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01. Juli 2005

Arabischer Frühling

Der Libanon, die nahöstlichen Christen und die arabische Kultur

Arabien ist nicht gleich Islam. Für eine Demokratisierung sind die Christen unerlässlich

Die Wahlen im Libanon erinnern daran: Die arabische Welt ist nicht identisch mit dem Islam. Christen spielen eine große Rolle in der arabischen Politik und Kultur. Auf dem Weg zu einem demokratischen Nahen Osten könnte es besonders auf die Christen ankommen. Denn sie stehen für eine moderne Zivilgesellschaft jenseits religiöser Zugehörigkeit.

1. Das nahöstliche Christentum gleicht einem Mosaik von Gemeinschaften unterschiedlicher Glaubensrichtungen und nationaler Zugehörigkeit. Dessen Entstehungsgeschichte hängt eng zusammen mit den Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte über das Christusbekenntnis sowie mit der Tätigkeit römisch-katholischer und protestantischer Missionare in der Neuzeit.1 Die Existenz dieser nahöstlichen Christen, vor allem im Libanon, in Syrien, Jordanien, Palästina und Ägypten, erinnert daran, dass die Zugehörigkeit zur arabischen Welt und Kultur nicht ohne weiteres mit der Zugehörigkeit zum Islam gleichgesetzt werden darf. Auf der arabischen Halbinsel und im syrischen Raum gab es arabischsprachige Christen schon vor der Entstehung des Islams. Das Christentum scheint sich unter den Arabern verbreitet zu haben, lange bevor Mohammad, der Prophet des Islams, im anbrechenden 7. Jahrhundert wirkte. Der Kirchenlehrer Hieronymus (347–419) weiß von einem gewissen Hilarion zu berichten, der an der Christianisierung zahlreicher beduinischer Stämme beteiligt war. Euseb von Cäsarea erwähnt Beryllus von Bosra als Bischof der Araber im 3. Jahrhundert.2 Es ist historisch belegt, dass Bischöfe aus der römischen Provinz Arabia an den großen Kirchenversammlungen 381 in Konstantinopel (Istanbul) und 451 in Nizäa (Iznik) teilnahmen. Im 5. Jahrhundert sicherten christlich-arabische Königreiche die Grenze zwischen dem Byzantiner- und Perserreich sowie der arabischen Halbinsel. Und auch die vorislamische Poesie scheint auf eine aktive Teilnahme der Christen am kulturellen Leben auf der arabischen Halbinsel hinzuweisen.

2. Das Erscheinen des Islams brachte die Christen in tiefe Verlegenheit. Somit überrascht nicht, dass vieles, was die Christen im Vorderen Orient seit dem 8. Jahrhundert über den Islam schrieben, von apologetisch-polemischem Charakter war und die Richtigkeit des Christentums beweisen sollte. Doch die christlich-muslimischen Beziehungen hatten noch eine andere Seite. Es gab einen regen Austausch in der kulturellen Sphäre. Die Muslime verließen sich auf erfahrene Christen, was Technik, Kunst und Staatsverwaltung betraf, um die Infrastruktur ihres neuen Imperiums aufzubauen. Ihr Verlangen nach Wissen, ausgelöst vor allem durch die Begegnung mit kulturell überlegenen Völkern wie Byzantinern und Persern, setzte eine massive Übersetzungstätigkeit in Gang, die die griechische Philosophie und andere damals bekannte Wissenschaftszweige erfasste und besonders von christlichen Gelehrten ausgeführt wurde. Hauptzentren dieser kulturellen Interaktion waren Damaskus, Hauptstadt der arabischen Dynastie der Umayyaden (662–750), und Bagdad, die von der Dynastie der Abbasiden (750–1258) gegründete Metropole am Tigrisufer.

3. Der Status der Christen im islamischen Reich wurde durch das so genannte „Dhimmasystem“ bestimmt, demzufolge sie als Geschützte der Muslime galten, weil das Prophetentum Jesu vom Koran anerkannt wird. Aus der Perspektive der Menschenrechtserklärung ließ dieses Dhimmasystem viel zu wünschen übrig. Es stand dennoch im Vergleich mit den vorherrschenden Verhältnissen in Byzanz und dem Karolingerreich für ein hohes Maß an Toleranz Andersgläubigen gegenüber. Das Dhimmasystem führte aber zur allmählichen Marginalisierung der Christen. Denn sie lebten in einer Gesellschaft, in der islamische Identität politische und gesellschaftliche Legitimität bedeutete. Diese Marginalisierung machte die Christen faktisch zu einer „qualitativen Minderheit“.3 Sie nahm in dem Maße zu, wie die arabischen Muslime in technischer, künstlerischer und intellektueller Hinsicht auf die Christen verzichten konnten, nachdem ihr islamisches Gemeinwesen organisiert worden war. Vor allem unter den nichtarabischen Dynastien wie den Fatimiden und den Mamelucken kam es zu mehr oder weniger organisierten Christenverfolgungen, die sich intensivierten, wenn die letzteren mit fremden Eroberern wie Mongolen und Kreuzfahrern zu sympathisieren schienen. Infolgedessen wurden die nahöstlichen Christen allmählich von einer qualitativen zu einer quantitativen Minderheit. Unter der osmanischen Herrschaft (1517–1918) erreichte das Dhimmasystem ein hohes Maß an Kodifizierung, was die Entstehung des so genannten „Milletsystems“ hervorbrachte. Die Millet (Juden, orthodoxe Christen etc.) waren religiöse Obergemeinschaften, „die sich in einem sozialen Körper organisierten und eine relative Autonomie vor allem im juristischen Bereich genossen“.4 Bemerkenswerterweise nahm die Anzahl der Christen im so genannten „fruchtbaren Halbmond“ unter den Osmanen wesentlich zu, was aufs Ganze gesehen für eine relative soziale Stabilität spricht.

4. Die soziale und politische Ungleichheit zwischen nahöstlichen Christen und Muslimen im Laufe des Mittelalters und bis zum Anbruch der Neuzeit darf nicht als einziges charakteristisches Merkmal der christlich-islamischen Beziehungen gesehen werden. Denn trotz Spannungen, Vorurteilen und gelegentlicher Gewalt bildeten sich über die Jahrhunderte „Begegnungsräume“ heraus, in denen man die ethischen Werte des Anderen zu erkennen und zu schätzen wusste. So kam es auf der Ebene des einfachen Volkes zum „Austausch vieler Lebens- und Gefühlsweisen und zu einem nahezu gleichen Bewusstsein der Gottestranszendenz“.5 Gerade im Bereich der Spiritualität ließen sich die Muslime von den Christen stark beeinflussen – etwa in der islamischen Mystik, die vom orthodoxen Islam heftig kritisiert wird.

5. Der hermeneutische Schlüssel, um das Verhalten der Christen im Vorderen Orient um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu erschließen, ist mit einem einzigen Wort gegeben, nämlich „Nahda“. In der Regel als „Renaissance“ oder „Wiedergeburt“ übersetzt, bedeutet es wörtlich die Bewegung von einer unteren zu einer oberen Körperhaltung. Im Arabischen wird dieser Begriff sowohl für die europäische Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert als auch für die Blüte von arabischer Sprache und Literatur nach Napoleons Feldzug in Ägypten (1798) gebraucht. Die arabische Nahda war zwar kein rein christliches Phänomen. Es ist aber nicht zu leugnen, dass Christen in den avantgardistischen Kreisen der Journalisten, Literaten und Wissenschaftler, von denen die Nahda ausging, besonders stark vertreten waren. Diese Beobachtung gilt nicht nur für Ägypten und den Libanon, sondern auch für die so genannte Mahjar-Bewegung, d.h. für jene Autoren, die in die USA oder nach Südamerika auswanderten und dort auf Arabisch veröffentlichten. Während in den USA Christen wie Khalil Gibran (1883–1931), Michail Nheimeh (1889–1988) und Eliah Abu Madi (1889–1957) entscheidend zur Herausbildung einer modernen Literatursprache und neuer literarischer Gattungen beitrugen, spielten in der Levante christliche Journalisten wie Farah Antun (1874–1922) und Gurgi Zaidan (1861–1914) eine zentrale Rolle dabei, die aufklärerischen Ideen von Fortschritt und Bildung zu verbreiten und einen neuen literarischen Geschmack zu prägen.6

Auf politischer Ebene ist die Nahda stark mit der Entwicklung der Ideologien des syrischen und panarabischen Nationalismus verbunden. Als christliche Theoretiker dieser zwei militanten politischen Bewegungen gelten vor allem der Libanese Antun Saadeh (1904–1949) und der Syrer Michel Aflaq (1910–1989). Die nationalistischen Ideen entwickelten sich unter dem Eindruck europäischer Denkmuster, die in die arabische Welt einsickerten, verbunden mit der Unzufriedenheit mit osmanischer Willkür und Eingriffen der westlichen Mächte vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Die neuen politischen Programme riefen zur Gründung eines Großsyriens im Raum des fruchtbaren Halbmonds oder eines panarabischen Staates auf. Beide waren sich aber einig, dass Geschichte und Sprache den Christen, Muslimen und Juden gemeinsam gehörten. Das neue politische Denken verdichtete sich in dem impliziten Anliegen, das Dhimmasystem zugunsten eines gleichberechtigten Bürgerdaseins zu überwinden. Oft wurden die gemeinsamen ethischen Prinzipien von Islam und Christentum hervorgehoben, die dogmatischen Unterschiede ausgeblendet. Bisweilen wurden die Christen sogar dazu aufgefordert, den Islam in ihr kulturelles Erbe einzubeziehen.

Das Scheitern des Nationalismus

6. Die von den Christen intensiv mitgestaltete nationale Bewegung, die darauf zielte, die arabische Gesellschaft nach dem europäischen Modell zu modernisieren und authentische demokratische Strukturen zu etablieren, war zum Scheitern verurteilt. Denn als Reaktion auf die Gründung des Staates Israel und auf das arabische Versagen, sich mit diesem Problem erfolgreich auseinander zu setzen, entstanden militärische Diktaturen mit pseudo-sozialistischer Ideologie, oder es verfestigten sich Dynastien, die sich meistens als Satelliten der amerikanischen Politik erwiesen. Unter dem Vorwand, nur so Israel wirksam bekämpfen zu können, wurden die Freiheit niedergeschlagen, der politische Pluralismus verhindert und die wirtschaftlichen Probleme heruntergespielt. Sowohl der letzte libanesische Bürgerkrieg (1975–1990) als auch der zunehmende Islamismus können als Symptome oder Folgen dieses Scheiterns des nationalistischen Projekts angesehen werden.

7. Doch gerade das nationalistische Projekt stand für die christliche Hoffnung, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit eine gemeinsame politische und gesellschaftliche Grundlage mit den Muslimen zu finden und dadurch das Dhimma- und Milletsystem zu überwinden. Angesichts der mit dem Scheitern des nationalistischen Modells einhergehenden Frustration der nahöstlichen Christen lässt sich heute bei vielen von ihnen ein paradoxes Verhalten erkennen: zum einen die Tendenz, sich in das Religiöse oder das national Eigene (das Koptische, das Syrische) zurückzuziehen und sich somit weniger für die Probleme, die sie und die Muslime teilen, sensibilisieren zu lassen; und zum anderen die christliche Rolle in der arabischen Nahda überzubetonen, als wollte man den Mangel an gegenwärtigem politischen Engagement dadurch ausgleichen, dass man sich auf die Errungenschaften der Vergangenheit zurückbesinnt. Meistens ist solch eine Einstellung von der Neigung begleitet, undifferenziert einen als abstrakte Größe aufgefassten Islam dafür verantwortlich zu machen, dass sich der Traum von einer modernen und pluralistischen arabischen Gesellschaft nicht realisiert hat.

8. Allerdings verhindert eine solche Sichtweise vieler Christen, das kulturelle Potential, das der Nahda-Bewegung innewohnte, jenseits der versäumten politischen Chancen wahrzunehmen. Denn das Verdienst der Nahda bestand nicht nur darin, dass Christen und Muslime unter einer gemeinsamen nationalistischen Idee zusammenkommen konnten. Die Nahda zeigte, dass die Zugehörigkeit der Christen zur arabischen Kultur selbstverständlich war und sich auch dann als fruchtbar erweisen konnte, wenn man sich bewusst nicht zum Islam bekannte. Zwar muss diese Position im Kontext der Gefährdung der arabischen Identität durch das Osmanentum verstanden werden. Aber sie hat zweifellos auch außerhalb dieses Kontexts enorme Auswirkungen: Durch sie nämlich können sich nahöstliche Christen als gleichberechtigte Araber fühlen. Sie sind somit immer wieder dazu aufgerufen, die arabische Kultur aktiv mitzugestalten und sich dementsprechend, sei es theologisch-philosophisch, künstlerisch oder sozial-politisch, zu artikulieren und zu engagieren. Auf diese nichtislamische Weise in der arabischen Kultur verankert zu sein, bedeutet aber keineswegs, den Islam zu ignorieren oder als fundamentalistisch zu verteufeln. Denn gerade heute, wo das 20. Jahrhundert vielen Menschen im Vorderen Orient als ein „Jahrhundert für nichts“7 erscheint, müssen die nahöstlichen Christen den Islam wahrnehmen, wenn sie sich nicht in ein Ghetto begeben wollen. Hierbei kann der Geist der Nahda helfen. Denn er gibt dem Islam einen Platz in der Lebens- und Gedankenwelt der nahöstlichen Christen, auch wenn viele Nahda-Denker dazu tendierten, Islam und Christentum auf ihre ethische Dimension zu reduzieren und daher das Religiöse insgesamt zu relativieren.

9. Umgekehrt darf aber dieser Nahda-Geist nicht verabsolutiert werden. Denn die kulturellen wie die politischen Protagonisten der Nahda-Bewegung vertraten häufig allzu vereinfachende Geschichtsauffassungen. Sie erlagen der Versuchung, eine gemeinsame Geschichte von Christen, Muslimen und Juden zu idealisieren, um sie für ihr kulturell-politisches Modell funktionalisieren zu können. Aber es gibt nicht nur die schöne Geschichte von den harmonischen Beziehungen, sondern auch viele betrübliche Geschichten von Intoleranz. An dieser ideologischen Verharmlosung des geschichtlichen Bewusstseins waren die Theoretiker der Nahda schuld, unabhängig davon, ob sie Christen, Muslime oder nicht religiös waren. Darum muss man heute nicht nur die Chancen, sondern auch die Grenzen und Defizite der Nahda-Bewegung im Sinn behalten. Eine primäre Aufgabe in dieser Hinsicht wäre, die historische Vielfalt mit ihren positiven und negativen Erlebnissen anzuerkennen und auf diese Weise zu einem gemeinsamen Gedächtnis, zu einer differenzierteren und weniger „mythischen“ Wahrnehmung von Geschichte zu gelangen.

10. Viele Christen im Vorderen Orient sind heute der Auffassung, die christliche Präsenz in der Region sei sinnvoll, weil die Christen eine unerlässliche Rolle spielen. So heißt es, Christen seien Brückenbauer zwischen einem arabisch-islamischen Orient, mit dem sie dieselbe Sprache teilen würden, und einem christlichen Okzident, mit dem sie eine auf dem Christentum basierende Kultur gemeinsam hätten. Oder man verweist, gerade im Libanon, auf den wissenschaftlichen Vorrang christlicher Schulen und Universitäten, sofern das Bildungswesen an seiner Leistungsfähigkeit gemessen wird. Vor allem in christlich-palästinensischen Kreisen wurde in den letzten Jahren oft geltend gemacht, die Rolle palästinensischer Christen bestehe im Nachweis, dass der nahöstliche Konflikt kein religiöser zwischen Islam und Judentum ist, sondern ein politischer zwischen Israel und dem palästinensischen Volk. Es versteht sich von selbst, dass in diesem christlichen Diskurs manchmal auch die Nahda als ein fast ausschließlich christliches Produkt angesehen wird.

11. Solch ein Diskurs, der eine reale oder fiktive Rolle der Christen in der arabischen Welt in diesem oder jenem Bereich voraussetzt und betont, darf nicht einfach verurteilt werden. Gefährlich wird er aber, wenn er darauf hinausläuft, dass die Christen für ihre arabisch-islamische Lebenswelt von Nutzen sein müssen, damit sie weiter bestehen dürfen. Damit werden die Christen unter Druck gesetzt, immer wieder ihre Existenzberechtigung nachweisen zu müssen. In zahlreichen historischen Darstellungen wird die gesamte Geschichte der nahöstlichen Christen mehr oder weniger von dieser Perspektive aus gedeutet.

Diese Rollenideologie ist symptomatisch für das Scheitern des Versuchs, die arabische Gesellschaft von einem Sozialgefüge, in dem die Christen als Schutzbefohlene der Muslime galten, zu einer genuin demokratischen Zivilgesellschaft umzugestalten, in welcher der Wert des Individuums wie der Gruppen nicht an ihrer Nützlichkeit, sondern an der bloßen Zugehörigkeit zur Menschheit gemessen wird. Ob die jüngsten politischen Entwicklungen in einigen Ländern des Nahen Ostens, im Irak und Libanon, in Palästina und Ägypten, die den Anbruch eines Demokratisierungsprozesses bedeuten, zu einer Modifizierung dieses gesellschaftlichen Gesamtbilds führen? Der Libanon ist ein Testfall für die Aussichten von Demokratie und nationaler Einheit in der arabischen Welt.

Wahlen, aber (noch) keine Einheit: Beirut, Mitte Juni 2005

„Das, was die Libanesen am 14. März zustande gebracht haben, war eine halbe Revolution“, sagt der Journalist im Gebäude der Zeitung Annahar, wo der ermordete Historiker und Universitätsprofessor Samir Kassir noch vor wenigen Wochen seine schärfsten Zeitungsartikel gegen die Politik der Baath-Partei im Libanon und in Syrien verfasste und dadurch wesentlich zum libanesischen „Frühling der Freiheit“ beitrug. Doch eben nur eine „halbe“ Revolution, weil das syrische Militär zwar das Land verließ, der Schatten des libanesischen Geheimdienstes aber immer noch Politiker, Intellektuelle und Journalisten bedroht. Es wird vermutet, dass sich Syrien dieser Organe bedient um zu verhindern, dass der blühende „Frühling der Araber“ in Beirut schließlich „Blumen in Damaskus wachsen lässt“, um einen schönen Satz aufzugreifen, den Kassir am 4. März schrieb.

Indes darf die Entwicklung keineswegs auf die regionale Ausstrahlung, vor allem auf Syrien, reduziert werden. Denn die Parlamentswahlen der vergangenen Wochen haben eine Reihe von Spannungen in der politischen Landschaft des Libanons aufgedeckt. Gerade die christliche Bevölkerung will ihre traditionellen Vertreter bestrafen, zugunsten des vor kurzem aus Frankreich in den Libanon zurückgekehrten ehemaligen Ministerpräsidenten und Armeechefs Michel Aoun. Darin kann man eine Reaktion auf schwerwiegende Fehler des Drusenchefs Walid Dschumblatt und des Sohnes Rafik Hariris, Saad Hariri, sehen. Sie haben es versäumt, die große demokratische Bewegung des 14. März zu nutzen, um eine tiefgehende Verständigung mit den Christen zu erreichen. Hariri und Dschumblatt durften aufgrund eines Wahlgesetzes aus dem Jahr 2000 darüber entscheiden, welche christlichen Abgeordneten in Beirut, dem Libanon-Gebirge und der Bekaa-Ebene gewählt werden konnten – was eine neue Polarisierung zwischen Muslimen und Christen einerseits und die Entstehung einer neuen parlamentarischen Koalition mit Michel Aoun als Hauptfigur andererseits zur Folge hatte. Aoun hat zwar über mehrere Jahre von Frankreich aus die syrische Besatzung bekämpft, er scheute sich aber in den jetzigen Parlamentswahlen nicht, mit libanesischen Repräsentanten der ehemaligen syrischen Besatzer ein taktisches Bündnis einzugehen. Den Widerspruch zwischen hochfliegenden Reformideen und korrupten Verbündeten scheint Aoun zu ignorieren.

Hat die politische Versöhnung im Libanon eine Chance? Nur dann, wenn die aus den Parlamentswahlen hervorgegangenen neuen Konstellationen zusammenarbeiten, um die größten Probleme zu lösen: die verbreitete politische Korruption, die nicht zuletzt aufgrund der syrischen Besatzung blühte; die Auflösung der Geheimdienstorgane, die sich immer wieder in die Politik einmischen; sowie die Entwaffnung der Hisbollah-Miliz. Der politische Diskurs der Hisbollah scheint die Möglichkeit einer Verständigung nicht auszuschließen. Eine Entwaffnung der Hisbollah und deren „Libanisierung“ hängen aber auch von der Fähigkeit der Vereinigten Staaten ab, Israel zum völligen Verzicht auf militärische Aktionen gegen den Libanon zu bewegen, um der Hisbollah keinen Vorwand für die Fortführung ihres bewaffneten Kampfes zu geben. In Beirut wird besonders jede Verbesserung der amerikanisch-iranischen Beziehungen begrüßt, weil so der iranische Einfluss auf die Hisbollah abnimmt.

1 Vgl. Wolfgang Hage: Die christlichen Kirchen im Nahen Osten, in: Jens Haupt (Hrsg.): Ex Oriente Lux. Theologische Wissenschaft und ökumenische Freundschaft, Hofgeismar 2003, S. 39–50.

2 Vgl. Eusèbe de Césarée: Histoire ecclésistique V-VII (Sources Chrétiennes 41), Paris 1965, VI 20.2.

3 Tarek Mitri: Les relations islamo-chrétiennes, in: Pour une théologie contemporaine, Beirut 1988, S. 111.

4 Ebd., S. 113.

5 Ignace Hazim: Le Christianisme et la rencontre des religions et des cultures. Conférence du patriarche Ignace IV d’Antioche à la Sorbonne, le 30 Mai 1983, in: Supplément au Service Orthodoxe de Presse 79, Paris 1983, S. 1–20, hier S. 8.

6 Heidi Toelle und Katia Zakharia: À la découverte de la littérature arabe, Paris 2003, S. 198, 216–217, 219–221, 240–241.

7 Vgl. Jean Lacouture, Ghassan Tuéni und Gérard D. Khoury: Un siècle pour rien. Le Moyen-Orient arabe de l’Empire ottoman à l’Empire américain, Paris 2002.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 84 - 89

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