienzmaßnahmen zählen nicht dazu; da sprechen wir von sechs bis acht Jahren. Und dann ist da noch die unheilvolle Allianz aus bestimmten Akteuren, die ganz andere Interessen haben – fossile Interessen. Die gibt es nicht nur bei Unternehmen, sondern auch bei der IG Bergbau, Chemie, Energie oder bei den Kommunen, die Miteigner von RWE sind.

IP: Wie äußert sich das?

Bütikofer: Wenn ich mit Fachleuten aus Wirtschaftsverbänden spreche, kommen wir oft zu dem Schluss, dass es wichtig wäre, Energieeffizienzpolitik eine hohe Priorität einzuräumen. Anschließend liest sich das aber in den Verbandsverlautbarungen ganz anders. Aus einer fachlichen Zustimmung zu Energieeffizienzmaßnahmen wird eine Ablehnung auf politischer Ebene. Aber das ist nicht sonderlich überraschend, und ich finde auch nicht, dass es zu beklagen ist. Wenn man in einem komplexen Transformationsprozess Fortschritte macht und bestimmte Probleme löst, tauchen neue Probleme auf. Das ist ja eigentlich die Art von Problemen, die wir haben wollten.

IP: Viele Kritiker sagen heute, es handele sich um ein Managementproblem: Die Energiewende hätte von Anfang an stärker zentralisiert gesteuert werden müssen. Sehen Sie das auch so?

Bütikofer: In Deutschland war das nicht so sehr ein Managementproblem. Wenn ich, wie in der vergangenen Legislaturperiode, ein Umweltministerium unter Peter Altmaier habe, das die Energiewende will – oder doch zumindest, nennen wir es mal: ein bisschen Energiewende – und ein Wirtschaftsministerium unter Philipp Rösler, das in jeder einzelnen Frage sein Veto einlegt, dann ist das kein Managementproblem, sondern ein Richtungsproblem.

IP: Also die Frage: Wollen wir das wirklich?

Bütikofer: Genau. Auf der europäischen Ebene ist die Managementverantwortung begrenzt, weil die Entscheidung über den Energiemix nach wie vor eine nationale Angelegenheit ist. Und die Managementkapazitäten, die er hat, setzt der EU-Kommissar für Energie Günther Oettinger ausschließlich dafür ein, die deutsche Energiewende zu diskreditieren. Sein vornehmstes Interesse scheint darin zu liegen, seine Position dafür zu nutzen, um seinen Freunden bei den deutschen Energieversorgern im Kampf gegen die Energiewende zu helfen.

IP: Nennen Sie mal ein Beispiel.

Bütikofer: Nehmen wir die Diskussion über das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz. Da ist die Europäische Kommission der Ansicht, die Ausnahmeregelungen für bestimmte energieintensive deutsche Unternehmen verzerrten den Wettbewerb. Oettinger hat immer wieder versucht, das politisch auszuschlachten, um dem EEG gewissermaßen die Gräten zu ziehen.

IP: Wie?

Bütikofer: Indem er die Klagen über die drohende Belastung der deutschen Schwerindustrie so lange befeuert hat, dass daraus eine Panik wurde. Bestimmte Branchen, etwa die Stahlindustrie, klagen ja gerne darüber, dass sie unerträgliche Kosten zu schultern hätten, obwohl die mit einem vernünftigen Energieeinkaufsmanagement zu Energiekosten kommen könnten, die mit US-Energiekosten vergleichbar wären. Da gilt dann der alte Kaufmannsspruch: Lerne klagen, ohne zu leiden. Und diese Beschwerden greift Oettinger auf. Zum Teil trägt das skurrile Züge, wenn etwa plötzlich die Drohung im Raum steht, sämtliche EEG-Ausnahmeregelungen könnten rückwirkend in Frage gestellt werden. Das würde auf einen Schlag Milliardenkosten für energieintensive Unternehmen bedeuten – der Kern der deutschen Industrie wäre von heute auf morgen pleite. Das wurde so lange kolportiert, bis sie bei ThyssenKrupp ernsthaft überlegt haben, Risikorücklagen zu bilden. Panik zu verbreiten, statt Politik zu machen, die Lösungen anstrebt: Das war der wesentliche Beitrag Brüssels zum Management der Energiewende.

IP: Mit der Ukraine-Krise ist es uns ja jetzt noch einmal vor Augen geführt worden, dass wir einen politischen Kostenfaktor haben, der nicht unerheblich ist – Europas Energieabhängigkeit von Russland. Glauben Sie, dass diese Krise auch für Brüssel ein Anstoß ist, sich für eine europäische Energiewende einzusetzen, damit wir uns gemeinsam aus dieser Abhängigkeit befreien?

Bütikofer: Es laufen ja bereits Verfahren gegen Gazprom, weil die Verträge, die sie machen, immer wieder gegen europäisches Recht verstoßen. Da war meines Erachtens bisher die Haltung der Kommission: Wenn Gazprom freundlich nachfragt, dann kriegen sie ihre Ausnahmeregelungen von den europäischen Gesetzen schon.

IP: Das muss ja nicht so bleiben.

Bütikofer: Nein, muss es nicht. Und ich hoffe, dass es nicht so bleiben wird. Ich habe durchaus den Eindruck, dass die Erschütterung, die das russische Vorgehen in Ost- und Mitteleuropa ausgelöst hat, im Westen nicht ganz ohne Resonanz geblieben ist. Die Europäer rücken an dieser Stelle zusammen. Und ich glaube auch, das wird eines der Themen im Europawahlkampf sein: Europa muss mit einer Stimme sprechen. Dieses klassische europäische Narrativ wird dadurch einen Schub erhalten.

IP: Auch die viel beschworene europäische Öffentlichkeit?

Bütikofer: Auch die, wobei sich da ja schon einiges getan hat. Die erste gemeinsame europäische Debatte, an die ich mich erinnere, war am 15. März 2003, als europaweit die Leute gegen den Irak-Krieg auf die Straße gegangen sind. Auch die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass wir uns viel stärker aufeinander beziehen. Heute weiß jeder mehr über das französische Rentensystem, die britischen Steueroasen, die deutschen Austeritätsgebote und die griechischen Reformen, als er je glaubte wissen zu müssen. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass bei dieser Europawahl mehr über Europa diskutiert wird als bei früheren Wahlen. Allein schon durch die Tatsache, dass alle großen europäischen Parteien gemeinsame Spitzenkandidaten aufstellen. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung – und das kriegt durch die Ukraine-Krise nochmal einen Schub.

Das Interview führten Joachim Staron und Sylke Tempel
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 48-56

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