Beben, Fluten und öffentliche Hilfe
Die Armen triffte es am härtesten. Entwicklungshilfe bei Katastrophen wird immer notwendiger
In seinen Essays über die Religion verweigert der englische Ökonom, Logiker und Philosoph John Stuart Mill es der Natur, ein Modell für die „göttliche Ordnung“ zu sein mit der Bemerkung, sie übertreffe selbst Anarchie und Terror in Unrecht, Ruin und Tod.
Die durch das Seebeben vor Sumatra am 26. Dezember vergangenen Jahres ausgelöste Flutkatastrophe am Indischen Ozean hat uns mit Tod, Not und Verwüstung an die destruktive Macht der Natur erinnert: Rund 280 000 Tote, Millionen Obdachlose und Wirtschaftsschäden in Milliardenhöhe haben viele Medien veranlasst, sie als „Welt-Katastrophe“ singulären Ausmaßes darzustellen. Angesichts der großen privaten Spendenbereitschaft, welche das Tsunami-Desaster gerade auch in Deutschland ausgelöst hat, stellt sich die Frage nach Notwendigkeit und Potenzial der öffentlichen Entwicklungshilfe bei Naturkatastrophen.1
Die Wirtschaftsjournalisten einer ansonsten lesenswerten deutschen Sonntagszeitung sind mit schneller Antwort zur Hand (FAS, 16. Januar 2005): Sie verdammen die staatliche Katastrophenhilfe als „Neokolonialismus“, „Verlogenheit“ und „Enteignung“; unbehelligt durch die Analyse von Fakten beten diese Sonntagsökonomen einstudierte Ideologien herunter.
Denn die öffentliche, internationale Hilfe bei Naturkatastrophen wird immer wichtiger: Von der Natur ausgelöste Katastrophen stellen eine wachsende Bedrohung für Entwicklungsländer dar, sowohl hinsichtlich ihrer Häufigkeit als auch des Schadens, den sie anrichten. Laut der amerikanischen International Disaster Database, die mehr als 9000 Naturkatastrophen seit dem Jahr 1900 erfasst hat, sind die häufigsten Desaster Sturmschäden, Überflutungen, Erdbeben, Pandemien und Dürreschäden. Arme Menschen und arme Länder sind Naturgefahren besonders ausgesetzt, die Armut fördert zudem das Anwachsen von Gefahren in Katastrophen. Die Verwundbarkeit ex ante – der Schadensumfang bei Eintritt des Naturereignisses – steigt mit der Armut; die Widerstandskraft ex post – die Fähigkeit, möglichst rasch wieder „auf die Beine“ zu kommen –, fällt mit der Armut. Öffentliche Hilfe hat also drei Aufgaben:
- Präventionshilfe,
- Notlinderung,
- Wiederaufbau.
Dass Naturkatastrophen trotz privater Spendenbereitschaft öffentliche Entwicklungshilfe (er)fordern, hat viele Gründe:
- Erdbeben, Überflutungen und Dürren treffen Entwicklungsländer aus klimatischen und geographischen Gründen in besonderem Maße; das erfordert eine Katastrophenhilfe, welche die private Spendenbereitschaft auf Dauer übersteigt.
- Je ärmer die Menschen und je ärmer die Länder, desto fataler und tödlicher wirken sich Naturkatastrophen aus.
- Naturkatastrophen zerstören knappes Kapital, physisches und menschliches; Notlinderung und Wiederaufbau entziehen den armen Ländern knappe Ressourcen, die somit dem Wirtschaftswachstum fehlen.
- Die öffentliche Entwicklungshilfe ist als Koordinator notwendig, nicht zuletzt zur Koordinierung der vielen privaten Hilfsanstrengungen, um Verschwendung zu meiden und Breitenwirkung zu sichern.
- Die Prävention (z.B. durch Frühwarnsysteme) von Naturkatastrophen und der damit zusammenhängende langfristige Wiederaufbau sind ein globales oder regionales öffentliches Gut, das der Markt und Privatspender nicht oder nur unzureichend anbieten.
- Naturkatastrophen sind kaum zu versichern.2 Der Umfang der zu erwartenden Schäden ist zu hoch; die Schadensrisiken sind kovariant, also kein Einzelfall, und können somit nicht durch Sammlung oder Streuung reduziert werden. Außerdem fehlt meist der Zugang zu formalen Finanzsystemen.
Die Prävention, Linderung und Bewältigung kovarianter Naturrisiken verlangt also die öffentliche Hilfe, im Falle kontinentaler Bedrohung vorzugsweise die multilaterale Hilfe. Wo kann sie ansetzen?
Öffentliche Hilfe kann dazu beitragen, dass die Qualität der einheimischen Katastrophenvorsorge verbessert wird. Der Entwurf und die Durchsetzung einer Bauregulierung, welche die gewerbliche und private Ansiedlung in beben- und flutgefährdeten Gebieten unterbindet oder bebensichere Gebäude fördert; ländliche Flächennutzung, welche die Sturm- und Flutgefährdung mindert; Förderung der Entwicklung und agrarische Beratung bei der Pflanzung flutresistenter Saaten: Beispiele für solche öffentlichen Aufgaben gibt es Tausende. Öffentliche Hilfe kann auch dazu beitragen, prekäre Urbanisierung und Zerstörung der Umwelt zu bremsen, denn beide heben die Katastrophenschäden in Form von Todesfällen und Schäden an der Infrastruktur. Bessere Transportwege und Kommunikationskanäle, klassische öffentliche Aufgaben, welche die armen Länder mit ihren mageren Budgets nicht alleine stemmen können, sind der beste Ansatz, nach dem Katastrophenfall die humanitäre Not schnellstens zu lindern und den Wiederaufbau rasch voranzutreiben.
Unbestritten wird die Wirksamkeit solcher Hilfe von außen von der Güte der lokalen Rahmenbedingungen abhängen. Der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen hat bereits vor Jahrzehnten die Bedeutung einer demokratischen Regierung und einer freien Presse zur Verhinderung von Hungersnöten bei Dürreperioden betont. Diese Einsicht gilt für die Bewältigung anderer Naturkatastrophen ebenso, auch heute im Falle des südostasiatischen Tsunami-Desasters.
Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 92 - 93.