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01. Sep 2004

Asiatische Ambivalenzen

Nach dem „asiatischen Wirtschaftswunder“ entbrennt nun die Diskussion darum, ob auch eine
politische Umgestaltung erfolgen müsse – und wenn ja, ob unbedingt nach westlichen Muster.
Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstituts der DGAP, analysiert Trends, aber
auch Risiken, denen sich der asiatische Kontinent gegenübersieht. Asiens Ambitionen sollten
vom Westen nicht unterschätzt werden.

Unser Umgang mit Asien ist hochgradig konjunkturell geprägt. Vier Begriffe haben in den letzten beiden Jahrzehnten diesen konjunkturellen Umgang besonders deutlich werden lassen: Nachdem das so genannte „asiatische Wunder“ die Gemüter erhitzt hatte, folgte eine intensive Diskussion um „asiatische Werte“, die, gerade als sie ihren vermeintlichen Höhepunkt erreichte, abrupt durch teils schadenfrohe, teils besorgte Debatten über die Auswirkungen der „asiatischen Krise“ abgelöst wurde. Rund fünf Jahre später scheint nun die Teilhabe am „asiatischen Boom“ das beherrschende Tagesthema zu sein.

Schlagworte wie „atlantische Gegenwart – pazifische Zukunft“ bereiteten bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre nicht nur besorgten Hütern der euro-atlantischen Stellung in der Welt Sorgen, sie hatten auch einen offensichtlich berechtigten ökonomischen Hintergrund. Da gab es wachsende Befürchtungen in Europa, von der Effizienz asiatischer Industriegesellschaften schon mittel- und erst recht langfristig überholt zu werden. Ein Blick auf ökonomische Wachstumsraten schien den Schluss nahe zu legen, dass insbesondere Europa allen Grund hatte, besorgt zu sein: Asiatische Industriegesellschaften wuchsen über viele Jahre mit durchschnittlich zweistelligen Zuwachsraten. Schätzungen der Weltbank für das Jahr 2020 prognostizieren unter den 15 führenden Weltwirtschaftsmächten allein sieben asiatische – darunter die Volksrepublik China sogar vor den USA auf dem ersten Platz.1 Nach Ostasien scheint sich mittlerweile – angeführt von Indien – auch Südasien auf einen ähnlichen Entwicklungsweg zu machen.

Nüchterne Zahlen beeindrucken in der Tat. Und sie dienen wieder und wieder als Beleg für eine Herausforderung, die sich mit reinen Zahlendemonstrationen kaum richtig umschreiben lässt. Obwohl Statistiken in Asien nur mit größter Vorsicht zu verwenden sind, liefern sie doch eine Scheinvergleichbarkeit, die sich je nach Interessenlage prächtig nutzen lässt. Vor zehn Jahren wurden Leser im Westen darüber informiert, dass ostasiatische Ökonomien 1960 nur 4% des weltweiten Bruttosozialprodukts produzierten, dieser Anteil aber 1991 auf 25% angestiegen war. Sieben führende asiatische Länder verfügten über 41% der weltweiten Bankreserven (nach 17% im Jahre 1980), die Sparrate lag bei durchschnittlich 30% im Vergleich zu 8% der G-7-Länder. Der transpazifische Handel der USA war 1993 mit 361 Milliarden Dollar doppelt so hoch wie der transatlantische und hat sich zwischen 1978 und 1991 vervierfacht. Auch der EU-Handel mit der Region erreichte 1992 mit 249 Milliarden Dollar einen deutlichen Vorsprung vor dem Handel mit den USA (209 Milliarden Dollar).2 Zehn Jahre später haben die damaligen Trends markante Verstärkung erfahren.

Einseitige Debatten

Auf diesem ökonomischen Nährboden konnten nur allzu leicht typische Diskussionsstrukturen entstehen, die Zweifel an der eigenen Entwicklung mit dem Reiz des Exotischen und vermeintlich viel Erfolgreicheren, eben mit den Auswirkungen des asiatischen Wunders, in Verbindung brachten. Es fehlte nur ein Auslöser, der sich Ende der achtziger Jahre sowohl auf westlicher als auch asiatischer Seite fand:

Im Westen war es der Einschnitt, der sich vom Fall der Berliner Mauer im November 1989 bis zum Zusammenbruch der UdSSR Ende 1991 und dem Ende des Ost-West-Konflikts erstreckte. Diese Ereigniskette führte auch zu einem Prozess der Suche nach neuen Erklärungsmustern der Strukturen und der Ordnung internationaler Politik, die bis heute im Wesentlichen erfolglos verlaufen ist. Keines der bisherigen neuen Feindbilder (Slobodan Milosevib, Saddam Hussein, Schurkenstaaten), nicht einmal das diffuse Schreckgespenst Terrorismus hat sich als tauglich erwiesen, die alten Feindbildmuster zu ersetzen. Konsens herrscht nur über die Leistungsfähigkeit von Demokratie und Marktwirtschaft. Diese in anderen Teilen der Welt, insbesondere auch in Asien zu etablieren, ist gleichsam zum Credo westlicher Politik geworden.

In Asien wurde diese westliche Konjunktur durch regionale Entwicklungen aufgenommen und verstärkt: Mit der Übergabe von Hongkong 1997 und Macão 1999 an China endete formal die Phase europäischer Kolonialeinflüsse in Asien. Hinzu kam damals für eine ganze Reihe von Ländern der Region die Erfahrung erfolgreicher nachholender Entwicklung, gepaart mit einem wachsenden Selbstbewusstsein und wachsenden antiwestlichen Ressentiments. Für autokratische Führer in Asien war es buchstäblich eine „Frage der Ehre“, nicht just in dem Augenblick, wo die historische Phase des westlichen Kolonialismus zu Ende ging, zum Opfer einer neuen, indirekten Form des Kolonialismus durch erfolgreiche westliche Ideen zu werden. Die Abwehr der modernisierungstheoretisch begründeten Erwartung, dass nach erfolgreicher Wirtschaftsentwicklung und entsprechendem sozialen Wandel auch für die autokratischen Eliten politische Konsequenzen anstehen könnten, schuf eine gefährliche Gegenreaktion, die in Ermangelung brauchbarer politischer Alternativen auf diffuse Wertemuster Bezug nahm.

Und so entstand die Grundfrage, die alle plagte: Wenn das 20. Jahrhundert das Jahrhundert Europas war, wird das 21. Jahrhundert dann das Jahrhunderts Asiens werden? Und würden die grundsätzlichen Werte, die diesem Jahrhundert ihre Prägung geben würden, vielleicht – wie auch immer definiert – „asiatische Werte“ sein?

Gerade diese Wertedebatte erweist sich als besonders symptomatisch. Ausgangspunkt war ein doppeltes Identitätsproblem: Auf europäischer Seite stellte man sich die Frage, ob nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Durchsetzung marktwirtschaftlich geprägter Wirtschaftsprinzipien nun auch die Durchsetzung politischer Prinzipien, die westlichen Demokratievorstellungen verpflichtet sind, folgen würde. Und auf asiatischer Seite lautete eine ganz ähnlich gelagerte Frage, ob nach der erfolgreichen ökonomischen Entwicklung in der Nachahmung Europas jetzt auch der Systemwandel erneut in Nachahmung Europas folgen müsse, oder ob politische Systeme entstehen würden, die sich zwar Demokratien nennen, aber typischerweise von „asiatischen Werten“ geprägt seien. Entstanden ist so ein akademisch-politischer Diskurs um „asiatische Herausforderungen“ und „asiatische Werte“, der im Westen geradezu begierig und selbstkritisch aufgegriffen wurde.

Zweifelsohne ist der asiatische Kontinent in vielfältiger Weise – politisch, ökonomisch und gesellschaftlich – in Bewegung und wird damit auch zu einer wachsenden Herausforderung für den Westen. Viele dieser Entwicklungen zeichnen sich erst in Anfängen ab, andere lassen sich bereits genauer fassen. Sie sollen im Folgenden in vier zentralen Trends, in Anbetracht hochgradiger Ambivalenzen aber ebenso in sieben besonders wichtigen Risiken skizziert werden. Denn auch in Asien gilt die Binsenweisheit: Wo viel Licht, da viel Schatten.

Vier Trends

Wesentliche Entwicklungstrends einer sich ständig verändernden globalen Ordnung dokumentieren sich in Asien. Vier davon können besonders hervorgehoben werden:

Der erste Trend wird dadurch charakterisiert, dass Globalisierung Asien immer stärker erfasst. Die wachsende Öffnung asiatischer Ökonomien für globalen Handel und Wettbewerb hat nicht nur negative Konsequenzen, wie sie jüngst in der deutschen arbeitsmarktpolitischen Diskussion zum Tragen kamen, sie zeigt auch erhebliche positive Effekte: China als billiger, aber effizienter Produktionsstandort, Indien als globale Software-Schmiede, Japan als Vorreiter in Spitzentechnologien – Asien ist nicht nur Schauplatz und Objekt, sondern längst zum Motor von Globalisierungseffekten geworden.

Der zweite Trend unterstreicht diese Entwicklung nachdrücklich: Die weltpolitische Rolle asiatischer Akteure wächst. In buchstäblich allen aktuellen weltpolitischen Konflikten sind asiatische Partner für den Westen von zentraler Bedeutung. Die Sechser-Gespräche in Beijing zur Lage auf der koreanischen Halbinsel wären ohne die aktive Beteiligung Chinas undenkbar. In Afghanistan und Irak sind mit Japan, Südkorea, den Philippinen, der Mongolei, Australien, Neuseeland, Singapur und Thailand gleich acht asiatische Staaten beteiligt. Auch entwicklungspolitisch zeigt Asien Präsenz: Japan ist zur wichtigsten Gebernation in Jordanien und Pakistan geworden, China wie auch eine ganze Reihe anderer Staaten engagiert sich entwicklungspolitisch immer stärker in Afrika. Großinvestitionen zur Erdölerschließung fließen u.a. nach Kasachstan, Sudan und Iran.

Der dritte Trend ist durch die laufende Debatte um die Rolle von Nationalstaaten, Souveränität und regionaler Integration geprägt. Obwohl der Kontinent nach wie vor von tief greifenden Konflikten zerrissen wird und auf staatliche Souveränität und Interessenpolitik deutlich größerer Wert gelegt wird als in Europa, sind die Bemühungen um zwischenstaatlichen Frieden und Entspannung (am deutlichsten abzulesen an den Entwicklungen zwischen Indien und Pakistan) und langsam voranschreitende Integration (insbesondere im Kontext des ASEAN-Prozesses) unverkennbar.

Die wachsende Kooperationswilligkeit in strategischen Politikfeldern wächst: Das ASEAN-Regionalforum (ARF) im sicherheitspolitischen, die Chiang-Mai Initiative im währungspolitischen und der „Asian Cooperation Dialogue“ (ACD) im energiepolitischen Bereich unterstreichen die wachsende Bereitschaft zum Aufbau kooperativer Netzwerke. Natürlich bestehen Risiken, wie etwa der Konflikt zwischen China und Taiwan, fort, aber die Bereitschaft, auf diplomatischem Wege zu Lösungsmustern zu finden und militärische Spannungspotenziale abzubauen, ist unverkennbar.

Der vierte Trend schließlich belegt eine einfache Tatsache: Bei hohen Chancen wachsen die Risiken. Selbstverständlich bergen die drei zuerst genannten Trends erhebliche Chancen für wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit den Ländern Asiens. Insofern ist das vermehrte Interesse insbesondere von Unternehmen an asiatischen Märkten auch gerechtfertigt. Aber es wäre leichtfertig, die unter der Oberfläche wirtschaftlicher Dynamik lauernden Risiken zu übersehen und anzunehmen, dass sie die Gesamtentwicklung Asiens in den nächsten Jahrzehnten nicht beeinträchtigen werden.

Sieben Risiken

Die Risiken, mit denen asiatische Staaten in Zukunft vorrangig konfrontiert sein werden, haben wenig mit tagespolitischen Aktualitäten zu tun. Sie verlaufen ausnahmslos in den Tiefenstrukturen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sind langfristiger Natur und nicht zügig und schon gar nicht ohne regionale oder globale Kooperation lösbar.

Zunächst fällt als politischer Risikofaktor eine viele Länder betreffende hohe innenpolitische Instabilität ins Auge. Viele Staaten Asiens sind weit davon entfernt, politisch solide Regierungssysteme aufzuweisen. Ein besonders markanter Fall ist sicherlich China (siehe den Beitrag Pei Minxins in diesem Heft). Die häufigsten Ursachen für mangelnde politische Stabilität lassen sich dreifach kategorisieren: ethnisch-religiöse Verwerfungen und das paradoxe Zwillingspaar ökonomischer Misserfolg und ökonomischer Erfolg. Verbesserte Kommunikations- und Informationsbedingungen machen es gerade autokratischen Führern immer schwerer, auf Informationsmonopole und repressive Kontrolle als zentrale Herrschaftsinstrumente zu setzen. Verschlechterte Lebensbedingungen führen ebenso zu Widerstand gegen autokratische Herrschaft, wie eine Verbesserung nach und nach zur Einforderung politischer Mitspracherechte führt.

Unter den Vorgaben westlicher Erwartungen scheint insofern ein sinnvoller Ausweg in einer nachhaltigen Demokratisierung zu bestehen. Demokratieförderung von außen ist insbesondere in den neunziger Jahren nach den Transformationserfahrungen Mittel- und Osteuropas zu einem besonders intensiv diskutierten Thema geworden. Gestützt auf die modernisierungstheoretische Annahme, dass erfolgreiche ökonomische Entwicklung zur Herausbildung von Mittelschichten und über kurz oder lang auch zur Demokratisierung eines politischen Systems führe, folgt nicht zuletzt die derzeitige amerikanische Außenpolitik einer an Banalität kaum zu überbietenden Milchmädchenrechnung: „Demokratien sind friedliebend, Risikostaaten sind undemokratisch. Sie zu demokratisieren führt zu mehr Frieden und Sicherheit. Dafür müssen letztlich auch militärische Mittel herangezogen werden.“

Die Realität zeigt jedoch ein anderes Bild: Für erfolgreiche Demokratisierung ist Hilfe von außen wichtig, aber sie kann nur dort gelingen, wo auch die innenpolitischen Voraussetzungen (vor allem die Existenz von Mittelschichten) gegeben sind und demokratiewillige Eliten als Partner zur Verfügung stehen. In vielen Ländern Asiens steht Demokratie deshalb noch ganz am Anfang. Von den Sonderfällen Deutschland und Japan nach 1945 abgesehen, ist Demokratie kein Exportgut, das nach Belieben und – wenn es sein muss – mit militärischer Gewalt in unterschiedlichste Teile der Welt „geliefert“ werden kann. Das Spannungsverhältnis zwischen politischer Destabilisierung und schleppender Demokratisierung wird Asien noch geraume Zeit prägen.

Neben diesen eher politischen Risiken gibt es eine Reihe von strukturellen Risiken, die keineswegs unterschätzt werden dürfen: Das nach wie vor hohe Bevölkerungswachstum in vielen asiatischen Ländern gehört zweifelsohne dazu. Asiens Bevölkerung ist im letzten Jahrzehnt um 500 Millionen Menschen auf 3,5 Milliarden gestiegen. Schätzungen gehen von einem weiteren Wachstum auf fünf Milliarden in den nächsten 30 Jahren aus. Die potenziellen Folgen einer solchen ungebremsten Entwicklung sind dramatisch: Mangelnde Nahrungsversorgung, fehlende Arbeitsplätze, unzureichende Gesundheitsversorgung, aber auch wachsende Kriminalität, Drogenmissbrauch, Waffenhandel, ökologischer Raubbau und potenzielle Spannungen zwischen Staaten bilden einen Teufelskreis, aus dem nur wenige Länder aus eigener Kraft einen Ausweg finden dürften. Vereinzelte Lichtblicke wie in China, Singapur und Südkorea ändern nichts an der Dramatik des Gesamtbilds.

In diesem Zusammenhang lässt sich als vielleicht vorrangiges Risiko Asiens die Überwindung von Armut benennen. Derzeit leben fast 900 Millionen Asiaten unter dem Weltbank-Kriterium von einem Dollar pro Tag – nach Angaben des BMZ 500 Millionen in Südasien, 250 Millionen in Ostasien und 130 Millionen in Südostasien. In Kombination mit regionalen und sektoralen, religiösen und geschlechtsspezifischen Verschärfungsfaktoren entstehen Problemüberlagerungen, die westliche Empfehlungsrezepturen in aller Regel zur Makulatur machen. Kurzfristige Abhilfe ist illusorisch.

Behebbar wäre das Problem der Armut und seiner Folgeprobleme nur durch eine Kombination von kontrolliertem Bevölkerungswachstum und nachhaltiger ökonomischer Entwicklung. Davon ist der Kontinent insgesamt noch weit entfernt. Entsprechend stellen die Asien-Regionalkonzepte des Auswärtigen Amtes vom Mai 2002 fest: „Asiens demografisches Wachstum bleibt, bis auf wenige Ausnahmen in Ostasien, bedrohlich. … Diese Entwicklung konterkariert die Armutsbekämpfung, führt zu stärkerer Ressourcenbeanspruchung, löst Flüchtlingsbewegungen innerhalb Asiens aus und wird durch Migrationsdruck bis nach Europa und Amerika zu einer globalen Belastung. Zudem wächst in den asiatischen Ländern … der Energiebedarf enorm. Die Auswirkungen auf den Weltmarkt, die Umwelt und das Klima sind kaum zu überschätzen.“3

Daraus ergibt sich eine dritte Gruppe von „weichen“ Risikofaktoren, die auch in Asien ihren Ursprung haben und globale Wirkungen zeigen. Nicht zuletzt durch die Debatten um HIV/AIDS, SARS und die Verbreitung der Vogelgrippe erweist sich der Faktor Gesundheit als besonders sensitiv gegenüber globalen Verbreitungseffekten. Gesundheitssysteme in Asien sind generell schlecht entwickelt. Vielen Staaten fehlen noch immer die finanziellen und medizinischen Möglichkeiten einer effektiven präventiven Seuchenbekämpfung. Wachsende Mobilität tut ein Übriges, um solche Gefahren in Windeseile über den ganzen Globus zu verbreiten. Auch hier ist es mit westlicher Hilfe allein nicht getan. Die Risiken werden uns so lange begleiten, bis es gelungen ist, auf der Grundlage ökonomischer Verbesserungen die Lebensbedingungen insbesondere in den Ballungszentren so zu verändern, dass die Entstehungs- und Verbreitungsgefahr von Seuchen minimiert werden kann.

Nach allen internationalen Einschätzungen ist Asien längst der Kontinent mit der stärksten Umweltzerstörung. Die Einflussfaktoren liegen auf der Hand: Wirtschaftswachstum und Verstädterung, Bevölkerungswachstum und Erschließung landwirtschaftlicher Nutzflächen, Abwässer, Müllberge und Luftverschmutzung bilden nur die offensichtlichen Glieder einer ganzen Kette von Faktoren, die zur fortschreitenden Verschlechterung umweltpolitischer Rahmenbedingungen beitragen. Abhilfe ist nur in seltenen Fällen in Sicht und wäre daran gebunden, dass staatliche Akteure die notwendigen Implementierungs- und Kontrollinstrumente zur Verfügung hätten.

Die Nachfrage nach billiger – bzw. überhaupt nach Energie steigt naturgemäß proportional mit dem wirtschaftlichen Wachstum. Schon heute können Autofahrer in Deutschland an stetig steigenden Benzinpreisen ermessen, dass eine steigende Nachfrage in Asien unmittelbare Auswirkungen auf ihr eigenes Konsumverhalten hat. China und Indien, aber auch alle anderen nachholenden Entwicklungsländer werden mit ihrem Energiebedarf in immer stärkerem Maße zu Konkurrenten des Westens auf den internationalen Märkten. Die Gefahren wirtschaftlicher Einbrüche, aber auch zwischenstaatlicher Konflikte um Energie (z.B. im derzeit beruhigten Konflikt im südchinesischen Meer) bleiben in Asien auf längere Sicht virulent.

Schließlich heißt die zentrale innen- und außenpolitische Problematik für viele Staaten Asiens: Sicherheit und Proliferation. Im Zeitalter der Bekämpfung von internationalem Terrorismus liegt ein Schwerpunkt auf Massenvernichtungswaffen und „Schurkenstaaten“. Nach dem Krieg gegen Irak verbleiben mit Iran und Nord-Korea noch zwei besonders sensitive Staaten, die insbesondere von den USA mit Argusaugen beobachtet werden. Islamischer Radikalismus hat vor allem in den Staaten Südostasiens – Indonesien, Malaysia, Singapur und den Philippinen – starken Zulauf. Obwohl viele dieser Bewegungen einen lokalen und häufig separatistischen Charakter tragen, stellen sie Ansprechpartner für globale Terrornetzwerke wie Al Khaïda dar. Alle bisherigen Versuche sowohl der betroffenen Staaten als auch des Westens sind auf die Bekämpfung von Symptomen reduziert und wenig dazu geeignet, erfolgreich das Umfeld, in dem Terror erst entstehen kann, zu verändern. Neben dem Nahen und Mittleren Osten bleiben insbesondere süd- und südostasiatische Staaten Hauptquellen für terroristische Aktivitäten.

Fazit

Viele Länder Asiens haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchaus erfolgreich nachholende Entwicklung betrieben. Es reicht aber nicht aus, nur die ökonomischen Leistungsbilanzen in den Blick zu nehmen. Der riesige asiatische Kontinent strotzt regelrecht vor politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ambivalenzen.

Eine gute Strategie für unseren Umgang mit den Ambivalenzen Asiens und seinen vielfältigen Herausforderungen gibt es nicht. Es kann sie auch nicht geben, weil uns unsere eigenen Ambivalenzen im Wege stehen. Und es darf sie auch nicht geben, weil Asien zu groß und zu differenziert ist, um einer einzigen, in sich geschlossenen Strategie zugänglich zu sein.

Größere Aufmerksamkeit für Entwicklungen in Asien erscheint aber mehr als angebracht. Traditionelle Differenzen zwischen geisteswissenschaftlicher Textexegese und sozialwissenschaftlicher Empiriefixierung helfen hier nicht weiter. „Asien-Konzepte“ können die Debatte vorantreiben, aber sie ersetzen keine praktische Politik.

Deutschland wird nicht nur – wie das geflügelte Wort von Verteidigungsminister Peter Struck nahe legt – am Hindukusch verteidigt, deutsche (und europäische) Wirtschafts- und damit auch Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik werden längst durch Entwicklungen in Asien entscheidend mitbestimmt. An unserem Umgang mit Asien zeigt sich die wachsende Verflechtung deutscher Innen- und Außenpolitik besonders eindrücklich.

Auch wenn der Gedanke zunächst schwer fällt: Es ist längst an der Zeit, asiatische Länder nicht mehr nur als Objekte, Märkte oder Chancen für den Westen zu begreifen. „Von Asien zu lernen“ würde auch manch einer innenpolitischen Debatte hierzulande gut tun. Bei allem Willen zur Verteidigung des Althergebrachten zeichnen sich wesentliche Veränderungen in asiatischen Gesellschaften durch Hunger auf Verbesserung und nicht durch verbissene Verteidigung der Leistungen früherer Generationen aus. Europäische Beharrungsapostel können sich von Asiens Innovationskraft durchaus eine Scheibe abschneiden.

Anmerkungen

1  Vgl. Paul Krugman, The Myth of Asia’s Miracle, in: Foreign Affairs, November/Dezember 1994, S. 62–78.

2  Robert A. Manning/Paula Stern, The Myth of the Pacific Community, in: Foreign Affairs, November/Dezember 1994, S. 79–93.

3  Die Regionalkonzepte zu Süd-, Südost- und Ostasien vom Mai 2002 des Auswärtigen Amtes sind zu finden unter: <http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/aussenpolitik/ regionalkonzepte/asien/index_html>.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2004, S. 1‑8

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