Arbeiter aller Länder, vermarktet euch!
Vor der Ära der Selbstausbeutung: Jetzt ist politische Phantasie gefragt
Was wir derzeit erleben, ist weder das Ende der Arbeitsgesellschaft noch ein konsum- und erlebnisorientierter Postkapitalismus oder gar die Freizeitgesellschaft – sondern das genaue Gegenteil: Im Zuge des rasanten Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft entsteht eine durch und durch von Arbeit geprägte Gesellschaft. Kurzum: Die Arbeitsgesellschaft ist nicht am Ende, sie hat gerade erst angefangen. Und diese Arbeitsgesellschaft ist weit stärker als bisher durch ökonomische Prinzipien bestimmt, die – ganz ohne voreilige Wertung – mit dem Begriff „kapitalistisch“ zu beschreiben sind.
Um diese Prozesse zu erklären, verwenden die Arbeits- und Industriesoziologen zwei Begriffe: Entgrenzung und Subjektivierung. Entgrenzung bedeutet, dass viele gewohnte Strukturen zur Regulierung von Beschäftigung und Arbeit, die den Beteiligten Orientierung und Sicherheit geboten haben, in Bewegung geraten, also flexibilisiert und an vielen Stellen abgebaut werden.
Es geht jedoch auch um eine Entgrenzung des Arbeitenden und seiner Lebensbedingungen. Aus den durch stabile Sozialverhältnisse relativ geschützten Arbeitnehmern müssen im Zuge des Wandels flexible „Arbeitskraft-Unternehmer“ werden. Sie entwickeln und vermarkten ihre Fähigkeiten und organisieren das immer prekärere Verhältnis von Arbeit und Leben. Sie haben dabei die Möglichkeit, mehr als bisher zu selbstbestimmten Subjekten ihres Arbeitens und Lebens zu werden, müssen aber dazu andererseits auch in der Lage sein. Die Folgen einer solchen stark ambivalenten „Subjektivierung“ der Arbeitswelt und damit der Entstehung eines neuen „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) sind erheblich. Ziel ist offensichtlich nur bedingt, den arbeitenden Menschen neue Gestaltungschancen zu geben – auch wenn das gelegentlich behauptet wird und für einzelne Gruppen zutreffen mag. Es geht eher um eine neue Qualität der wirtschaftlichen Verwertung: eine flexiblere und intensivere Nutzung menschlicher Potenziale. Meist wird in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass nicht mehr nur Teilaspekte von Arbeitskräften genutzt werden sollen, sondern die arbeitenden Personen als ganze. Die möglichen Konsequenzen dieser Subjektivierung sind gravierend: von Selbstausbeutung über einen wachsenden „totalen“ Zugriff auf Arbeitende bis hin zu Problemen der Work-Life-Balance und Überlastungssyndromen wie Angst- und Depressionserkrankungen.
Selbst ist der Mensch
Ein zentrales Element dieses sich neu formierenden und eine erstaunliche Blüte erlebenden „neuen Kapitalismus“ (u.a. Sennett) ist die angesprochene weitgehende Öffnung von Strukturen. Wichtige Funktion dieser Entgrenzung ist die Erschließung neuer oder bisher nur wenig ökonomisch verwerteter Potenziale auf allen Ebenen – global, national, betrieblich, zwischenbetrieblich, menschlich. „Subjektivierung“ bezeichnet hier die verstärkte ökonomische Nutzung und Verwertung von menschlichen Potenzialen. Dabei geht es bisher nur ansatzweise um wirtschaftlich genutzte Tiefenschichten von Menschen und individuelle Eigenschaften wie Emotionalität, Kreativität, Erfahrung, Solidarität. Es geht vor allem um die genuin menschliche Fähigkeit zur bewussten Selbststeuerung, die in den bisherigen Arbeitsverhältnissen oft nur wenig zum Zuge kam oder sogar systematisch unterdrückt wurde. Weithin werden soziale Verhältnisse nicht nur in der Erwerbssphäre auf Selbstzuständigkeit oder Selbstverantwortung umgestellt. Das Schlagwort von der „Individualisierung“ erscheint vor diesem Hintergrund fast als Euphemismus.
Die Entwicklung moderner Ökonomien beruhte durchgängig auf einer expandierenden Ressourcenerschließung, die man altmodisch auch als „Landnahme“ bezeichnen könnte. Entscheidendes Moment einer neuen Entwicklungsstufe der Ressourcenerschließung könnte die forcierte Landnahme von Subjektivität oder von humaner Lebendigkeit sein. Letztlich handelt es sich also um eine Art ökologische Frage, die hier aber nicht die verstärkte wirtschaftliche „Vernutzung“ der den Menschen umgebenden äußeren Natur betrifft, sondern die seiner eigenen „inneren“ Natur.
Politisch gesehen sollte das geschilderte Szenario bei aller Zuspitzung nicht vorschnell einseitig interpretiert werden. Die angedeutete Entwicklung ist stark ambivalent und vor allem nicht zwingend vorherbestimmt. Der Wandel von Arbeit und Gesellschaft folgt nicht vermeintlichen Naturgesetzen der kapitalistischen Ausbeutung oder des Marktes. Es zeigt sich lediglich ein möglicher neuer Entwicklungspfad, der zwar hochgradig von kapitalistischen Spielregeln bestimmt wird, aber durchaus Spielräume aufweist, die politisch genutzt werden können und müssen. Der sich abzeichnende verstärkte Zugriff auf Subjektivität etwa muss keineswegs nur mit einer zunehmenden zerstörerischen Vernutzung von Potenzialen einhergehen, sondern kann erhebliche Chancen für eine neue Wertschätzung der Subjekte und für individuelle Freiheiten bedeuten. Wie dies jedoch konkret für welche Gruppen ausgeht, wird davon abhängen, ob und wie der Übergang gestaltet wird – staatlich, betrieblich, zivilgesellschaftlich und privat. Auf jeden Fall muss es gelingen, die Menschen zu schützen und ihnen Sicherheit zu geben, damit sie in den neuen Verhältnissen nicht nur menschlich leben, sondern die erwarteten neuen Leistungen überhaupt erbringen können. Stimmt die skizzierte Diagnose, dann wird das weniger denn je mit starren und sozial breitflächigen Mechanismen gelingen, wie sie für die nun schnell ausklingende Phase der Gesellschafts-gestaltung typisch waren, sondern nur mit Formen, die systematisch die neue Bedeutung von Individualität oder Subjektivität aufgreifen und die Menschen ernsthaft fördern statt sie nur zu fordern. Für viele soziale oder politische Instanzen, seien es die Gewerkschaften oder die staatliche Administration, erfordert das ein grundlegendes Umdenken, da sie bisher starr auf eine rigide überindividuelle Regulierung ausgerichtet waren.
Wie derartige neue subjektivierte Formen sozialer Sicherung und Gesellschaftsgestaltung konkret aussehen können, ist kaum vom Schreibtisch aus zu formulieren. Wie bei der Entstehung der – bemerkenswert erfolgreichen– sozialen Regulierungen von Gesellschaft und ihrer Institutionalisierungen der letzten 50 bis 80 Jahre in unserer Hemisphäre ist es erneut eine genuin praktische Frage. Die sozialen Regulierungen werden in einem schrittweisen und unvermeidlich schmerzhaften wie fehlerträchtigen Prozess aus den Erfordernissen der betroffenen gesellschaftlichen Realität entstehen müssen. Dabei dürfen jedoch nicht allein politische Machbarkeit, Machtkalkül, Finanzierbarkeit und kurzfristige Erfolgsbilanzen die Leitlinien sein. Gerade jetzt ist ein an Nachhaltigkeit orientiertes visionäres und sogar utopisches Denken gefragt – etwa bei der Idee eines unbedingten Grundeinkommens. Politik und Wissenschaft müssen dabei ihren Beitrag zur Entwicklung in Form politischer oder sozialer Phantasie leisten.
Prof. Dr. G. GÜNTER VOSS lehrt Industrie- und Techniksoziologie an der TU Chemnitz.
Internationale Politik 9, September 2008, S. 56 - 58