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01. Jan. 2005

Auf der Kippe

Von Deutschlands Entscheidungen hängt ab, wie die EU im Jahr 2015 wirtschaftlich dasteht

Wachsende Schwierigkeiten, ratlose Parteien, reformunwillige Bevölkerung: Die deutsche Wirtschaft zeigt die klassischen Symptome eines reichen Landes, das offenkundige Probleme nicht anpacken mag. Wenn sich nichts ändert, wird auch in zehn Jahren der Osten dem Westen hinterherhinken – auf insgesamt niedrigerem Niveau.

Wenn man untersucht, ob die seit den achtziger Jahren nicht gerade überwältigende Wirtschaftsleistung Deutschlands anhalten wird, stellen sich drei Fragen:

1. Wird sich Deutschland in der Europäischen Union für staatlichen Dirigismus oder für wirtschaftliche Integration und Liberalismus einsetzen?

2. Wie werden die Wirtschaftsprogramme der wichtigen deutschen Parteien aussehen?

3. Lassen sich die staatlichen Ausgaben dauerhaft einschränken?

Bis in die jüngste Zeit war Deutschland bei den meisten wirtschaftlichen Fragen in Europa die entscheidende Stimme, wenn eher dirigistische (Frankreich, Italien) und eher liberale Ansätze (Großbritannien, Niederlande) im Streit lagen. Darin spiegelte sich sowohl die ideologische Mittelposition Deutschlands in Wirtschaftsfragen als auch sein Status als größter Nettozahler in den EU-Haushalt. Amerikanern ist oft gar nicht bewusst, welcher Schub in Richtung innerer Liberalisierung von der Europäischen Kommission und den in Brüssel gefällten Entscheidungen ausging, und wie sehr diese Maßnahmen von der Unterstützung Deutschlands abhängig waren. Doch seit einiger Zeit hat Deutschland eine andere Tendenz erkennen lassen, etwa bei den Regeln für Firmenübernahmen und bei der Verlängerung der riesigen Subventionen für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU. Dieses Vorgehen verstärkt die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich – und wird seinerseits durch diese Beziehungen verstärkt. Man kann dies als Gradmesser für die Bereitschaft Berlins ansehen, nationale Vorrechte im Interesse der europäischen Integration aufzugeben: Je mehr europäische Integration Deutschland anstrebt, desto mehr tendiert es dazu, eine liberale Wirtschaftspolitik zu verfolgen; je nationalstaatlicher dagegen Deutschland agiert, desto mehr neigt es dazu, in Absprache mit anderen nationalen Regierungen wirtschaftlichen Protektionismus zuzulassen.

Im Laufe der nächsten Jahre werden in Europa die Weichen gestellt. Wohin die Reise geht, wird wesentlich von Deutschland abhängen. Falls es den dirigistisch-etatistischen Weg einschlägt und seine Beziehung zu Frankreich als „europäischen Motor“ betont, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach seine Zahlungen an die EU und seine Großzügigkeit bei Transferleistungen gegenüber den neuen Mitgliedern einschränken. Das würde der wirtschaftlichen Liberalisierung Europas einen Rückschlag versetzen. Wenn Deutschland dagegen zu seiner Haltung der letzten Jahrzehnte zurückkehrt und ein zunehmend integriertes Europa unterstützt, wird die Integration den Druck in Richtung wirtschaftliche Liberalisierung erhöhen – und auch zu einem Zurechtstutzen der GAP führen. Dies hätte entscheidende Auswirkungen sowohl auf den Reformprozess in Deutschland selbst als auch auf die Wirkung der EU-Erweiterung vom Mai 2004.

Für Europa wäre der liberale Kurs besser, da er eher zu mehr Wachstum, Stabilität und Unterstützung der internationalen Wirtschaftsinstitutionen führt. Doch jede klare Tendenz, die sich in den nächsten Jahren herauskristallisiert, würde eine dauerhafte Wirkung entfalten. Dieser Trend wird bis zum Jahr 2015 die europäische wirtschaftliche und politische Entwicklung prägen. Die Entscheidung darüber liegt vor allem bei Deutschland.

Parteien ohne Wirtschaftsprogramm

Die Vorschläge der Agenda 2010 zur Wirtschaftsreform von der deutschen Regierung aus SPD und den Grünen sind richtig, wenn man sie beim Wort nimmt. Doch sie scheinen an Kraft zu verlieren. Die Vorschläge der konservativ-liberalen Opposition bieten die gleiche Reformpolitik, mit ein bisschen mehr Schärfe gegenüber den Gewerkschaften. Aber obwohl die Krise der deutschen Wirtschaft beklagt wird, scheint keines von beiden Reformvorhaben viel Unterstützung zu genießen.

Was ins Auge sticht, ist das Fehlen eines umfassenden Wirtschaftskonzepts bei allen diesen Parteien und Koalitionen. Es herrscht ein Vakuum in der deutschen politischen Auseinandersetzung, wenn es um Wirtschaftskonzepte geht, und diese Situation wird im kommenden Jahrzehnt wahrscheinlich immer gravierender. Alles in allem besteht die Aussicht, auch im Fall eines Regierungswechsels, dass Deutschlands steigende öffentliche Schulden ökonomischen Druck ausüben – aber auch, dass man keine passende Antwort darauf findet, was die innenpolitischen Probleme verschlimmern und zunehmenden Populismus verursachen würde.

Ein reiches Land, selbst eines mit großen laufenden Einkommentransfers (national wie international) und steigenden Staatsschulden, kann lange vor sich hinwursteln, bevor es sich seinen wirtschaftlichen Problemen stellen muss. Das hat das Beispiel Japans gezeigt. Die Überalterung der Gesellschaft hat Diskussionen über die Grenzen des Wohlfahrtsstaats veranlasst. Doch solche Diskussionen haben nur dann eine Bedeutung, wenn entweder die Märkte oder die Politiker vorausschauen und in der Zukunft liegende Ereignisse berücksichtigen. Genau das geschieht aber nicht. Stattdessen verlässt man sich auf die passiven Sparer, bis deren faktische Enteignung erreicht sein wird – durch hohe Inflationsraten, beschränkten Zugang zu Sparvermögen oder wesentliche Kürzungen der Sozialprogramme. Politiker können einfach weiter machen, die Märkte können weiterhin Geld verdienen, ohne dass sich etwas dauerhaft verändert. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass diese Lage in Deutschland auch bis 2015 anhalten wird.

Eine hohe Wahrscheinlichkeit ist jedoch keine absolute Sicherheit. Wenn man also Deutschlands Zukunft voraussagt, muss man das „Peso-Problem“ der geringen Wahrscheinlichkeit berücksichtigen: Es könnte ein umwälzendes, folgenreiches Ereignis geben. Für Deutschland könnte so ein Ereignis ein Verlust des Vertrauens in die öffentlichen Haushalte sein. Das würde zu harten Haushaltsbeschränkungen und als Begleiterscheinung zur Kapitalflucht aus Deutschland führen. Daraufhin müsste die Regierung einen Großteil ihrer sozialen Pflichtausgaben kündigen – den Ausweg höherer Inflation, falls überhaupt erwogen, würde gewiss die Europäische Zentralbank (EZB) blockieren. Ergebnis wäre eine erhebliche Schwächung der wirtschaftlichen Leistungskraft Deutschlands, verbunden mit einer politischen Destabilisierung. Höchstwahrscheinlich gäbe es auch gravierende Auswirkungen auf Beschäftigung und Handel in Europa sowie auf die weltweiten Schulden und Devisenmärkte.

In eng wirtschaftlichen Begriffen gedacht würde man annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses zunimmt, da die finanzielle Last steigt, die Schulden sich häufen und die Kosten zunehmen. Selbst wenn die absolute Wahrscheinlichkeit einer derartigen Krise recht niedrig bleiben wird, so wird doch allein die steigende Wahrscheinlichkeit Wirtschaft und Politik beeinflussen. Externe Schocks könnten ausreichen, um ein derartiges Ereignis herbeizuführen oder zumindest die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses so weit erhöhen, dass eine sich selbst erfüllende Logik einsetzt, die zur Kapitalflucht führt. So ein Schock könnte ein steigender Unterschied zwischen der Leistungskraft Deutschlands und derjenigen anderer Volkswirtschaften in der Eurozone sein. Ein anderer könnte eine rasche Zunahme von arbeitenden Migranten sein, die (ob berechtigt oder nicht) als Belastung für den Wohlfahrtsstaat gesehen werden. Ein dritter Schock könnte eine politische Lage sein, in der die Generationenpolitik in den Vordergrund tritt, wie es in den sechziger und den siebziger Jahren der Fall war. Eine Folge wäre die Infragestellung der Privilegien älterer Arbeitnehmer und Rentner. Viertens könnten eine Naturkatastrophe, ein terroristischer Anschlag oder ein ökologischer Zusammenbruch ganz plötzlich eine nachhaltige Erhöhung der Staatsausgaben nötig machen.

Reiche Staaten tendieren dazu, eine einmal eingeschlagene Politik weiter zu verfolgen. Sie sind reich genug, um eine Krise zu umgehen – besonders wenn sie im Durchschnitt eine ausgeglichene Handelsbilanz oder einen Überschuss statt eines Bilanzdefizits (und daher ausländische Kreditgeber) haben. Zwar reden Amerikaner eine Menge über die Unhaltbarkeit des europäischen und anderer Wohlfahrtsstaaten, doch dabei werden gern zwei Tatsachen übersehen: Erstens hat es diese Wohlfahrtsstaaten nun schon Jahrzehnte lang, in einigen Fällen über ein Jahrhundert lang, gegeben. Zweitens sind es die USA, die angesichts der relativen Kärglichkeit ihrer sozialen Transfers wie auch bei der extremen Variabilität ihres Wirtschaftswachstums der Ausreißer sind. Am sichersten wettet man darauf, dass die Strukturen und Leistungen fast aller entwickelten Wirtschaften außer der amerikanischen denen von heute sehr ähnlich sein werden.

In Deutschland führt das typische konsensuale Zusammenspiel von Akteuren mit punktuellen Vetorechten dazu, die wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Landes zu verfestigen. Die deutsche politische Ökonomie ist darauf angelegt, durch Einkommenstransfers soziale Stabilität zu fördern. Trotz allem Gerede von Veränderung bestand darin auch das Ziel aller westdeutschen Entscheidungsträger in Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften bei der Wiedervereinigung, und es bleibt das verborgene Ziel der Deutschen bei der europäischen Integration.

Das große Aufholen ist vorüber

Die Einkommensniveaus in Ost- und Westdeutschland werden sich weiter angleichen. Jedoch versprach Helmut Kohl 1990, dass die Einkommensniveaus innerhalb eines Jahrzehnts angeglichen sein sollten. Ob eine Region oder ein Wirtschaftssystem rückständig ist, wird durch das Einkommensniveau definiert, und in einem Wohlfahrtsstaat muss jede dauerhafte Kluft im Einkommensniveau kompensiert werden.

Genau das ist natürlich zwischen den alten und den neuen Ländern geschehen. Die riesigen Transferleistungen des Westens in den Osten – anfangs bis zu 7% des deutschen Bruttosozialprodukts, in jüngster Zeit um 4% jährlich – waren jedoch von einer unheiligen Allianz zwischen der Regierung Helmut Kohls und den westdeutschen Gewerkschaften motiviert, die sich gegen die ostdeutschen Arbeitnehmer richtete. Die Regierung wollte keine massive Binnenmigration von Ost nach West und hatte deshalb ein Interesse daran, Menschen dafür zu bezahlen, dass sie in ihrer Heimat bleiben; die Gewerkschaften wollten keine Niedriglohnkonkurrenz. Daher einigten sie sich auf die politisch populäre Strategie des Umtauschs von Ostmark in DM zu dem unrealistischen Kurs von 1:1 sowie auf den Abschluss von Tarifverträgen, die den östlichen Beschäftigten anfangs mehr als 60% der westlichen Gehälter versprachen, mit einem in Kollektivverhandlungen erreichten schnellen Anstieg auf das westliche Niveau. Zusammen verteuerten diese beiden Faktoren die ostdeutsche Produktion immens. Darauf folgten eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Investitionen in Ostdeutschland, was wiederum die Abhängigkeit von staatlich finanzierten Arbeitsprogrammen und von Sozialleistungen erhöhte.

Diese Lage wird bis 2015 nur marginal besser werden. Wenn die Einkommensniveaus sich angleichen sollen, muss die Produktivität in Ostdeutschland auf das westliche Niveau steigen. Man hat in den neuen Bundesländern durchaus etwas erreicht. Positive Ergebnisse sind erzielt worden. Einige der staatlichen Mittel, die nach Ostdeutschland geflossen sind, ermöglichten nützliche Infrastrukturprojekte wie neue Telekommunikationsverbindungen, Straßen und Eisenbahnstrecken. Im Laufe der Zeit sind einige ältere ostdeutsche Arbeitnehmer umgeschult worden, andere haben den Arbeitsmarkt verlassen oder sind in Rente, während immer mehr jüngere Ostdeutsche eine Schul- und Berufsbildung auf westlichem Niveau erhalten haben. Dennoch war dies ein mühseliges Unterfangen angesichts der tiefen Kluft in den Produktivitätsniveaus.

Tatsächlich begannen die Ostdeutschen 1991 auf einem durchschnittlichen Produktivitätsniveau, das nur ein Drittel dessen ihrer westdeutschen Kollegen betrug. Zudem schufen die Bestimmungen zur Vereinheitlichung der Finanz- und der Arbeitsmärkte Hindernisse für eine rasche Anpassung. Der gegenwärtige Abstand, mit sich leerenden Regionen in Ostdeutschland und Einkommen von 60–70% des Westniveaus, wird weit über das Jahr 2015 hinaus andauern. Selbst wenn die wettbewerbsfähigsten Teile Ostdeutschlands in den kommenden zehn Jahren um 2% jährlich schneller wüchsen als Westdeutschland (eine sehr optimistische Annahme), würde nur die Hälfte der Einkommenslücke geschlossen; im wahrscheinlicheren Fall, dass der Wachstumsvorteil im Durchschnitt 1% beträgt, werden die östlichen Einkommen nur ein Viertel des Einkommensunterschieds aufholen.

Man weiß ebenfalls, dass in einer wirtschaftlichen Integration die größten Sprünge in Richtung Konvergenz in den allerersten Jahren stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt werden die höchsten Gewinne gemacht, weil Arbeit und Kapital aus ineffizienter Nutzung freigegeben werden, Marktanreize übernommen werden, Kapital in die viel versprechendsten Investitionsmöglichkeiten fließt, der Grenznutzen bei den ersten neu eingesetzten Finanzmitteln und Arbeitskräften höher ist, benötigte Infrastruktur erstellt wird und neue Technologien eingeführt werden. Anders ausgedrückt: Das größte Aufholen zwischen den östlichen und westlichen Einkommens- und Produktivitätsniveaus hat bereits stattgefunden. Doch wissen wir vom amerikanischen Süden, dem italienischen Süden und der Nordinsel Japans, dass dieser Prozess äußerst langsam vorangeht, selbst wenn der anfängliche rasche Aufschwung berücksichtigt wird. Der Prozess ist um so langsamer, je weniger mobil die Beschäftigten eines Landes sind. Und der Prozess wird noch mehr verlangsamt – und die Arbeitsmobilität noch mehr verringert –, wenn die Regierungen zu viel sozialen Beistand leisten. Ganz offensichtlich sind beide Bedingungen in Deutschland vorhanden.

Mythen um das Wirtschaftswunder

Deutschland wird seine internationale Wettbewerbsfähigkeit behalten – aber das hat keine große Bedeutung. Um mit Paul Krugman zu sprechen: Wettbewerbsfähigkeit ist eine „gefährliche Zwangsvorstellung“. Natürlich können Nationen durch politische Maßnahmen auf bestimmten Gebieten bestimmte Firmen aus bestimmten Ländern fördern oder behindern. Sie konkurrieren aber nicht als Einheiten um wirtschaftliche Einkünfte. Es ist wichtig anzuerkennen, dass weder Exportleistungskraft noch Hochtechnologieproduktion ausreichende Anzeichen für wirtschaftliches Wohlergehen sind. Volkswirtschaften können ständig wachsen, selbst wenn sie über längere Zeiträume hin Nettoimporteure sind. In der Tat scheint es einen positiven Zusammenhang zwischen Wachstum und dem Import von Kapital und Waren zu geben, wie die USA und viele Entwicklungsländer zeigen. Andererseits können Volkswirtschaften Unternehmen vorweisen, die an der Spitze verschiedener Branchen stehen und eine Menge exportieren, ohne Wachstum zu schaffen wie im Japan der neunziger Jahre.

Es ist ein hartnäckiger Mythos, dass das deutsche Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre durch Exportsteigerungen eingetreten sei. Das trifft im besten Fall nur zum Teil zu. Die Vorstellung, das deutsche Wirtschaftsmodell habe wegen seiner Exportorientierung Erfolg gehabt, ist sogar völlig falsch. Der überwiegende Teil des deutschen Wachstums bis in die siebziger Jahre war das Ergebnis des Nachholens und Wiederaufbaus nach dem Kriege, wobei physisches Kapital angehäuft wurde, um Schritt zu halten mit dem vorhandenen mensch- lichen Kapital und den vorhandenen Ersparnissen, besonders angesichts der Preisstabilität. Es hatte nichts zu tun mit Exportorientierung, den Fähigkeiten der Arbeiter, der gewerkschaftlichen Mitbestimmung, den langfristigen Zeithorizonten der Investoren oder den engen Beziehungen zwischen Firmen und Banken. Die wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands bemisst sich nicht durch den Aufstieg oder Fall dieses „deutschen Modells“, selbst wenn durch dessen Veränderung manche Effizienzgewinne erzielt werden können. So ungern viele Deutsche das hören: Die Leistung Deutschlands als einer der Exportweltmeister ist in Wirklichkeit kaum von Bedeutung.

Viel wichtiger war, dass Deutschland in der gesamten Nachkriegszeit eine ausgewogene oder sogar positive Handelsbilanz hatte. Dies nicht durch Exporterfolge, sondern wegen der einfachen Tatsache, dass die Deutschen als Nation mehr sparen als investieren. Wirtschaftswissenschaftler kennen noch immer keine Erklärung für die nationalen Unterschiede in den Sparraten, und daher muss man es als eine kulturell oder institutionell verankerte Neigung ansehen, dass die deutschen Ersparnisse sich immer auf hohem Niveau bewegt haben. Der Überschuss von Ersparnissen gegenüber Investitionen ergibt sich jedoch zum Teil aus den niedrigen Kapitalerträgen in der deutschen Wirtschaft, was Binneninvestitionen entmutigt. Daher stellen Deutschlands überschüssige Sparsummen zwar insoweit einen Vorteil dar, als die Regierung keine Schulden in ausländischer Währung, nur wenige ausländische Gläubiger (abgesehen von Zentralbanken) und auch keinen Bedarf nach ausländischen Finanzmitteln hat. Zugleich bedeuten sie aber auch einen Nachteil, wenn es um die Gewinnung von Investoren geht. Die Währungsstabilität ist um den Preis des Ausschlusses produktiver Faktoren errungen worden – in diesem Fall von Investitionen und neuen Formen der Unternehmensfinanzierung.

Wie geht es hier weiter? Es wird eine sich verschärfende Konkurrenz zwischen Deutschland und den USA bzw. der EU und den USA um die wirtschaftliche Führung in einzelnen Sektoren geben. Dies resultiert nicht aus fundamentalen „Zwängen“ des Wettbewerbs oder gar aus Bemühungen der Regierungen um die nationale Wohlfahrt. Diese Konkurrenz entsteht, weil Deutschland, wie die USA und die meisten anderen OECD-Länder, die Leiter der Wertschöpfung hinaufsteigt. Man kann mehr und mehr Gewinn erzielen durch die Errichtung von Barrieren – durch Standardvorschriften, amtliche Zulassungen, Normalisierung, Markenschutz und dergleichen. Mit dem Aufkommen des einheitlichen europäischen Marktes entsteht eine Rivalität beim Setzen von Standards. Während zuvor die USA, die den Krieg gewonnen und den größeren Markt hatten, in der Lage waren, in den meisten Bereichen die Normen zu bestimmen, was amerikanischen Unternehmen Gewinne aus Monopolen oder zumindest aus der Position des Vorreiters einbrachte, setzt die EU jetzt zunehmend Normen, die mit denen der USA konkurrieren können – von der Galileo-Navigationstechnik über Umweltvorschriften und nationale Spitzenunternehmen in der Schnellimbiss-Industrie bis hin zur Begünstigung in der Dienstleistungsindustrie von lokal zugelassenen Medizinern und anderen im Medizinsektor Tätigen. Je nachdem, wie nachdrücklich Deutschland eine dirigistische Vorgehensweise innerhalb der EU verfolgt, wird Europa den USA bei diesem Nullsummenspiel härteren Widerstand leisten.

Wenn man die erste und die zweite Gewissheit anerkennt – dass die Angleichung der Ost-Einkommen an das West-Niveau keinen Aufschwung bewirken wird und dass es auf die „Wettbewerbsfähigkeit“ nicht des Landes als Einheit, sondern eines Sektors gegenüber dem anderen innerhalb Deutschlands und im trans-atlantischen Vergleich ankommt –, dann ist klar, dass nicht mit einem größeren Wirtschaftswachstum in Deutschland bis 2015 zu rechnen ist. Außerdem hängen bei den kleineren und weniger entwickelten Wirtschaften in der EU mehr Früchte weiter unten, die durch Reformen und Aufholen leichter zu ernten sind, wobei diese Länder auch noch bessere demographische Profile haben. Deshalb werden diese Wirtschaften höhere Wachstumsraten erzielen als die größeren, weiter entwickelten Wirtschaften (Deutschland, Frankreich, Italien). Selbst wenn die Wirtschaften der Beitrittsländer den Abstand in den Einkommensniveaus nicht mit einem Wirtschaftsaufschwung aufholen, werden sie dennoch in absehbarer Zukunft schneller wachsen als Deutschland.

Die makroökonomische Politik in der Eurozone wird diese Lage wahrscheinlich noch verschärfen. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist durch einen internationalen Vertrag verpflichtet, ihr Mandat für die Preisstabilität wahrzunehmen, die als eine für die ganze Eurozone gültige Inflationsrate definiert wird. Im Normalfall werden Transformationsländer oder entstehende Marktwirtschaften (wie die Beitrittsländer und noch immer Griechenland und Portugal) höhere Inflationsraten als entwickelte Wirtschaften aufweisen, da ihr Handelssektor sehr viel rascher an Produktivität gewinnt als der Sektor ihrer nicht gehandelten Binnendienstleistungen. Die gegenwärtige Zeitverschiebung der meisten Volkswirtschaften der Eurozone gegenüber dem Zyklus in Deutschland – sie sind wie etwa Irland bereit für eine Geldverknappung zu einem Zeitpunkt, da Deutschland eine Lockerung braucht, will es sich nicht in einer Rezession wiederfinden – wird wahrscheinlich anhalten. Eine Verknappung der Geldmittel durch die EZB wird eine deutsche Erholung abbrechen. Diese beiden Faktoren legen es nahe, dass Deutschland durchschnittlich eine niedrigere Inflationsrate als die durchschnittliche europäische Rate hat. Somit steht zu erwarten, dass das Wachstum der Nachfrage durch eine Geldpolitik gezügelt wird, die restriktiver ist als es innenpolitisch angebracht wäre.

Heruntergewirtschaftet

Was ist also die wahrscheinlichere Vorhersage für 2015? Die EU wird wohl einen harten dirigistischen Kern besitzen. Deutschland wird dem Deutschland von heute ganz ähnlich sehen – nur dass alles ein bisschen mehr heruntergewirtschaftet sein wird. Es wird außerhalb von Berlin und München nicht viele junge Leute geben, daher werden viele Städte weniger lebendig wirken. Illegale Einwanderergemeinden werden die Vorstädte kontrollieren. Und es wird überall Warteschlangen geben – besonders für medizinische Behandlung und für Dienstleistungen –, auch wenn das noch nicht mit der alten DDR zu vergleichen sein wird. Die neuen Bundesländer werden weit hinter dem Lebensstandard im Westen zurückliegen, und das 25 Jahre nach der Wiedervereinigung. Deutsche Unternehmen werden allgegenwärtig bleiben, ausländische Marken und multinationale Konzerne werden nicht weiter verbreitet sein als im Jahr 2004. Kann dieses ökonomische Schicksal vermieden werden? Nur wenn es Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 gelingt, so etwas wie „Nixon fährt nach Rotchina“ fertig zu bringen, oder wenn eine Kanzlerin Angela Merkel sich als neue Maggie Thatcher erweist. Doch darauf sollte man nicht viel verwetten.

Man muss sich New York City in den siebziger Jahren im Gegensatz zu dem Ende der neunziger Jahre vorstellen, dann sieht man Deutschland im Jahr 2015 – doch leider bewegt es sich in die falsche Richtung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 75 - 81.

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