Buchkritik

01. Mai 2013

Blackbox Ausland

„Dauernd was los da draußen“: Von den blinden Flecken der Berichterstattung

Korrespondenten, die im Schnitt für 33 Länder zuständig sind, Journalisten, die über sämtliche 48 Länder südlich der Sahara berichten, dazu starre Themenvorgaben aus der Zentrale: Wie steht es um die Qualität der Auslandsberichterstattung und um den „Versuch, nicht weiß zu schreiben“? Zwei Neuerscheinungen zeichnen ein eher düsteres Bild.

„Wenn Journalisten für die Grenzen ihrer Erkenntnis keine Antennen haben“, schreibt Charlotte Wiedemann, dann „hat das Folgen: für die Qualität der Medien und für die gesellschaftliche Kommunikation, zumal mit dem sogenannten ‚Fremden‘.“ 

Es ist die – oft mangelnde – Qualität der Auslandsberichterstattung, die Wiedemann, selbst freie Korrespondentin, umtreibt. In ihrem Buch „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben“ hinterfragt sie das gängige Selbstbild des Auslandskorrespondenten und die Erwartungsstruktur, innerhalb derer er sich bewegt. Dabei geht es auch – wenngleich nicht nur – um eine Schelte des Eurozentrismus: „Viele haben einen Rationalismus der kleinen Münze gepachtet. Die Frage, wie das entsteht, was sie ‚Realität‘ nennen, ficht sie nicht an. Dabei ist das, was wir als ‚real‘ bezeichnen, eine symbolische Ordnung, die von unserem kulturellen Kontext und unseren Traditionen geprägt ist.“ 

Anstatt sich nun jedoch in einem Wittgensteinschen „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ zu verheddern, lässt die Autorin der Selbsterkenntnis sogleich ein Plädoyer für mehr journalistische Neugierde folgen. Das könne damit beginnen, die Perspektive zu weiten. So ­erkenntnisfördernd es sein möge, in Teheraner Cafés Angehörige der kritischen Mittelschicht oder Vertreter der Facebook-Generation zu treffen – der Preis für die angeblich „authentische Momentaufnahme“ ist hoch: „Die Anhänger des Regimes erscheinen uns dagegen nur als gesichtslose Masse; Millionen Menschen gleichen einem fanatisierten Klumpen, der nur in offiziellen Parolen spricht. Wären wir Journalisten ehrlich, dann müssten wir zu Beginn eines jeden Beitrags sagen, dass wir nur über einen Ausschnitt Irans urteilen können.“ 

Eine notwendige Mahnung, die umso überzeugender daherkommt, als sie nicht mit den reflexhaften Forderungen nach „mehr Dialog und gegenseitigem Verständnis“ garniert wird. Spätestens nach der Begegnung mit Folteropfern fragt sich die Autorin: „Hatten nicht doch jene recht, die Iran immer nur in den schwärzesten Farben gemalt hatten?“

Immer die gleichen Bilder

Nun ist der Auslandsjournalismus nicht dazu gedacht, uns Daheimgebliebene permanent mit den Reflexionen des Berichterstatters zu konfrontieren. Doch auch das vermeintlich objektive „Fakten, Fakten, Fakten!“ ist vor der Selbstreferenzialität nicht gefeit – etwa wenn zu Afrika („plötzliche Hungersnot“) oder zu Pakistan („Die Wut der Straße“) immer wieder die gleichen (Sprach-)Bilder auftauchen, nach denen unsere eigene hysterische Befindlichkeit verlangt.

Gerade wenn realistischerweise in Rechnung gestellt werden muss, dass der Leser, Zuschauer oder Hörer von Auslandsreportagen zuerst einmal ­Medienkonsument ist und sich weniger um die Seelenlage der „Anderen“ als um die daraus resultierenden Folgen für „uns“ bekümmert, darf vom journalistischen Produkt eine gewisse Professionalität verlangt werden. 

An dieser Stelle wartet Wiedemann mit Zahlen und Statistiken auf, die vor allem den beunruhigen müssen, der die europäische Auslandsberichterstattung gern mit der qualitativ weniger überzeugenden Nachrichtenvermittlung in den vermeintlich nur innenpolitisch interessierten USA vergleicht. Längst dünnen auch „unsere“ Medien ihr Korrespondentennetz aus – jüngstes Beispiel ist die Schließung des WDR-Hörfunkbüros in Amman. 

„Von einem Korrespondenten-‚Netz‘“, so Wiedemann, „kann deshalb längst keine Rede mehr sein: Ein Berichterstatter ist im Durchschnitt für 33 Länder zuständig, viele Kollegen berichten gar über alle 48 Länder südlich der Sahara.“ Da es überdies oft kostengünstiger ist, kurzzeitig Journalisten zur „Brennpunktberichterstattung“ einzufliegen anstatt einen „altmodischen Korrespondenten“ vor Ort und womöglich sogar mit Familie zu bezahlen, bekommt die Nachrichtenvermittlung etwas Kurzatmiges, und bei ihren Empfängern setzt sich ein fatalistischer Eindruck fest, der sich in Stammtischsprache vielleicht so übersetzen ließe: Dauernd was los da draußen, da kannste nüscht machen. 

Die langwierige Genese der meisten Konflikte wird ausgeblendet; ohnehin wäre der jeweilige „Authentizitätsdarsteller“ (Wiedemann) mit derlei hoffnungslos überfordert. So lesenswert und perspektivweitend „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben“ jedoch auch ist: Es wäre der Fairness halber gewiss eine Erwähnung wert gewesen, dass sich die Auslandsreportagen etwa der Neuen Zürcher Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen durchaus noch immer auf einem qualitativ hohen Niveau bewegen – und das nicht nur in Bezug auf die gängigen Hot Spots der Welt. 

Auch wäre eventuell von Interesse gewesen zu erfahren, wie und ob spezielle Printmedien wie die eher „linke“ Le Monde Diplomatique oder die eher „rechte“ National Interest einheimische Parlamentarier beeinflussen, sie zu Anfragen und Ausschusssitzungen bewegen oder gar als Analysegrundlage für Regierungsentscheidungen dienen. 

Überdruss an der Dauerkrise

Auch Experten-Blogs werden sicherlich in Zukunft eine größere Rolle spielen – glücklicherweise, möchte man sagen. Denn kritische Expertise tut not, wie der in Salzburg lehrende Kommunikationswissenschaftler Martin Sturmer in „Afrika! Plädoyer für eine differenzierte Berichterstattung“ zeigt. Noch werde vor allem außen­politisch dilettierenden Show-Prominenten eine Aufmerksamkeit zuteil, die in keinem Verhältnis zur Substanz ihrer Aussagen stünde. Sturmer porträtiert Musiker wie etwa Bono als fragwür­dige Popularisierer des amerikanischen Starökonomen Jeffrey D. Sachs, der zur Behebung der Armut einfach noch mehr Entwicklungsgelder fordert. 

Durch die ohnehin nach plakativen Zitaten gierenden Mainstream-Medien würden dann solche Verein­fachungen unters (westliche) Volk gebracht – mit dem Ergebnis, dass der hiesige Überdruss am vermeintlichen Dauerkrisenkontinent noch wachse. Weit entfernt, die afrikanische Ma­laise, den Mangel an funktionierender Staatlichkeit und das Übermaß Clan-bestimmter Korruption zu verharm­losen, zeigt Sturmer anhand von Statistiken, dass einige Länder des Kontinents ein durchaus beachtliches Wirtschaftswachstum verzeichnen. In Kenia boomt der Tourismus auch nach den blutigen Unruhen um die Wahlen von 2008. 

Allerdings, so der Autor sarkastisch, sei dies für unseren Nachrichtenmarkt wohl weniger von Interesse als der x-te Bericht über ein von einer NGO unterhaltenes Flüchtlingslager, in dem sich angesichts des präsentierten Elends dann jede kritische Nachfrage nach Sinn, Nachhaltigkeit und Effizienz von Entwicklungshilfe verbiete. 

Ähnlich wie Charlotte Wiedemann mahnt Sturmer einen Perspektivwechsel an, sieht dafür aber bei den großen Fernsehstationen und in den auf Agenturberichte zurückgreifenden Zeitungshäusern kaum Chancen – schon gar nicht in den jetzigen Krisenzeiten, in denen nur die dramatischste Story eine Chance habe, die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten. Interessanterweise stellt Sturmer am ehesten beim arabischen Fernsehsender Al-Dschasira ein Umdenken fest, ist doch die Berichterstattung durch lokale Korrespondenten in Abidjan, Harare, Johannesburg, Kairo oder Nairobi dort längst Teil der Sendekultur. 

Das Plus einer tatsächlichen „Vor-Ort-Erfahrung“ wird freilich relativiert durch die strukturelle Abhängigkeit, denen diese Journalisten, die im Konfliktfall eben kein westlicher Reisepass schützt, in ihren Ländern ausgesetzt sind. Merke: Derjenige, der mehr weiß, ist nicht unbedingt jener, der es wagen darf, dies dann auch vor der Kamera zu sagen. 

Am flexibelsten (und geschütztesten) sind nach dieser Lesart jene Journalisten, die zwar im Westen geboren sind, jedoch „ausländische Wurzeln“ haben. So berichtet Karim El-Gawhary seit zwei Jahrzehnten aus Kairo für diverse deutschsprachige Medien. Sein finanziell fragiles Redaktions-Hopping endete erst, als mit dem Ausbruch der „Arabellion“ der Medien-Hype begann und händeringend nach journalistischen Experten gesucht wurde, die sowohl über den westlichen als auch über den „fremden“ Blick verfügen. 

Geschenkt, dass auch in dieser ­Zuordnung wieder der Teufel der Kulturdominanz und Themenreduktion lauert. Ohnehin ist der weithin anerkannte El-Gawhary eine Ausnahme, sodass in den meisten Fällen eher gilt: „Auslandsjournalisten, die im Geschäft bleiben wollen, müssen ihre Themenvorschläge an die Vorlieben der Redaktionen anpassen.“ 

Diese wiederum nehmen ihre Ideen hauptsächlich aus den Kurzmeldungen weltweit dominierender Agenturen wie AFP oder Reuters. Was dort nicht vorkommt, wird von den Hauptredaktionen in der Regel nicht wahrgenommen. Ob Alternativ-agenturen wie der im Schlusskapitel des Buches detailliert vorgestellte Inter Press Service (IPS) das gängige Afrika-Bild verändern können, sei dahingestellt. Jedenfalls ist es erhellend, einmal jenseits von Polemik und Selbstkasteiung zu erfahren, wie wir überhaupt zu dem Bild kommen, das wir uns von der Welt machen. 

Denn was oft als ignorante Verkürzung erscheint, hat in den meisten Fällen rein pragmatische Gründe, die mitunter von unglaublicher Banalität sind. So wird der Außenpolitikredakteur der Salzburger Nachrichten mit einer Erklärung dafür zitiert, weshalb in der Berichterstattung vor allem die Demokratische Republik Kongo als „typisches Afrika-Land“ gelte: „Bei unbekannteren Ländern hat man oft mit redaktionellen Einschränkungen zu kämpfen. Im Fall von Äquatorialguinea zum Beispiel wissen viele Leser nicht, wo das Land liegt. Wir müssten in diesem Fall eine Karte und eine Factbox hinzufügen – aber da fehlt es oft einfach an redaktionellem Platz.“ Eine Ausnahme ist allenfalls das Sommerloch, wenn die innenpolitische Nachrichtenlage „schwächer“ sei, sodass dann auch andere Themen ihre Chance bekämen. 

Diese Erdung am Schluss hat bei aller Desillusionierung auch etwas Sympathisches – weit entfernt davon, entlastend zu sein, heilt sie doch zumindest von der Hybris, man müsse nur „richtig hinschauen“ und alle weltweiten Probleme seien erkannt. 

Das Übrige leistet jene Literatur, die hier nicht rezensiert wurde – weil sie bereits älteren Datums ist und dazu unter dem Label „Roman“ firmiert. Doch wo ließe sich die partielle Absurdität des unverstandenen und deshalb immer auch ein wenig hochstapelnden Auslandskorrespondenten besser verstehen als bei der Lektüre von Evelyn Waughs bereits 1938 erschienener Roman-Satire „Der Knüller“, die zur Zeit des Abessinien-Kriegs spielt? 

Wo erfährt man Präziseres über das Spannungsfeld zwischen Hamburger Auslandsredaktionen und PLO-Aktionen als in Nicolas Borns Meisterwerk „Die Fälschung“, und wer hätte ausführlicher über Faktentreue versus Fiktion reflektiert als der Krisenreporter und Romancier Hans Christoph Buch? Wenig Neues also unter der Sonne; und umso notwendiger, sich immer wieder die Bedingungen und Beschränkungen des eigenen Blicks auf die Welt deutlich zu machen.

Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt. Köln: PapyRossa Verlag 2012, 186 Seiten, 12,90 €.

Martin Sturmer: Afrika! Plädoyer für eine differenzierte Berichterstattung. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2013, 192 Seiten, 29,00 €.

Marko Martin lebt als freier Schriftsteller und Publizist in Berlin, wenn er nicht auf Reisen ist. Zuletzt erschien „Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt“ (Wehrhahn 2013).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2013, S. 130-133

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