Annäherung in der Agrarpolitik
Trägt der deutsch-französiche Kompromiss?
Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union hat die deutsch-französischen Beziehungen zunehmend belastet. Ulrike Guérot hinterfragt den Ende Oktober 2002 zwischen beiden Ländern überraschend erzielten Kompromiss in der Agrarfrage und seine Auswirkung auf die bevorstehende EU-Erweiterung.
Niemand hatte ihn erwartet, den deutsch-französischen Kompromiss in der Agrarfrage auf dem Brüsseler EU-Gipfel Ende Oktober, und daher war die Überraschung groß. Denn spätestens seit der auf dem Berliner EU-Gipfel im März 1999 beschlossenen Agenda 20001 war die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) Spaltpilz für die deutsch-französischen Beziehungen. 1999 hatte sich Frankreich entschieden gegen den deutschen Vorschlag einer Kofinanzierung gewandt und sich so einer grundlegenden Reform in den Weg gestellt, mit dem Argument, die GAP müsse einheitlich und solidarisch bleiben.
Die Agenda 2000 wurde daraufhin in der politisch problematischen Annahme beschlossen, man könne die Beitrittskandidaten von den Direktbeihilfen für die Bauern ausschließen, auf die allein 31 Milliarden Euro pro Jahr entfallen. Dies hatte sich jedoch als unrealistisch erwiesen. Die Ausweitung der Direktbeihilfen auf die osteuropäischen Bauern hätte aber bis 2013 eine Mehrbelastung von wenigstens acht Milliarden Euro für den EU-Haushalt zur Folge gehabt, von denen Berlin rund zwei Milliarden hätte tragen müssen. Die Bundesregierung hatte daher vor dem EU-Gipfel in Brüssel deutlich gemacht, dass sie einem „phasing-in“ der Beitrittsländer ohne ein Datum für ein „phasing-out“ der EU-15 aus den Direktbeihilfen nicht zustimmen würde.
In Brüssel nun haben sich Jacques Chirac und Gerhard Schröder darauf verständigt, die Agrarausgaben der EU ab 2007 auf dem Niveau von 2006 einzufrieren. Hinzu kommt lediglich ein Inflationsausgleich von einem Prozent pro Jahr. Im Gegenzug dafür gibt es ein „phasing-in“ der Beitrittskandidaten in die Direktbeihilfen, wobei diese 2004 zunächst 25% betragen und dann bis 2013 sukzessive2 auf das für alle Mitgliedstaaten geltende Niveau aufgestockt werden sollen. Der eingezogene Plafond bewirkt, dass die Agrarausgaben nun im Zeitraum von 2006 bis 2013 auf real ca. 46 Milliarden Euro anstatt auf 51 Milliarden Euro steigen. Schröder kann damit geltend machen, dass die Mehrausgaben für die GAP durch die Osterweiterung nicht unverhältnismäßig ansteigen, und damit auch nicht die deutsche Nettoleistung an den EU-Haushalt. Die Festsetzung der Agrarausgaben auf dem Niveau von 2006 wird bewirken, dass ab 2007 Einsparmöglichkeiten in der GAP gesucht werden müssen, denn das volle „phasing-in“ findet trotzdem statt.
Für Deutschland ist die Osterweiterung damit im Bereich der Agrarpolitik zwar nicht haushaltsneutral, wie es die Bundesregierung eigentlich geplant hatte, aber immerhin sind die Mehrausgaben unter Kontrolle. Chirac wiederum kann geltend machen, dass bis 2006 zunächst an der Agrarpolitik nicht gerüttelt wird, und damit die umfangreichen Rückflüsse an die französischen Bauern nicht gefährdet sind. Der eigentliche Vorteil dieses komplizierten Kompromisses aber dürfte für Chirac darin liegen, dass die Strukturen der Gemeinsamen Agrarpolitik damit eigentlich bis 2013 festgeschrieben sind. Die deutsche Forderung, die Grundzüge einer Reform der Agrarpolitik noch vor der Osterweiterung zu skizzieren, ist nicht erfüllt. Was gleichsam unterhalb des Plafonds an Umstrukturierungen zu leisten sein wird, dazu sagt der Brüsseler Beschluss noch wenig. Zwischen 2004 und 2006 wird daher von Deutschland und Frankreich noch viel Detailarbeit zu leisten sein.
Viel Zeit ist derweil ungenutzt verstrichen. Die im Juli 2002 von EU-Kommissar Franz Fischler vorgelegte Halbzeitbewertung der Gemeinsamen Agrarpolitik3 wurde dem eigenen Anspruch gerecht, mögliche Reformlinien vorzuzeichnen. Der Ansatz, die produktionsabhängigen Direktbeihilfen sukzessive umzuschich- ten und die Gelder in die ländliche Entwicklung zu leiten,4 stieß jedoch auf massiven französischen Widerstand5 und wurde auch in Deutschland mit gemischten Gefühlen aufgenommen.6 Über strukturelle Reformansätze aber wurde in Brüssel überhaupt nicht gesprochen.
Und so hat die jetzige Einigung einen schalen Nachgeschmack. Richtig ist, dass der Fahrplan der Osterweiterung nun eingehalten werden kann. Gezeigt hat der Beschluss sicherlich auch, dass Deutschland und Frankreich in Zeiten akuten Handlungsdrucks immer noch zu einem gewissen Krisenmanagement in europäischen Angelegenheiten fähig sind. Aber in dieser Einigung den glanzvollen Neubeginn des deutsch-französischen Tandems zu sehen, ist sicherlich überzogen. Der Kompromiss belegt vielmehr, dass zwischen Deutschand und Frankreich immer mehr über die Bande gespielt wird.
Recht raffiniert hat Chirac den „britischen Rabatt“ ins Spiel gebracht, der 1984 auf dem Gipfel von Fontainebleau Großbritannien im Wesentlichen deshalb zugestanden wurde, weil das Land mit einer nur kleinen landwirtschaftlichen Produktion von der Gemeinsamen Agrarpolitik kaum profitiert. Wenn nun, so Chirac, im Rahmen der Verhandlungen über das neue Finanzpaket 2007–2013 über eine Reform der GAP gesprochen werden soll, dann muss auch der „britische Rabatt“ in Höhe von 7,5 Milliarden Euro jährlich auf den Verhandlungstisch, für den es dann keine Begründung mehr gibt.
Ein nüchterner Blick auf die Zahlen macht deutlich, worum es bei den deutsch-französischen Auseinandersetzungen7 eigentlich ging und weiter gehen wird. Denn Plafond oder nicht, der eigentliche Streit ist durch Brüssel eher aufgeschoben denn aufgehoben. Das Zahlendickicht der Kosten der EU-Osterweiterung ist recht undurchdringlich, und das Wort der „Kostenexplosion“ macht die Runde. Die tatsächlichen Zahlen müssen jedoch in der historischen Dimension der Osterweiterung gesehen werden. Das Budget der EU macht heute rund 100 Milliarden Euro (oder 1,1% des BIP der EU) aus, zu dem Deutschland rund 25 Milliarden Euro beisteuert. Rund 48 Milliarden Euro fließen in die GAP – knapp die Hälfte des Gesamthaushalts. Der Gesamthaushalt der Europäischen Union von 1,1% des EU-BIP ist jedoch zu den 48% respektive 52,7% ins Verhältnis zu setzen, die aus den nationalen Haushalten Deutschlands und Frankreichs in die Staatsausgaben und Sozialversicherung fließen. Insgesamt machen die deutschen Zahlungen an die EU knapp 10% des deutschen Bundeshaushalts aus.
Deutschland ist mit 25% der größte Bruttozahler der EU,8 gefolgt von Frankreich mit 17%. Aufgrund der erheblichen Rückflüsse von etwa 20% für Frankreich im Bereich der GAP klafft allerdings die Nettodifferenz zwischen beiden Staaten erheblich auseinander: Während Frankreich zwei Milliarden Euro mehr aus der GAP erhält, als es einzahlt, zahlt Deutschland etwa 5,2 Milliarden Euro mehr ein, als es aus der GAP erhält. Insgesamt erhält Deutschland nur etwa die Hälfte seiner Einzahlungen zurück und ist mit über neun Milliarden Euro der größte Nettozahler, während Frankreich mit 0,7 Milliarden Euro nur siebtgrößter Nettozahler ist.9 Zwischen beiden Ländern besteht also, bezogen auf das BIP pro Kopf, eine eindeutige Schieflage, was das EU-Budget und insbesondere die GAP anbelangt, die behoben werden muss. Aber mit einer Kostenexplosion hat dies wenig zu tun.
Vielmehr geht es beim Streit zwischen Frankreich und Deutschland um die Frage, welches Europa beide wollen und wofür in den nächsten Jahren in Europa Geld ausgegeben werden soll. Derzeit werden ca. 1,09% des vorgesehenen Haushaltsplafonds von 1,27% des EU-BIP ausgeschöpft. Insoweit ist, zumindest bis 2006, erst einmal Geld vorhanden, um wie bisher in der GAP zu verfahren. Nur gibt es dann keine haushaltspolitischen Spielräume mehr für neue Aufgaben der EU, sei es für den Aufbau einer europäischen Verteidigung, Infrastruktur- oder Hochtechnologieprojekte oder den zukünftigen gemeinsamen Grenzschutz.
Annäherung?
Frankreich und Deutschland haben eine große Verantwortung für die zukünftige Finanzverfassung und damit auch für die politische Verfasstheit der Europäischen Union. Es geht darum, ob eine moderne und erweiterte Union weiterhin knapp 50% ihres Haushalts für die Einkommenssicherung von durchschnittlich nur 5% der Bevölkerung ausgeben kann, oder ob das Geld nicht besser Zukunftsaufgaben zufließen sollte.
Eine Annäherung müsste drei Kernelemente enthalten, in denen sich Deutschland und Frankreich aufeinander zu bewegen:
–Deutschland lässt gegenüber Frankreich keinen Zweifel an den auch in Zukunft grundsätzlich einheitlichen und solidarischen Strukturen der Agrarpolitik erkennen;
–Frankreich akzeptiert zwecks Kostensenkung eine Umschichtung von den produktionsbezogenen Direktbeihilfen zur ländlichen Entwicklung, die bereits kofinanziert wird. Damit Frankreich dies leichter fällt, werden dafür einheitliche haushaltspolitische Vorgaben gemacht, so dass die Unterstützung der Landwirtschaft in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht zu unterschiedlich ausfällt. Zudem wird eine rechtliche Schranke errichtet, damit in Zukunft nicht die Kofinanzierung zur einzigen Variablen der strukturellen Anpassung des Gemeinschaftsbudgets wird,10 wodurch eine weitere Sorge Frankreichs entkräftet würde.
–Beide einigen sich darauf, dass der Anteil der Gemeinsamen Agrarpolitik am Gesamtbudget der EU in Zukunft von ca. 50% auf rund 35% gesenkt wird, um mehr Geld für Zukunftsaufgaben der EU zur Verfügung zu haben. Dies allein schon würde die haushaltspolitische Schieflage zwischen Deutschland und Frankreich gerade rücken. Deutschland bliebe zwar auch weiterhin größter Nettozahler, aber das Geld würde zukunftsorientierter verwendet werden können.
Am 22. Januar 2003 werden Deutschland und Frankreich den 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags feiern. Eine gemeinsame Erklärung zur Zukunft Europas könnte eine solche Absichtserklärung enthalten. Für die Ausgestaltung im Detail wäre dann noch bis 2006 (wahlfreie) Zeit. Und Präsident Chirac hätte bis dahin Muße genug, sich zu überlegen, ob er nach 2006 als „Großmeister des erweiterten Europas“ in die Geschichtsbücher eingehen oder als kleinlicher Verteidiger vorgestriger Politik in diesen vergessen werden möchte.
Anmerkungen
1 Abgedruckt in Auszügen in: Internationale Politik, 10/1997, S. 85–113.
2Im Detail sieht der Vorschlag vor, 2005 30%, 2006 35%, 2007 40% und dann bis 2013 jeweils 10% mehr zu zahlen.
3 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Halbzeitbewertung der Gemeinsamen Agrarpolitik, KOM (2002) 394 endgültig, Brüssel, 10.7.2002.
4 Die „Ländliche Entwicklung“ ist die zweite Säule der GAP und wird bereits kofinanziert.
5 Siehe dazu die Stellungnahme des französischen Landwirtschaftsministers, Hervé Gaymard, vom 11.7.2002, <http://www.-botschaftfrankreich.de/aktuelle.php3?actu=646>.
6 Vgl. Financial Times Deutschland, 18. 6. und 19.6.2002.
7 Allerdings spielen auch die haushaltspolitischen Forderungen anderer Staaten an den Kohäsionsfonds eine Rolle.
8 Diese Zahl ist bereits rückläufig. 1995 betrug der deutsche Bruttobeitrag zum EU-Budget noch 30%.
9 Vgl. dazu Christian Weise u.a., Die Finanzierung der Osterweiterung der EU, Baden-Baden 2002.
10Die Anhebung der derzeitigen Haushaltsgrenze von 1,27% bedarf der Einstimmigkeit im Rat; eine Anpassung der Höhe der Kofinanzierung hingegen bedürfte nur einer qualifizierten Mehrheit im Landwirtschaftsrat.
Internationale Politik 11, November 2002, S. 53 - 56.