IP Special

28. Okt. 2024

Brüche im Generationenvertrag

Bildung, Gesundheit, Sicherheit: Schon heute schränken Klimafolgen die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen weltweit ein. Noch stehen Wege aus der Krise offen.

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Bild: US-Außenminister John Kerry unterzeichnet das Pariser Klima-Abkommen mit seiner Enkelin auf dem Arm.
Symbole sind gut, Taten wären besser: Mit seiner Enkelin unterzeichnet US-Außenminister John Kerry 2016 das Pariser Klima-Abkommen.
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Lange galt: Die kommende Generation solle es mal besser haben als die heutige. Dieses Grundverständnis von Fortschritt und intergenerationeller Gerechtigkeit gerät jedoch durch die exzessive globale Ressourcenausbeutung ins Wanken. Schon die Chance, den gegenwärtigen Lebensstandard für künf­tige Generationen lediglich zu halten, ist durch die Klimakrise bedroht. Schlimmer noch: Schwerwiegende Folgen des Klimawandels könnten ganze Landstriche unbewohnbar machen und den Möglichkeitsraum für menschliche Entwicklung drastisch einschränken. Diese Bruchlinien im Generationenvertrag treten immer deutlicher zutage. Doch im Strudel geopolitischer Krisen verschieben sich die Prioritäten zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen der Reaktion auf Schocks und der Prävention des vorhersagbaren Unheils. 

Blickt man auf die Europäische Union, möchte man meinen, die junge Generation habe immer noch mehr Möglichkeiten als die Generationen vor ihnen: glänzende Smartphones, günstige Wochenendtrips, Fast Fashion und lässige Musikfestivals. Doch die Verheißungen des Konsums täuschen über die Erosion der Fundamente des Wohlstands hinweg: Eine feste Anstellung, die Aussicht auf eine solide Rente, Wohneigentum oder zumindest eine bezahlbare Miete – das alles ist für viele junge Menschen in weite Ferne gerückt. 

Der Kuhhandel zwischen Konsum und Sicherheit ist nicht nur symptomatisch für die sozioökonomischen Verschiebungen, sondern auch für den Umgang mit der Erdsystemkrise, in der kurzfristige Profite und vermeintliche Wohlstandszuwächse durch langfristige Umweltzerstörung erkauft werden. Kinder und Jugendliche tragen dabei die Hauptlast. Sie wachsen nicht mehr im Klima ihrer Eltern oder Großeltern auf, sondern werden im Laufe ihres Lebens mit heftigeren und häufigeren Extremwetterereignissen sowie schleichenden Veränderungen wie dem Anstieg des Meeresspiegels umgehen müssen.

Babys, die dieses Jahr in Deutschland zur Welt kommen, haben laut Studien zur allgemeinen Lebenserwartung gute Chancen, das Ende des 21. Jahrhunderts zu erleben. Die Erde könnte bis dahin allerdings völlig anders aussehen: weniger Arten, weniger landwirtschaftlich nutz­bare Flächen, weniger Sicherheit.


Das schlechteste Blatt

Der Klimawandel und andere menschengemachte Umweltprobleme können sich dabei gegenseitig verstärken. Der Kollaps der Artenvielfalt durch Faktoren wie Landnutzungsänderungen, Pestizideinsatz oder Plastikverschmutzung bedeutet nicht nur den Verlust von Naturwundern dieser Welt. Wirtschaftliche Einbußen durch reduzierte Ökosystemdienstleistungen und verlorene Entwicklungschancen etwa in der Biotechnologie sind die Folge. So erbringt eine intakte Umwelt konkreten Nutzen für Menschen, zum Beispiel wenn Seegras, Mangroven und Korallen Küsten vor Sturmschäden schützen oder Bienenvölker Pflanzen bestäuben. Ihre Zerstörung zieht nicht zuletzt vielschichtige Wirtschaftsschäden nach sich. 

Der Verlauf der globalen Treibhaus­gasemissionskurve wird darüber entscheiden, ob das Amazonasgebiet ein Regenwald bleibt und Landschaften um den Äquator weiterhin als Lebensraum für den Menschen erhalten werden. Die Stabilität der großen Eisschilde, der Golfstrom, unsere Küsten – alles steht auf dem Spiel. Es ist ein gefährliches Spiel, in dem Kinder das schlechteste Blatt haben.

Bereits heute treten Klimafolgen auf, die für Kinder und Jugendliche andere Konsequenzen als für Erwachsene haben. Beispielsweise die zerstörerischen Stark­niederschläge in Deutschland – oder die noch weitaus verheerenderen Flutschäden in Rio Grande do Sul in Brasilien: Nach den Überflutungen im südbrasilianischen Bundesstaat im April und Mai 2024 mussten über 10 000 Kinder in Notunterkünften ausharren, teils mit ihren Familien, aber teils auch von ihren Eltern durch die chaotischen Umstände getrennt. Dies war eine zusätzliche Belastung für die betroffenen Familien. Ihre Zusammenführung bedeutete große organisatorische Herausforderungen. Gerade jüngere Kinder führen oft keine Personaldokumente mit sich und können möglicherweise auch keine ausreichenden Angaben zu ihrer Person und ihrem Wohnsitz machen, was die Identifikation ihrer Angehörigen erschwert. 

Ein weiteres Beispiel ist die Schneise der Zerstörung infolge des tropischen Wirbelsturms Beryl. Im Juni und Juli dieses Jahres traf er auf die Karibik sowie Teile Lateinamerikas und der USA. Erstmalig seit Beginn der Aufzeichnungen im Atlantischen Ozean formierte sich so früh im Jahr ein tropischer Wirbelsturm der Kategorie 5. In der Karibik waren drei Millionen Kinder den Sturmrisiken ausgesetzt. Die teils von Armut gezeichnete Region ist von der Hurrikansaison geprägt. Im Schnitt ist jährlich etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche von Naturkatas­trophen betroffen, die aufgrund steigender Meeresoberflächentemperaturen zunehmen können. 


Ausbeutung statt Ausbildung

Zerstörte Infrastruktur lässt nicht zuletzt Staatsschulden wachsen, die wiederum schließlich von den Jüngeren beglichen werden müssen. Viele Länder mit besonders hoher Vulnerabilität gegenüber Klimafolgen haben eine überdurchschnittlich junge Bevölkerung. So beträgt der Altersdurchschnitt in Subsahara-Afrika etwa 19 Jahre, während er in der EU bei knapp 45 Jahren liegt. Zerstören Extremwetterereignisse Schulen oder Kindergärten oder führen gar zur Vertreibung, kann dies für Kinder bedeuten, dass ihre Bildung unterbrochen wird. 

Schätzungen von UNICEF zufolge gab es zwischen 2016 und 2021 mehr als 
43 Millionen Binnenvertreibungen von Kindern durch wetterbedingte Katastrophen. Nicht alle diese Vertreibungen sind auf den Klimawandel zurückzuführen, da Extremwetter auch im Rahmen natürlicher Schwankungen auftreten kann. Aber die Häufigkeit und Intensität der Schadens­ereignisse nehmen zu; immer mehr Menschen leben in exponierten Gebieten. Ohne rapide Emissionssenkungen und höhere Ausgaben für Anpassungsmaßnahmen ist die katastrophenbedingte Vertreibung der nächsten Generation unabwendbar. 

Ohne rapide Emissions­senkungen und höhere Ausgaben für Anpassungsmaßnahmen ist die katas­trophenbedingte Vertreibung der nächsten Generation unabwendbar

Während größerer Naturkatastrophen kann auch die Gefahr der Ausbeutung durch kriminelle Gruppen wachsen, die sich die Überforderung staatlicher Stellen für den Menschenhandel zunutze machen. Zwar ist die Organisierte Kriminalität potenziell auch selbst in ihren Aktivitäten durch die Extremereignisse gestört, aller­dings können diese sich häufig schnell anpassen. Das entstehende Machtvakuum bietet einen fruchtbaren Boden und die Zielgruppe ihrer Opfer – Menschen in verzweifelter Lebenssituation – wächst. 

Kinder aus sehr armen Familien oder solche, die ihre Eltern durch die Katas­trophe verloren haben, befinden sich in sehr vulnerabler Position und rücken so ins Visier der Täter. Zwar ist die Datenlage zu den Verbrechen oft schlecht und die Dunkelziffer hoch, doch es werden immer wieder entsprechende Fälle dokumentiert, zum Beispiel im Nachgang des schweren Erdbebens in Nepal 2015. Dort wurden verzweifelten Eltern ihre Kinder von Menschenhändlern unter dem falschen Versprechen weggenommen, ihre Söhne und Töchter erhielten eine Ausbildung.

Auch langfristig können Naturkatastrophen wie tropische Wirbelstürme die Entwicklungschancen von Kindern negativ beeinflussen. Denn auch nachdem die schlimmsten Schäden beseitigt worden sind, geht für viele der Überlebenskampf weiter. Oftmals sinken langfristig die Haushaltseinkommen vieler Familien und Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Nahrungsmittel werden reduziert. Eine Studie kalifornischer Wissenschaftler über die Folgen von tropischen Wirbelstürmen in den Philippinen zeigt, dass unter Kleinkindern die Sterblichkeit auch mehrere Jahre nach den Zyklonen erhöht bleibt und dass dieser Effekt allein durch die Sterblichkeit von Mädchen angetrieben wird. Die Forschenden gehen davon aus, dass dies ein Resultat der Aufteilung finanzieller Ressourcen durch die armutsbetroffenen Familien ist, welche die Ausgaben für die Ernährung und Gesundheit von Mädchen reduzieren.

Klimafolgen können Ungleichheiten zwischen verschiedenen Einkommensgruppen, aber auch zwischen den ­Geschlechtern verstärken und Missstände manifestieren. Unter dem Druck der Zerstörung kehren alte Probleme schnell zurück; Entwicklungsfortschritte stagnieren oder kehren sich um.


Ungesundes Klima

Zu den Gesundheitsfolgen des Klimawandels gehören erhöhte Risiken sowohl durch übertragbare als auch nicht übertragbare Krankheiten. Durchfallerkrankungen können sich mit verschmutztem Wasser übertragen und infolge von Überschwemmungen und Dürren verbreiten. In Entwicklungsländern werden sie zum tödlichen Risiko für Kleinkinder.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Yale University fanden heraus, dass Langzeitdürren über einen Zeitraum von zwei Jahren die Inzidenz von Durchfallerkrankungen bei unter Fünfjährigen in trockenen Regionen signifikant erhöhen. Kürzere, mehrmonatige Dürren lassen in tropischen und moderaten Klimazonen ebenfalls die Inzidenzen steigen, was auf unterschiedliche Anpassungskapazitäten hinweist. Insbesondere Kinder, die wenig Zugang zu Seife hatten oder deren Familien lange Strecken zur nächsten Wasserquelle zurücklegen mussten, waren höheren Risiken ausgesetzt. 

Schwere Durchfallerkrankungen können die Entwicklung von Kindern, die die Erkrankung überleben, langfristig beeinträchtigen. Es können beispielsweise

Klimafolgen können ­Ungleichheiten zwischen ­Einkommensgruppen und Geschlechtern verstärken

Wachstumsstörungen auftreten und auch die Anfälligkeit für chronische ­Erkrankungen steigt. Kinder, die im Alter von unter zwei Jahren an Durchfallerkrankungen leiden und in großer Armut aufwachsen, können im Alter von sieben bis neun Jahren eine messbare kognitive Unterentwicklung mit einer Verringerung um durchschnittlich zehn IQ-Punkte aufweisen. Zudem sind sie dann im Schnitt acht Zentimeter kleiner als ihre nicht erkrankten Altersgenossen. 

Damit ist der Lebensweg vieler Kinder bereits in jungen Jahren vorbelastet. Umso schockierender sind die Ergebnisse von Erhebungen, die offenlegen, dass in Niger die Inzidenzrate von Durchfallerkrankungen bei Kindern unter fünf Jahren bei über 36 Prozent lag, gefolgt von Bolivien, wo circa ein Viertel aller Kinder in dem Erhebungszeitraum erkrankt war. Häufigere und intensivere Dürreperioden durch die Klimakrise werden die Anforderungen an Prävention und Behandlung von Durch­fallerkrankungen wachsen lassen.

Neben epidemiologischen Veränderungen verursacht der Klimawandel auch über Ernteausfälle Gesundheitsrisiken. Diese können Unter- und Mangelernährung zur Folge haben, wenn nicht über andere Wege Zugang zu Nahrungsmitteln geschaffen wird. Unterernährung in der Kindheit führt zu einer Reihe von Gesundheitsbeeinträchtigungen und korreliert zudem mit geringerer ökonomischer Produktivität im Erwachsenenalter. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Mädchen, die unterernährt waren, später im Erwachsenenalter größere Risiken haben, wiederum untergewichtige Kinder zur Welt zu bringen, was auf eine intergenerationelle Weitergabe von Risiken hinweist.

Die Auswirkungen von Klimafolgen auf die menschliche Ernährung sind vielschichtig und entfalten sich zuweilen in indirekten Zusammenhängen. So bedeuten häufigere Überschwemmungen durch den Meeresspiegelanstieg versalzene Böden, die weniger geeignet für die Landwirtschaft sind. Wärmere und durch Kohlenstoffdioxid versauerte Meere führen zu Korallensterben und tragen zu abnehmenden Fischbeständen bei, die eine wichtige Proteinquelle sind.

Allein die Befassung 
mit der Klimakrise kann ­bereits zur psychischen ­Belastung werden, ins­besondere für Jugendliche

In vielen pazifischen Kleininselstaaten begünstigen diese Entwicklungen die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten. Diese setzen sich in entlegenen Gegenden vorwiegend aus stark verarbeiteten Lebensmitteln zusammen, die eine lange Haltbarkeit aufweisen. Die darauf basierende Ernährung kann zu Übergewicht mit gleichzeitigen Mangelerscheinungen bei Kindern und Jugendlichen führen, die im Laufe ihres Lebens weitere Erkrankungen wie etwa Diabetes Typ 2 begünstigt. Pazifische Inselstaaten zählen zu den Ländern mit den höchsten Raten an schwer übergewichtigen Kindern. 


Mentale Folgen

Neben den physischen Risiken durch den Klimawandel sind auch die psychischen Auswirkungen nicht zu vernachlässigen. Im Ahrtal übersteigt noch heute die Nachfrage an Therapieplätzen für unter 18-Jährige vielerorts das Angebot. Um die Traumata zu verarbeiten, braucht es professionelle Unterstützung. In vielen Ländern gibt es jedoch nach Naturkatastrophen keinerlei psychosoziale Hilfe und das Erlebte begleitet Betroffene manchmal ein Leben lang. Die Folgen im gesellschaftlichen Geflecht sind zudem oft indirekt und wirken lange nach. Daher kann durch die hohen Belastungen auch ehrenamtliches Engagement zurückgehen, sodass soziale Strukturen insbesondere in Programmen für Kinder und Jugendliche geschwächt werden.

Aber auch allein die Befassung mit der Klimakrise kann bereits zur psychischen Belastung werden, insbesondere für Jugendliche. Begründete Ängste und Zukunftssorgen können sich zu Angststörungen und lähmenden Depressionen ausprägen. Ebenso kann das Wissen, durch den eigenen Lebensstil zur Verschlechterung der Situation beizutragen und gleichzeitig scheinbar wenig Handlungsspielräume zur Veränderung zu haben, Gefühle geringer Selbstwirksamkeit auslösen.


Die schwere Last des CO2-Erbes 

Während die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen in Entwicklungsländern massiv beschnitten werden, treten junge Menschen in Industriestaaten das CO2-Erbe ihrer Vorfahren an. Zwar ist das Verursacherprinzip der Ursachen- und Wirkungsverteilung nur schwach im internationalen Recht verankert. Doch die aktuellen Debatten um den Fonds für Verluste und Schäden lassen erkennen, dass Forderungen nach Verantwortungsübernahme lauter werden – nicht nur im Kontext der Klimarahmenkonvention. Auch andere Politikfelder werden betroffen sein. Schwerwiegendere Klimafolgen könnten auch Deutschlands Beziehungen zu Entwicklungsländern stärker belasten. Schließlich ist die Bundesrepublik der größte Emittent Europas. 

Auch der Klimaschutz kann zu einer Last für jüngere Generationen werden, denn je länger Maßnahmen zur Emissions­minderung hinausgezögert werden, desto höher werden die Transformationsansprüche und desto tiefgehender die Einschnitte für jüngere Generationen, um das begrenzte Emissionsbudget noch zu wahren. 

Der nun spürbare Trans­­formationsdruck ist auch ­Resultat von drei Jahrzehnten 
zögerlicher Klimapolitik

Diesem Umstand trägt auch der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 Rechnung, wonach das damals geltende Klimaschutzgesetz nicht ausreichend war, um die intertemporalen Freiheitsrechte zu wahren. Alles begann mit der Zuschrift einer elfjährigen Schülerin, die die Deutsche Umwelthilfe um Unterstützung bat, die Bundesregierung wegen ihrer Untätigkeit beim Klimaschutz zu verklagen. Die deutsche Nichtregierungs­organisation willigte ein und zog mit einer Gruppe von Kindern und Erwachsenen sowie Betroffenen aus Südasien vor Gericht. 

Schließlich stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Pläne der Bundesregierung zu hohe Anforderungen an die Treibhausgasminderung nach 2030 angelegt hatten – zugunsten weniger ambitionierter Maßnahmen in den kommenden Jahren. Somit wären die Grundrechte der Jüngeren implizit eingeschränkt worden, da diese später radikal Emissionen senken müssten. Diese raschen Veränderungen könnten dann praktisch alle Lebensbereiche betreffen.

Die damalige Bundesregierung musste nachbessern und legte Sektorenziele fest, die aber vor allem im Verkehrs- und auch im Gebäudesektor bis heute nicht eingehalten werden – bislang weitgehend ohne Konsequenzen. Und das, obwohl der Expertenrat für Klimafragen – ein zur Evaluierung der Fortschritte bei der Erreichung der Klimaziele eingerichtetes Gremium – die Erfüllung des Emissionsreduktionziels bis 2030 bisher nicht bestätigen konnte.

Die Ampelkoalition entschied sich in einer weiteren Reform des Klimaschutz­gesetzes für die Aufweichung der Sektorenziele. Die dadurch entstehende mögliche Lastenverteilung durch Kompensation zwischen den Sektoren ermöglicht zwar Flexibilität, verwässert aber die Verantwortung verschiedener Ministerien und könnte somit ambitionierter Zielerreichung im Wege stehen. Umweltverbände legten Verfassungsbeschwerde ein und bemängeln fehlende Ambition in der Zielsetzung und eine unzureichende Umsetzung der ohnehin unzureichenden Ziele. 

Der nun spürbare Transformationsdruck ist auch Resultat von drei Jahrzehnten zögerlicher Klimapolitik. Die Wiederholung dieses Fehlers könnte nicht nur die nächsten ein oder zwei Generationen in Mitleidenschaft ziehen, sondern die Erde für Tausende von Jahren verändern. Grund dafür sind mögliche irreversible Kippkaskaden im Erdsystem: Das Abschmelzen des arktischen Meereises und des grönländischen Eisschilds kann Folgen für die Zirkulation im Atlantik haben. Ebenso gibt es Verbindungen zwischen der Stabilität des Tibetischen Plateaus, das mit seinen Schnee- und Eismassen eine wichtige Quelle für die Süßwasserversorgung einer ganzen Region ist, und dem Amazonasgebiet, das durch Brände und Abholzung bereits massiv an Baumbestand verloren hat. 

Wie dramatisch und langfristig die menschengemachten Veränderungen wirken könnten, zeigt sich am Beispiel des Meeresspiegelanstiegs. Würden alle bekannten Ressourcen fossiler Energieträger verbrannt werden, was noch in diesem Jahrhundert vorstellbar wäre, würden große Eisschilde abschmelzen und der Meeresspiegel noch über mehrere tausend Jahre hinweg ansteigen. Während der Anstieg in den ersten tausend Jahren etwa drei Meter pro Jahrhundert betragen würde, könnte sich über mehrere tausend Jahre ein Meeresspiegelanstieg von insgesamt etwa 60 Metern einstellen. Somit entscheiden die heute lebenden Genera­tionen über den Entwicklungskorridor der menschlichen Zivilisation in absehbarer Zukunft.


Empowerment mit Beigeschmack

Kinder und Jugendliche konnten sich durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2021 vergewissern, dass sie nicht nur Opfer in der Klimakrise sind, sondern auch Akteure. Jugendliche klagen immer wieder ihre Rechte vor Gerichten ein und kämpfen Seite an Seite mit Älteren für den Erhalt des Naturerbes. Die von Schulmädchen gegründete Jugendbewegung Fridays for Future mobilisierte die Massen und ebnete den Weg für mehr Klimaschutzambitionen. Die Omas for Future protestierten mit den Jüngeren zusammen, und die Schweizer Klimaseniorinnen gewannen im April 2024 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 

Kinder und Jugendliche konnten sich durch den ­Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2021 vergewissern, dass sie nicht nur Opfer in der Klimakrise sind, sondern auch Akteure

Eigentlich eine wunderbare Entwicklung des Empowerments im Rechtsstaat und der Heilung von Brüchen im Generationenvertrag – wäre da nicht ein fader Beigeschmack: Es musste erst so weit kommen, dass die Menschen- und Freiheitsrechte von Kindern und alten Damen so massiv beschnitten wurden, dass sie sich in der Pflicht sahen, gegen die unzureichende Regierungspolitik zu klagen.

Zweifellos muss eine vorausschauende Außenpolitik künftig stärker die Interessen der kommenden Generationen miteinbeziehen. Seit Jahren setzen sich etwa verschiedene Kinderrechtsorganisationen für die Inklusion von Kinder- und Jugendvertretungen bei internationalen Klimaschutzverhandlungen ein. Erste Erfolge sind sichtbar: Inzwischen gibt es Jugenddelegierte und hochrangige Treffen mit Jugendorganisationen. Zudem wurden Thementage für „junge und zukünftige Generationen“ sowie Veranstaltungen initiiert, auf denen über die Folgen des Klimawandels für Kinder diskutiert wurde.

Auch wenn der Pfad der Zerstörung in eine andere Richtung weist, steht der Weg in eine bessere Zukunft für die nächste Generation immer noch offen. Ihn zu gehen, würde bedeuten, all das zu schützen, was nach Jahrzehnten des Raubbaus noch geblieben ist, und mit technologischen Innovationen sowie naturbasierten Lösungen neue Möglichkeitsräume zu erschaffen. Auch wenn sich die Machtverhältnisse heute nicht zugunsten von jungen Menschen ausprägen – sie werden schließlich das Urteil über die folgenschweren Entscheidungen der Gegenwart sprechen.     

Bibliografische Angaben

Internationale Politik  Special 6, November/Dezember 2024, S. 4-11

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Mehr von den Autoren

Dr. Kira Vinke leitet das Zentrum für Klima und Außenpolitik der 
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).