Aufstand der Ratlosen
Den Globalisierungskritikern fehlt die Idee, wie eine "andere Welt" aussehen soll
Erst kam die Botschaft abhanden, dann verloren sich die Anhänger: Nur wenige Jahre nach ihrer Hochzeit fehlt den Globalisierungskritikern die Idee, wie „eine andere Welt“ aussehen soll. Längst reden auch die Erzfeinde von G-8 und WTO über soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz – die Realität hat die einstigen Gipfelstürmer überholt.
Man könnte ja sagen: Eigentlich ist es nur ein Zaun. Schwarze, 2,50 Meter hohe Metallgitter. 500 Tonnen Stahl. Solide verankert an 4800 Betonquadern. Gekrönt mit messerscharfem NATO-Draht. Zwölf Kilometer lang. Ein Zaun, der das Ostseebad Heiligendamm umschließt. Aus der Ferne betrachtet wirkt er ganz harmlos, wie er sich zwischen Vorder Bollhagen, Hinter Bollhagen und Klein Bollhagen in unschuldigem Ebenmaß übers sattgrüne Ackerland windet.
„Ein Zaun?“, sagt Adolf Riekenberg, „das ist mehr als ein Zaun, das ist ein Symbol.“ Der gelernte Schweiß-Fachingenieur kann richtig in Rage geraten, wenn er die in schönstem Polizeideutsch „technische Sperre“ genannte gut zwölf Millionen Euro teure Metallschlange sieht: „Dahinter schotten sich die Reichen und Mächtigen ab, Angela Merkel und die anderen Politiker der G-8.“ Der 56-Jährige, ein untersetzter Mann mit stattlichem Bauch, langen grau-braunen Haaren und wildem Vollbart, schnaubt verächtlich: „Sie wollen nichts hören und sehen von der Kritik an ihrer Politik, mit der sie die Welt zugrunde richten.“ Riekenberg, der zum Koordinierungskreis von Attac gehört, einem Führungsgremium der globalisierungskritischen Organisation, hat gegen alle Widerstände zwei Camps für tausende Demonstranten organisiert und lässt sich auch jetzt nicht so leicht aufhalten. „Verbieten können sie uns nicht. Deshalb machen sie es uns möglichst schwer“, sagt er. „Aber wir rücken ihnen auf die Pelle, soweit wir können.“
Sehr weit kommen sie nicht. Schon vor dem „Drei-Tage-Zaun“, hinter dem sich die Regierungschefs der wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt im „Kempinski Grand Hotel Heiligendamm“ zum G-8-Gipfel treffen, fangen die 16 000 Polizisten möglichst viele ab: radikale Kapitalismusgegner, engagierte Christen, Attac-Mitglieder, Migranten- und Dritte-Welt-Aktivisten, Umweltschützer. Das ganze Spektrum des Protests gegen eine von vielen als ungerecht empfundene Globalisierung.
Auch Sven Giegold ist dabei. Der 36-jährige Wirtschaftswissenschaftler, einer der profiliertesten Köpfe von Attac, will an der Ostsee nicht fehlen, wie er auch früher kaum einen Protest ausgelassen hat. Für ihn steckt hinter der Wahl des Ortes System: „In Kanada haben sie sich 2002 weit entlegen in einem Kaff in den Rocky Mountains getroffen, 2004 auf einer abgeschirmten Insel im US-Südstaat Georgia, 2006 in Sankt Petersburg. Und jetzt im umzäunten Heiligendamm. Bloß möglichst weit weg vom Protest, der sie in Genua noch mit voller Wucht getroffen hat.“ 2001 in Genua. Das war die Hochzeit der Globalisierungskritiker, die um die Jahrtausendwende Medien und Öffentlichkeit elektrisierten. Doch inzwischen scheint die Strahlkraft der Bewegung mit dem ebenso selbstsicheren wie unbestimmten Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ seltsam verblasst. Auch Attac, das in gut 30 Ländern aktive und weltweit wohl bekannteste Netzwerk von Globalisierungskritikern, wirkt derzeit matt, wie eine Organisation, die ihren Zenith überschritten hat.
Faszination ade?
„Die anfängliche Begeisterung, nach dem Motto ‚morgen verändern wir die Welt‘, ist inzwischen verflogen und einer gewissen Ernüchterung und Routine gewichen, nicht nur bei den Aktiven, sondern auch bei den Medien“, konstatiert der Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin. „Die Medien übertreiben dabei nach unten wie nach oben“, sagt der Soziologe: „Der maß-lose Hype um die Jahrtausendwende hatte ebenso wenig mit der Realität zu tun wie der angebliche Niedergang, der in letzter Zeit beschworen wird.“ Doch auch Rucht, ein – nach eigener Aussage „inaktives“ – Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac, kritisiert die Bewegung: „Ich habe schon vor Jahren davor -gewarnt, dass Attac zum ‚Gemischtwarenladen‘ wird“, sagt er – und sieht sich durch die Entwicklung bestätigt. Ursprünglich war die von der französischen Urzelle inspirierte, in Deutschland Anfang 2000 gegründete Gruppierung angetreten, um die globalisierten Finanzmärkte unter demokratische Kontrolle zu bringen.
Etwa durch eine nach dem Wirtschafts-Nobelpreisträger James Tobin benannte Devisenumsatzsteuer, die spekulative Finanzgeschäfte eindämmen sollte, weil diese ganze Volkswirtschaften zum Einsturz bringen können, wie die Asien-Krise 1997 gezeigt hatte. Sprunghaft stiegen die Mitgliederzahlen an, die Gründergeneration konnte sich vor Interviewanfragen kaum retten. Doch im Laufe der Jahre traten neben der Tobin-Steuer und dem Kampf gegen Steueroasen der Protest gegen Hartz IV, die Gesundheitsreform, die Bahnprivatisierung oder Studiengebühren immer mehr in den Vordergrund. „Für das Umfeld ist nicht mehr erkennbar, wofür Attac steht, was sein Profil ist“, urteilt Rucht. Eine Beobachtung, die er mit vielen Kritikern teilt. Faszination ade?
„Alt statt smart“
Auch für freundlich gesinnte Beobachter wie den Globalisierungsexperten Tilman Santarius vom Berliner Büro des Wuppertal Instituts hat die Neuausrichtung mehr Risiken als Chancen gebracht: „Die Hinwendung zu klassischen Sozialstaatsthemen hat Attac auf das ‚Minenfeld‘ der Gewerkschaften geführt, die dort massiv ihre Interessen vertreten.“ Nicht nur er kennt Leute, „die sagen: Keinen Bock mehr, weil hier zu viele Gewerkschafter mitmischen“. Zudem müsse zu jedem Thema eine neue Arbeitsgruppe gegründet werden. „Das zehrt an den Ressourcen, führt zu mangelnder Kontinuität der Arbeit und damit letztlich zu Frust und Abwanderung.“ Klaus Priegnitz von der IG Metall wehrt sich gegen den Vorwurf der Instrumentalisierung: „Die Dynamik eines Netzwerks wie Attac können wir gar nicht kontrollieren.“ Tatsächlich, sagt Priegnitz, mischten die Gewerkschaften mit, weil sie verstanden hätten, dass sich die Probleme der Arbeitnehmer von Multis nicht mehr national, sondern nur noch global lösen ließen. Der IG-Metall-Vordenker Hans-Jürgen Urban proklamiert jedenfalls schon, nicht mehr Parteien seien in Zukunft die strategischen Partner der Gewerkschaften, sondern die internationale soziale Bewegung. Trotzdem ist der Eindruck entstanden, im bundesrepublikanischen Diskurs der letzten Jahre seien vor allem deutsche Arbeitnehmer als Opfer der Globalisierung identifiziert worden, während es doch Menschen in den Entwicklungsländern sind, die am meisten unter den Strukturen der Weltwirtschaft zu leiden haben. Sven Giegold nähert sich dem Problem dialektisch: Zwar habe die offene Netzwerkstruktur der Organisation dazu geführt, dass manche „Altlinke“ oder auch Gewerkschafter gefordert hätten, was sie schon lange fordern. „Dadurch wirken wir manchmal nicht smart, sondern alt.“ Andererseits, argumentiert Giegold, habe Attac keine Alternative gehabt. Bei einem „Sozialabbau wie der Agenda 2010 mussten wir reagieren. Wir machen eben das, was unsere Gruppen wollen und auf dem Ratschlag beschließen. Aber auch unsere Partnerorganisationen aus den Südländern haben gesagt: Wenn ihr den Neoliberalismus im eigenen Land nicht bekämpft, seid ihr unglaubwürdig“.
Was man auch tut, eigentlich kann man nur etwas falsch machen: Konzentriert man sich wieder aufs „Kerngeschäft“ und schärft das Profil, was manche fordern, wandern Aktivisten ab, die ihre Themen nicht mehr gebührend vertreten sehen. Kultiviert man die Vielfalt, vergrault man jene, für die eine breite Themenpalette eher auf linke Beliebigkeit hinausläuft. Kein Wunder, dass viel Energie in internen Debatten um die richtige Strategie verpuffte. Vor allem im Ursprungsland Frankreich geriet der Streit zur Zerreißprobe: Auf der einen Seite der Attac-Gründungschef Bernard Cassen von der linken Monatszeitung Le Monde diplomatique und sein Nachfolger Jacques Nikonoff, die Attac von einem „schlabbrigen Netzwerk“ zur Kampagnenorganisation mit starken Anführern umbauen wollten. Auf der anderen Seite Aktivisten um die Amerikanerin Susan George, eine Heroine der Globalisierungsbewegung, die durch eine Vielfalt der Stimmen den Anspruch gewahrt sehen, „Politik mit anderen Mitteln zu machen“. Letztlich war es vor allem ein „guerre des chefs“, ein Krieg der Häuptlinge, den hauptamtliche Aktivisten nach Kräften zu ignorieren versuchten – und der einfache Anhänger in Scharen zum Absprung trieb.
Die Kritiker von Cassen und Nikonoff haben den Machtkampf Ende vergangenen Jahres für sich entschieden. Nun sitzen völlig neue Köpfe an der Spitze, denn die prominenten Exponenten des Streites sind zur Wahl nicht angetreten. Die Mitgliederzahl des früher mit Abstand stärksten Attac-Landes Frankreich halbierte sich binnen eines guten Jahres – auf nun nur noch 15 000. Langfristig könnte sich etwas anderes als noch problematischer erweisen: Es ist völlig unklar, ob die französische Sektion ihren Status als „intellektuelle Supermacht“ der globalen sozialen Bewegung bewahren und diese auch künftig mit Ideen und Forschungsergebnissen versorgen kann – oder wer an ihre Stelle treten könnte, wenn dies nicht gelingt.
Seit dem Einbruch in Frankreich ist Attac Deutschland nun plötzlich der zahlenmäßig stärkste Zweig, „intellektuell aber sind wir es beileibe nicht“, gibt Sven Giegold zu. Dennoch laufen hier im Vorfeld des G-8-Gipfels alle Fäden zusammen. Allerdings, beeilt er sich zu betonen, in enger Abstimmung mit Frankreich und den ebenfalls ressourcenstarken Büros in Österreich, der Schweiz, Schweden und Norwegen. Zwischen Welt- und Europäischem Sozialforum habe die Bewegung ein breites Netzwerk geknüpft, das – zum Beispiel im Rahmen des Bündnisses „Our world is not for sale“ – themen- und kontinenteübergreifend kooperiere. „Hier entsteht eine neue globale Zivilgesellschaft. Aber dafür interessieren sich die meisten Medien nicht, das ist wohl nicht sexy genug.“
Von der Bewegung zum „Think-Tank“?
Aus den Fehlern der Vergangenheit wollen die deutschen „Attackis“, wie sie sich nennen, jedenfalls ihre Schlüsse gezogen haben. „Jede Organisation muss für den Erfolg ihre Kräfte konzentrieren“, sagt Sven Giegold. „Da haben wir viel gelernt.“ Es klingt ein bisschen nach Beschwörung. Tilman Santarius vom Wuppertal Institut bleibt dennoch skeptisch: „Attac hat es hier in der Vergangenheit versäumt, Think-Tank-Kapazitäten aufzubauen. Es gibt zu wenige Spezialisten, die kontinuierlich und mit hoher Qualität Expertise aufbauen. Das braucht aber jede Organisation, die relevant werden oder bleiben will.“
Fehlende intellektuelle Tiefenwirkung erklärt eine zentrale Schwäche der Bewegung, die sich paradoxerweise aus ihrem größten Erfolg ergeben hat: Ihr ist es zwar gelungen, das neoliberale Mantra zu zertrümmern, die Dynamik der Globalisierung als solche sei ein Sachzwang, es gebe zum realen Ablauf der Dinge praktisch keine Alternative. „Heute sagt fast jeder, ‚eine andere Welt ist möglich‘, auch die Weltbank will die Globalisierung nun angeblich sozial abfedern“, bringt es Thomas Seibert von medico international auf den Punkt, „es weiß nur keiner genau, welche andere Welt das sein soll. Zumindest gibt es darüber keinen Konsens. Die früher klassische Antwort, ‚Sozialismus‘, fällt jedenfalls aus.“
Zu vielen aktuellen Debatten haben Attac, aber auch andere globalisierungskritische Gruppen, kaum eine trennscharfe Position zu bieten. Welche Fesseln sollen Hedge-Fonds angelegt werden, welche Regeln für „Private Equity Funds“ gelten? Wie und mit welchem Ziel sollen Flüge besteuert werden – zur Mittelgewinnung für die Entwicklungshilfe oder den Klimaschutz oder beides? „Jeder ist zwar für Steuergerechtigkeit“, sagt der Berliner Soziologe Dieter Rucht mit mildem Spott, „etwas schwieriger wird es dann aber mit konkreten Lösungen.“ Es reiche nicht, recht zu haben, stellt die Bewegung schon fast erschreckt fest: „Wir müssen jetzt nachlegen“, meint medico-Mann Thomas Seibert – um den Anspruch auf eine andere Welt mit Inhalt füllen zu können.
„Die Realität hat uns längst überholt“, argwöhnt Sven Giegold. Ob Attac eine Tobin-Steuer, die Schließung von Steueroasen oder den Schuldenerlass für Entwicklungsländer fordere, interessiere die neuen Antreiber der globalen Finanzmärkte nicht mehr. „Private Equity Funds können damit bestens leben und immer noch 25 und mehr Prozent Rendite herausschlagen“, sagt Giegold. „Unsere Waffen, wie die Tobin-Steuer, sind viel zu stumpf. Wir brauchen viel weiter reichende Forderungen.“ Selbst mit der internationalen Besteuerung von Kapitalerträgen oder weitgehenden Rechten der Arbeitnehmer, wenn etwa der Betriebsrat einer Übernahme durch Finanzinvestoren zustimmen muss, sei man nicht mehr besonders radikal. Mut macht den Aktivisten das Gefühl, durchaus schon etwas erreicht zu haben: In Frankreich, Italien, Belgien und Österreich gibt es Gesetze oder Gesetzesinitiativen für die Besteuerung von Finanztransaktionen; auch eine Studie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bescheinigte der Tobin-Steuer positives Potenzial. Selbst die G-8 und die WTO müssen sich inzwischen als Retter der Armen und der Umwelt präsentieren; ihre Webseiten wirken teilweise, als seien sie von Ökos und Dritte-Welt-Aktivisten gefüllt. Augenwischerei, sagen viele Globalisierungskritiker. Und doch ein Zeichen, wie politischer Druck die Debatte in eine neue Richtung gedrängt hat.
Diesen Erfolg will zumindest WTO-Sprecher Keith Rockwell ihnen nicht anrechnen: „Diese Bewegung hat keinen wirklichen Einfluss“, behauptet er. Den hätten Organisationen wie die britische Oxfam, die Médecins Sans Frontières oder der WWF. „Die wollen die Welt wirklich verbessern und machen dazu Vorschläge.“ Als Beispiel führt er die Reform von Patentrechten bei Medikamenten für Entwicklungsländer an. „Organisationen wie Attac machen keine Verbesserungsvorschläge“, sagt Rockwell, „sie sind nur scharf auf Öffentlichkeit. Wer den Handel generell ablehnt, mit dem haben wir keine Diskussionsbasis.“ Ob die WTO nicht durch die Kritiker erheblich unter Druck geraten sei?
Da winkt der Sprecher der Welthandelsorganisation nur müde ab. „In China, Indien oder Brasilien macht man sich wegen der Globalisierung keine Sorgen. Dort hat die Öffnung der Märkte 500 Millionen Menschen aus der Armut befreit.“ Dass sich die Schere zwischen Arm und Reich trotzdem weiter öffne, gebe er zu, dafür könne die WTO aber nichts. „Das Problem liegt in den Ländern selbst, darauf haben wir keinen Einfluss.“ 25 Entwicklungsländer stünden bei der Welthandelsorganisation Schlange, um Aufnahme zu finden – wer vertrete deren Interessen wohl besser, fragt Keith Rockwell rhetorisch: die WTO oder Attac?
„Hübsch, die WTO als Retter der Armen“, kontert Sven Giegold, „Länder wie China und Indien, wo die Armut am stärksten reduziert wurde, haben sich eben nicht bedingungslos geöffnet, wie WTO oder IWF das fordern. Schlecht geht es hingegen vielen Ländern, die dies getan haben.“ Und Organisationen wie Médecins Sans Frontières oder Oxfam, fügt er hinzu, übten selbst Kritik an der Globalisierung und seien Teil der Bewegung.
Lackmustest Heiligendamm
Mitdiskutieren und Vorschläge für eine bessere Politik machen – oder Institutionen wie WTO oder G-8 die Legitimation vollständig absprechen? Das ist eine Frage, die vor dem Gipfel in Heiligendamm für Zündstoff innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung sorgte. So provozierte ein Positionspapier von mehr als 40 deutschen Nichtregierungsorganisationen, das in Bereichen wie Klimaschutz und Rohstoffpolitik, Welthandel und Patenten, Entwicklungspolitik und Entschuldung Forderungen an die G-8-Regierungen formulierte, sogleich scharfe Kritik der Bundeskoordination Internationalismus (Buko). Dieses weiter links angesiedelte Bündnis von gut 150 Gruppierungen sieht in den G-8 „keinen Teil der Lösung, sondern einen Verursacher der Probleme“, den auch „die Kraft von Argumenten“ nicht in einen Akteur für eine bessere Welt verwandeln könne. „Die NGOs hüten sich vor radikalen Lösungen, damit sie weiter mit am Tisch sitzen dürfen“, sagt Buko-Mitarbeiter Steffen Jörg aus der Hamburger Geschäftsstelle. Von Protest sei in dem Papier keine Rede, auch nicht vom totalen Scheitern von Kyoto oder anderer Global-Governance--Prozesse, kein Wort von den gebrochenen Versprechen der G-8-Konferenz im schottischen Gleneagles oder dem vermutlichen Verfehlen der feierlich proklamierten Millenniumsziele.
Radikale Kritik will man sich nicht verbieten lassen, sagt Jörg, auch nach der „Terror-Razzia“ von Anfang Mai nicht, als linke Gruppen in Berlin, Hamburg und Bremen ins Visier der Bundesanwaltschaft gerieten. Der Bewegung dürfte die Polizeiaktion bei der Mobilisierung eher noch geholfen haben, der Protest gegen die G-8 war auf einmal wieder eine Top-Meldung in den Medien. Gespalten in gute und böse Demonstranten habe der „Einschüchterungsversuch“ sie jedenfalls nicht, beteuern Aktivisten. Bis ins kirchliche Spektrum reichte die Empörung über die bundesweite Razzia. „Die unterschiedlichen Ansätze dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen“, mahnt Dieter Rucht. Der Strategiemix aus punktuellen Verbesserungsvorschlägen, zivilem Ungehorsam und grundlegender Systemkritik könne eine fruchtbare Verbindung sein, findet der Bewegungsforscher, was sich schon in Heiligendamm erweisen werde.
Oder auch nicht. Am Ende, fürchten manche, könnten vom Protest nur Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei hängen bleiben. „Gegen solche Bilder kommt man mit seinen Argumenten nicht an. Wenn die Globalisierungskritiker mit ihren Argumenten keinen Einfluss auf die Debatten nehmen und sich die Berichterstattung nur auf Gewalt oder G-8-Interna und Gipfelbeschlüsse fokussierte, wäre das der worst case“, fürchtet Rucht. „Der beste Fall wäre, wenn der Mythos zerstört wird, in den die Bundesregierung den Gipfel hüllt, die G-8 kümmere sich um das Wohl der Welt. Dabei vertritt sie nur die Interessen der reichen Länder.“
Sven Giegold denkt schon weiter: Er will verhindern, dass Attac nach dem G-8-Gipfel „in ein Loch fällt“, wie nach dem Ende der Hartz-IV-Proteste von 2005 und 2006. Was tun nach Heiligendamm? Er will zu den EPAs arbeiten, den European Partnership Agreements, neuen bilateralen Handelsabkommen zwischen der EU und anderen Staaten oder Regionen, die seiner Meinung nach neue Ungerechtigkeit zementieren könnten. Dazu müssten die Folgen der Privatisierung von lokal bis europäisch durchdekliniert und zum Beispiel Schutzmechanismen gegen Private Equity Funds erarbeitet werden. Andere wollen vor allem die Debatte um „globale soziale Rechte“ vorantreiben. Das könnte „das nächste große Ding“ der globalisierungskritischen Bewegung werden, glaubt auch Thomas Seibert, der für medico international im Attac-Koordinierungskreis sitzt: „Das ist die Antwort auf das Scheitern der Entwicklungspolitik“, sagt er.
Ein Konzept, hinter dem sich Migrantengruppen, Gewerkschaften, Kirchen, Kapitalismuskritiker und Umweltschützer versammeln können – von radikal bis reformatorisch. Die Debatte über die neue strategische Ausrichtung will Attac im August beginnen. Letztlich, sagt Sven Giegold, sei es ihm um das Netzwerk nicht bang: „Wir werden noch lange relevant sein, weil auch die Probleme noch lange substanziell bleiben werden.“ Offen ist nur, ob das in Zukunft auch Medien und Öffentlichkeit so sehen.
MICHAEL FRIEDRICH, geb. 1959, langjähriger stellvertretender Chefredakteur des Greenpeace Magazins, arbeitet als freier Journalist vor allem über umweltpolitische Themen.
Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 84 - 91.