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01. Sep 2008

Augenmaß statt Augenhöhe

Auf dem Weg zur Weltgewerkschaft ist eine Politik der kleinen Schritte gefragt

„Nur wenn es den Gewerkschaften gelingt, mit dem mobilen Kapital gleichzuziehen, ihre Machtpositionen und strategischen Spielzüge neu transnational zu definieren und zu organisieren, kann der Zerfall gewerkschaftlicher Macht aufgehalten, ja in sein Gegenteil gewendet werden“.1 Diese wohlmeinende, apodiktische Setzung, jüngst von dem Münchner Soziologen Ulrich Beck geäußert, gehört zu den seit über 100 Jahren immer wieder aufs Neue produzierten strategischen Ratschlägen, was die Gewerkschaften zu tun hätten, um ihr Überleben zu sichern. Ob diese Zuspitzung wirklich hilfreich und intellektuell orientierend ist, darf bezweifelt werden. Denn eine Politik auf Augenhöhe mit dem Kapital ist in der Regel nicht zu erreichen.

Seit es die Arbeiterbewegung gibt, wird sie im Angesicht der immer schon global agierenden Kapitalaktivitäten auch als internationale gedacht. Gleichwohl blieb ihre Praxis primär betrieblich, lokal, regional und national, ohne auf eine internationale Rhetorik zu verzichten. Was sind also die Möglichkeiten, die Gewerkschaften als zutiefst nationale Organisationen haben, um in einer international vernetzten Wirtschaft besser überleben zu können oder gar zu einem global ernst zu nehmenden Akteur zu werden?

In der Vergangenheit fristeten die internationalen Gewerkschaftsbünde ein Schattendasein gegenüber den nationalen Gewerkschaften. Weltanschaulich, politisch, territorial und funktional gespalten, mangelte es ihnen nicht nur an einem hierarchischen Steuerungszentrum, sondern auch an nennenswerten Ressourcen und echter Autonomie. Bis ins Jahr 2006 waren die internationalen Gewerkschaften entlang der weltanschaulichen Strömungen gespalten, die das 20. Jahrhundert prägten: in eine sozialdemokratische, eine christliche und eine kommunistische. Seit der Gründung der neuen Gewerkschaftsinternationale im November 2006 in Wien ist zumindest die Spaltung in eine christliche und eine sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung überwunden.

Neben der tendenziellen Auflösung der internationalen politisch-weltanschaulichen Strömungslehre gibt es eine Reihe weiterer Entwicklungen, die in den letzten Jahren die internationalen Gestaltungspotenziale der Gewerkschaften belebt haben. Zum einen ist da die Gründung einer ersten „Weltgewerkschaft“ zwischen der britischen Gewerkschaft „Unite“ (1,8 Millionen Mitglieder) und der amerikanischen Stahlarbeitergewerkschaft „USW“ (850 000 Mitglieder) im vergangenen Sommer zu nennen. Dieses von den Gewerkschaftsführungen getragene Projekt hat gleichwohl eher symbolischen Charakter. An Einfluss gewonnen haben die Global Unions, länderübergreifende Gewerkschaftsbünde, die als internationale Branchengewerkschaften arbeiten. In einzelnen Fällen ist es ihnen gelungen, Ansätze für sektorale Arbeitsbeziehungen zu implementieren, etwa in der Seeschifffahrt. Auf der Ebene der Konzernarbeitsbeziehungen kam es seit den neunziger Jahren zur Gründung von über 1000 europäischen Betriebsräten und etwa zehn Weltbetriebsräten.

Darüber hinaus hat die stärkere Fokussierung auf die multinationalen Konzerne zu einem pragmatischeren und unternehmensnäheren Zugang in der internationalen Gewerkschaftspolitik geführt. Es geht den Gewerkschaften dabei vor allem darum, von den Konzernen als Verhandlungspartner anerkannt zu werden und eigene Kommunikationsstrukturen aufzubauen. Zu den Instrumenten, mit denen die Gewerkschaften auf eine verbindlichere Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen wollen, zählen internationale Rahmenvereinbarungen, die zum Teil auf den von der ILO 1998 verabschiedeten Kernarbeitsnormen basieren. Zwar stehen den über 70 000 multinationalen Konzernen erst 34 internationale Rahmenvereinbarungen gegenüber, jedoch stellen Abkommen dieser Art fraglos eine zukunftsträchtige Praxis der Zusammenarbeit dar, weil es hier um konkret greifbare Inhalte geht. Und schließlich haben sich in den letzten Jahren einige Kooperationen zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen entwickelt. Dabei geht es darum, gemeinsam Menschenrechtsverletzungen wie Kinderarbeit anzuprangern. Kampagnen wie die „Kampagne für Saubere Kleidung“ haben einen Eindruck davon vermittelt, dass Produzenten- und Konsumentenmacht durchaus aufeinander bezogen werden können.

Gemeinsam gegen menschenverachtende Arbeitsbedingungen

Die hier geschilderten Aktivitäten können durch drei Entwicklungen vorangetrieben werden. Zunächst einmal durch die Sozialklauseln und Kernarbeitsnormen, die WTO und ILO seit 1995 verabschiedet haben. Sie bieten eine normative und institutionelle Basis für gewerkschaftliche Einflussnahme. Zweitens haben die Gewerkschaften durch diese institutionengestützte Referenzpolitik einen leichteren Zugang zur betrieblichen und unternehmerischen Ebene, die mit Bezug auf grenzüberschreitende Kernnormen reguliert werden kann. Dazu gehört vor allem der weitere Aufbau von Weltbetriebsräten und deren Koordinierung und Anbindung an gewerkschaftliche Aktivitäten. Zwar sehen viele Unternehmen die Legitimationslücke, die von menschenverachtenden Arbeitsbedingungen im Rahmen ihrer internationalen Wertschöpfungsketten ausgehen. Sie versuchen verstärkt, darauf durch freiwillige Selbstverpflichtungen, häufig als „Corporate Social Idendities“ kommuniziert, zu reagieren. Das ändert aber nichts daran, dass Gewerkschaften hier ein wichtiges Handlungsfeld haben, indem sie verbindliche und transparente Regelungen herstellen, die auch in schwierigeren Zeiten Bestand haben. Drittens sind Gewerkschaften gut beraten, gemeinsam mit sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen schlechte bis unzumutbare Arbeitsbedingungen anzuprangern.

Auch wenn die Gewerkschaften weit davon entfernt sind, ein Riese in der Steuerung der Globalisierung zu sein, so haben sie doch das Potenzial, mehr als ein Zwerg am Katzentisch zu sein. Viel wird davon abhängen, wie es weitergeht mit der gewerkschaftlichen Entwicklung in China, Indien und Russland – um nur drei Zentren des neuen Weltkapitalismus zu nennen, die bislang auf der gewerkschaftlichen Weltkarte kaum existieren. Solange revolutionäre Quantensprünge nicht erkennbar sind, geht es um eine Politik der kleinen Schritte, mit der man dazu beitragen kann, eine Zivilisierung des an einigen Stellen arg entfesselten Kapitalismus voranzubringen.

Zuweilen werden Aktivitäten, die von der so genannten Basis getragen werden, und solche, die „von oben“ kommen, gegeneinander gestellt. Tatsächlich müssen der Druck von unten und die Anreize von oben ins Gespräch gebracht werden, um grenzüberschreitende Solidarität zu organisieren. Eine Transnationalisierung von oben, die nicht von den Mitgliedern vor Ort getragen wird, funktioniert ebenso wenig wie eine Politik, die nur von unten zu leben glaubt. Notwendig ist eine Institutionalisierung der grenzüberschreitenden Solidaritätspolitik. Mit den supranationalen Organisationen der Weltwirtschaft und den multinationalen Konzernen bestehen Referenzpunkte, die von den Gewerkschaften genutzt werden können, um sich als Teile einer neuen Weltsozialpolitik zu etablieren.

Zudem brauchen die supranationalen Organisationen zivilgesellschaftliche Akteure, die darauf hinwirken, dass ihre ambitionierten Ziele in die Praxis umgesetzt werden können. Auch dazu sind Gewerkschaften geeignet. Im Gegensatz zur Politik der sozialen Bewegungen definiert sich die Gewerkschaftsarbeit durch einen festen Mitgliederbezug und das Ziel einer auf Verträgen basierten, dauerhafteren Einflussnahme. An diesem Kriterium gemessen geht es weniger um eine einseitige Globalisierung von unten oder eine emphatisch stilisierte „kosmopolitische Erneuerung der Gewerkschaften“ als vielmehr um eine mitgliederbezogene Politik im Kontext grenzüberschreitender Solidaritätsnetzwerke. Das ist nicht viel, gemessen an dem Anspruch, mit dem Kapital auf Augenhöhe zu operieren. Und auch wenn das alles wenig mit einer kosmopolitischen Erneuerung zu tun hat, so ist es doch mehr Politik und mehr Gestaltung im Sinne der Betroffenen und lässt zugleich auf mehr soziale Weltsozialpolitik hoffen. Jedenfalls werden weder Attac noch die Konsumenten die Gewerkschaften erretten; das müssen sie schon selbst tun.

Prof. Dr. WOLFGANG SCHROEDER hat an der Universität Kassel den Lehrstuhl „Politisches System der Bundesrepublik/Staatlichkeit im Wandel“ inne.

  • 1Ulrich Beck in der taz, 19.7.2008.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2008, S. 67 - 70

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