Bits und Bytes statt Qualm und Rauch
Auch dank EU-Fördermitteln ist das Ruhrgebiet auf dem besten Wege, sich von einer Kohleregion zum Hightech-Hotspot zu entwickeln. Dieser Strukturwandel könnte für andere EU-Regionen zum Vorbild werden.
Wer mit der Straßenbahn in den Essener Norden Richtung Katernberg fährt, sieht überall die Spuren der Vergangenheit: Zwischen den Häusern ragen stillgelegte Zechentürme wie überdimensioniertes Playmobil-Spielzeug hervor. Dunkelrote Backsteingebäude erinnern an all die Grubenarbeiter, die dort über ein Jahrhundert lang malochten. Auf den ersten Blick wirkt vieles davon wie Relikte aus der Vergangenheit – übrig geblieben aus einer Zeit, als Stahlwerke und Kohlegruben der Region zu rauchigem Ruhm verhalfen.
Wer genauer hinschaut, merkt allerdings schnell: Gestern und morgen liegen im heutigen Ruhrgebiet oft nah beieinander. Sebastian Kowitz zum Beispiel hat in einer alten Zeche das Hightech-Start-up Talpasolutions gegründet. Das historische Gebäude ist innen modern ausgebaut; die Büros des 40-köpfigen Teams sind lichtdurchflutet. In einem der Räume hebt Kowitz einen detailliert gestalteten Modellbagger auf den Tisch. „Das sind die Maschinen, mit denen wir arbeiten“, sagt er. Das junge Unternehmen ist im Bergbau tätig, einer klassischen Branche der Region – allerdings auf ganz neue Weise.
Bei Talpasolutions können Unternehmen ihre Maschinen auf innovative Art warten lassen. Das heißt konkret: Der Bagger, den Kowitz gerade als Modell auf den Tisch gestellt hat, steht in Wirklichkeit mit 600 Tonnen Gesamtgewicht in Südafrika. Und obwohl das 13 000 Kilometer weit weg ist, kann Kowitz genau nachvollziehen, ob der Bagger derzeit gut funktioniert oder nicht. Die Maschine verfügt nämlich über zahlreiche Sensoren, die Daten in Echtzeit nach Essen übertragen. Kowitz öffnet eine Software an seinem Laptop und zeigt auf ein 3D-Modell des Baggers. „Hier sehe ich jetzt zum Beispiel, dass der Motor bald überhitzt“, sagt er. Der Betreiber der Maschine kann diese Information ebenfalls einsehen und so eingreifen, bevor der Bagger ausfällt.
Industrieparks, Radwege, Jobs
Bits und Bytes statt Qualm und Rauch: Das ist eine Vision, die das Ruhrgebiet schon länger antreibt. Eine wichtige Rolle spielen dabei EU-Fördergelder, die den Strukturwandel unterstützen. Zwischen 2007 und Ende 2016 hat Brüssel die Region mit mehr als einer Milliarde Euro bedacht – und das ist nur die Summe aus den wichtigsten Fördertöpfen. Ob neue Industrieparks, Radwege oder Projekte, die Langzeitarbeitslose bei der Jobsuche unterstützen – all das wird mit Mitteln der EU gefördert.
Dennoch haben viele Orte der Region mit Abwanderung zu kämpfen. Und auch die Arbeitslosigkeit liegt vielerorts über dem Bundesdurchschnitt. „Wenn man sich aber anschaut, wie viele Arbeitsplätze zuletzt neu entstanden sind, dann liegen wir beim Beschäftigungswachstum über dem Bundesdurchschnitt“, sagt Andrea Höber vom Regionalverband Ruhr (RVR), in dem sich die elf kreisfreien Städte und vier Kreise der Region zusammengeschlossen haben. Soll heißen: Vor Ort tut sich etwas.
Das Gros der EU-Förderung für das Ruhrgebiet lässt sich nach Angaben des Regionalverbands drei Säulen zuordnen. Die Programme EFRE (Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung) und ESF (Europäischer Sozialfonds) dienen dem Strukturwandel. Das Programm Horizont 2020 soll die Forschung stärken. Dazu kommt noch etwas Geld aus anderen Töpfen, etwa den Interreg-Programmen, mit denen die EU länderübergreifende Kooperationen fördert. Oder dem Programm Ländlicher Raum ELER, von dem das dicht besiedelte Ruhrgebiet aber eher am Rande profitiert. Karina Kleinowski, die beim Regionalverband Ruhr die Auswertung der EU-Förderung koordiniert, beschreibt die übergeordneten Ziele der Förderung so: „Innovationen fördern, Arbeitskräfte qualifizieren, soziale Ungleichheit mindern und insgesamt die wirtschaftliche Entwicklung stärken“.
Wie genau das Geld aus den EU-Töpfen vor Ort ausgegeben wird, entscheiden der Bund und das Land NRW. Die 53 Kommunen im Ruhrgebiet können aber vorab Ideen einbringen, wie genau die europäischen Programme ausgestaltet werden sollen. Dabei sei die Abstimmung zwischen den Städten in der Region mittlerweile deutlich besser, erzählt Kleinowski. So reichten diese inzwischen immer gemeinsame Positionspapiere ein. „Das ist für die Region ein enormer Fortschritt.“
Bisher war die Nachbarschaftsliebe in der Region nämlich vielerorts begrenzt, nicht nur im Fußball. Der Grund dafür liege in der Geschichte der Region, erklärt Höber. „Die räumliche Entwicklung des Ruhrgebiets ist geprägt durch eigenständige Siedlungen, die um einzelne Zechen herum gewachsen sind.“ Das Verständnis, dass durch eine Zusammenarbeit jede Gemeinde für sich profitieren könne, sei erst neuerdings nach und nach gewachsen.
Die Stärken der Region ausbauen
Nur vereint bringen die Städte in der Region das Gewicht mit, um als wirtschaftlicher Standort relevant zu sein. Allein sind sie ein Flickenteppich, vereint ein Wirtschaftsraum mit über fünf Millionen Menschen. Im Jahr 2011 haben sich die Kommunen daher zusammengerauft und auf einen sogenannten Leitmarkt-Ansatz verständigt. Sie haben definiert, welche wirtschaftlichen Stärken der Region weiter ausgebaut werden sollten. Dazu zählen nun unter anderem die Gesundheitswirtschaft, urbane Mobilität, digitale Kommunikation und Ressourceneffizienz. Und auch als Hochschul- und Start-up-Standort will sich das Ruhrgebiet mithilfe der EU-Programme hervortun.
Diese Bemühungen zeigen Wirkung. Gründer Sebastian Kowitz von Talpasolutions hat sich mit seinem Unternehmen ganz bewusst für das Ruhrgebiet als Standort entschieden. Anders als etwa in der deutschen Gründermetropole Berlin habe er in Essen viele Industrieunternehmen und mittelständische Maschinenbauer in der Nähe, sagt Kowitz. „Das heißt, wir können viel leichter und schneller Kontakte aufbauen.“ Außerdem möge er die Mentalität der Leute: „Die Gründerszene im Ruhrgebiet ist geerdeter: Weniger hip, aber produktiv, und man bekommt ehrliches Feedback.“ Auch Kowitz hat von EU-Geldern profitiert: Im Jahr 2016 bekam seine Firma ein Stipendium vom europäischen Industriekonsortium EIT Raw Materials, das auch Mittel aus der EU-Forschungsförderung Horizont 2020 nutzt.
Überhaupt hat sich die Start-up-Szene im Ruhrgebiet zuletzt gut entwickelt. Und dort zeigt sich auch, wie es gelingen kann, die Region als Einheit zu präsentieren. Von der Gründungsmesse startupweek:Ruhr bis hin zum Gründerportal ruhrgruender.de: Selten ist unter den Jungunternehmern von einzelnen Städten die Rede.
Zu den erfolgreichen Nachwuchsfirmen vor Ort zählt neben Talpasolutions auch Zolitron. Das Bochumer Start-up hat einen neuartigen Sensor entwickelt, der etwa den Füllstand von Müllcontainern messen kann. Das hilft, die Arbeit der Stadtreinigung zu optimieren. Dafür hat Zolitron Geld vom Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) bekommen. Klaus-Heiner Röhl vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft hält solche Neugründungen für ausgesprochen wichtig: „Das ist der nachhaltigste Weg hin zu mehr Arbeitsplätzen.“
Wirtschaft und Wissen vernetzen
Eine Stärke der Region sind auch die Studienangebote vor Ort. Mit 22 Einrichtungen zähle das Ruhrgebiet inzwischen zu den dichtesten Hochschullandschaften in ganz Europa, sagt Andrea Höber vom Regionalverband der Region. Beachtlich ist das insbesondere vor dem Hintergrund, dass die erste Hochschule vor Ort, die Ruhr-Universität Bochum, erst in den 1960er Jahren gegründet wurde. Vorher sei das Ruhrgebiet sehr stark als Arbeiterregion verstanden worden, sagt Höber. „An der Gründung von Universitäten hatte man lange Zeit gar kein Interesse.“
Inzwischen ist von solchen Berührungsängsten nur noch wenig zu spüren. Die Ruhr-Universität Bochum etwa zählt mit knapp 43 000 Studierenden eigenen Angaben zufolge zu den größten Hochschulen Deutschlands. Die Universitäten in Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen haben sich zudem zur Universitätsallianz Ruhr zusammengeschlossen, um die Forschung vor Ort gemeinsam auszubauen.
Auch dabei helfen EU-Gelder. Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen bekamen mehr als 480 000 Euro für ihre Forschung zur schnellen Datenübertragung per Mobilfunk; Forscher der Universität Dortmund profitierten vom EU-Programm Horizont 2020. Sie wollten herausfinden, wie sich Methangas für die Energieversorgung nutzen lässt.
Ein klar definiertes Ziel der Region ist es zudem, Wissenschaft und Wirtschaft enger zu vernetzen – auch damit all die gut ausgebildeten Studierenden künftig häufiger in der Region bleiben. Als das ehemalige Opel-Gelände in Bochum als neuer Industriepark umgenutzt wurde, war die Ruhr-Universität Bochum dort eine der ersten Mieterinnen. Inzwischen sind auf dem Gelände namens „Mark 51/7“ auch Firmen wie DHL, die Bosch-Tochter Escrypt und der IT-Dienstleister für Raumfahrt Scysis angesiedelt. Und auch mit einem zweiten Leuchtturmprojekt kann Bochum punkten: Dort hat das Land Nordrhein-Westfalen mit Unterstützung der EU den sogenannten Gesundheitscampus aufgebaut, auf dem inzwischen zahlreiche Firmen und Forscher aus dem Gesundheitssektor zusammenarbeiten.
Allerdings: Damit junge Leute bleiben, müssen nicht nur die Karrierechancen stimmen. Auch die Lebensqualität gilt inzwischen als einer der wichtigsten Faktoren, die über den Erfolg von Regionen entscheiden. Schlechte Luft und graue Wohnblöcke – also die früheren Markenzeichen des Ruhrgebiets – sind für viele ein absolutes No-Go.
Ein großer Teil der EU-Förderung wurde daher in den vergangenen Jahren dafür eingesetzt, das Leben im Ruhrgebiet attraktiver zu machen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen, indem viele frühere Industriegebäude wie Zechen und Kokereien zu Kulturstätten umgebaut wurden. Zum anderen, indem die einst rußige Region in eine „grüne Lunge“ verwandelt wurde – auch durch neue Mobilitätsangebote.
So vermarktet sich die Gegend inzwischen als „Radrevier.Ruhr“. Zu den bekanntesten Wegen zählt der Ruhrtal-Radweg am gleichnamigen Fluss entlang – ebenfalls ein Projekt, das mit EU-Mitteln gefördert wurde. Zudem gibt es zahlreiche kleinere Routen, die über mehrere Knotenpunkte vernetzt sind. Die Arbeiten am Radschnellweg RS1 von Duisburg nach Hamm, von dem vor allem Pendler profitieren sollten, sind allerdings wegen baurechtlicher Probleme ins Stocken geraten.
Hürden der Zusammenarbeit
Vielerorts also wandelt sich das Ruhrgebiet; doch Klaus Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft warnt vor übertriebenen Erwartungen. „Bis sich die neuen Ansätze in den makroökonomischen Daten zeigen, zum Beispiel die Arbeitslosenquote dauerhaft sinkt, wird es noch Jahre dauern“, sagt er. Auch weil die EU-Förderung im Vergleich zur Unterstützung etwa von osteuropäischen Gebieten eher gering sei. „Absolut betrachtet klingen die Zahlen zwar nach viel Geld. Aber wenn man das auf gut fünf Millionen Einwohner herunterrechnet, hat das pro Kopf nur eine geringe Wirkung.“
Karina Kleinowski vom Regionalverband Ruhr hält die Unterstützung durch die EU dennoch für bedeutsam. Die Kunst sei, das Geld eben möglichst smart einzusetzen, sagt sie. „Wenn wir zum Beispiel EU-Gelder nutzen, um ehemalige, kontaminierte Industrieflächen herzurichten, können sich dort neue Unternehmen ansiedeln, sodass für die gesamte Region ein nachhaltiger Wachstumseffekt entsteht.“ Sie hofft, dass ihre Region künftig umgekehrt eine strategische Rolle für die EU einnehmen kann – etwa als Logistikzentrum. Immerhin endet in Duisburg die neue chinesische Seidenstraße; die Zahl der chinesischen Firmen in der Region wächst. „Dieses Pfund können wir ausbauen“, ergänzt Andrea Höber.
Dass das Ruhrgebiet auf einem guten Weg ist, findet auch Gründer Sebastian Kowitz. „Wir möchten die Region auf jeden Fall weiter mit voranbringen“, betont er. Sein Unternehmen plane bereits, weitere Mitarbeiter einzustellen. Doch auch wenn schon vieles gut laufe: Am Ziel sei das Ruhrgebiet nicht. So sei die Konkurrenz zwischen verschiedenen Kommunen noch immer spürbar, sagt Kowitz. „Ich würde mir zum Beispiel klar definierte Ansprechpartner wünschen und zwar auch über kommunale Grenzen hinweg.“ Suche man etwa eine Bürofläche in Gelsenkirchen, weil es in Essen keine passende gebe, fühle sich niemand dafür zuständig. Und ein weiteres Ärgernis für ihn: Die Straßenbahnen und Busse zwischen verschiedenen Städten im Ruhrgebiet seien oft nicht gut genug aufeinander abgestimmt.
Das zeigt: Aus eigenständig gewachsenen Kommunen mal eben eine Metropolregion zu machen, ist keine leichte Aufgabe. Die richtigen Grundsteine seien aber gelegt, sagt Strukturwandelforscher Klaus-Heiner Röhl. „Das muss die Bundesregierung nun in Kooperation mit dem Land NRW und EU-Mitteln ausbauen.“ Das Werben um die Gelder der nächsten EU-Förderperiode hat begonnen. Eine klare Vision, wie es sie für die Zukunft des Ruhrgebiets nun gibt, kann dabei nur helfen.
Katja Scherer arbeitet als freie Wirtschaftsjournalistin für diverse Medien in Print und Hörfunk. Zu ihren Schwerpunkten zählen Wirtschaftspolitik, Digitalisierung und Unternehmertum.
IP Special 01, September 2020, S. 14-21