Brief aus...

25. Juni 2021

Angst vor einer Invasion?

Die Menschen in Taiwan können nicht ständig in Alarmbereitschaft leben. Ein Brief aus Taipeh.

Bild
Bild: Zeichnung von Taipeh
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Taiwan ist „der gefährlichste Ort der Welt“, titelte der Economist kürzlich. Die Insel diskutierte diesen Superlativ kontrovers: Sind Chinas Drohungen wirklich so ernst zu nehmen, oder ist das nur ein westliches Hirngespinst? Eine eindeutige Antwort fällt auch mir schwer, denn es gibt hier wenig Entweder-oder, dafür umso mehr Sowohl-als-auch.



Nirgends wurde mir das so bewusst wie kürzlich auf Kinmen. Die Insel gehört zu Taiwan, aber Taipeh ist gut eine Flugstunde entfernt, während China direkt gegenüber liegt, an der engsten Meeresstelle zwei Kilometer nah. Einmal wunderte ich mich, dass am Ende einer Bucht wuchtige Gebäude in den Nachthimmel ragten. Die hatte ich auf der beschaulichen Insel nicht vermutet. Dann begriff ich, dass es eine optische Täuschung war. Das war schon China.



Kinmen war lange der militärische Vorposten der chinesischen Nationalisten um Chiang Kai-shek, die sich 1949 auf Taiwan und weitere Inseln zurückgezogen hatten, nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten. Schon bald würden sie das Festland zurückerobern, glaubten sie, und selbst, als sie das nicht mehr glaubten, behaupteten sie das noch immer, um die Bevölkerung bei Laune zu halten. Umgekehrt wollten die Kommunisten die Republik China – Taiwans offizieller Name – erobern, und so bombardierten sie bis in die 1970er Jahre mehrfach Kinmen.



Aus dem Stahl jener Bomben machen Schmiede heute Messer, die beliebte Touristensouvenirs sind, wobei Skeptiker den Ursprung des Stahls anzweifeln, die Bombardements sind ja lange her. Einen Schmied sprach ich in seinem Laden auf ein Foto an, das hinter ihm an der Wand hing und Staatspräsidentin Tsai Ing-wen zeigte. Ja, die sei hier gewesen, sagte der ältere Herr. Aber seine Familie sei KMT, fügte er schnell hinzu, sie unterstütze also die China-freundlichere Partei der Nationalisten, nicht die regierende, protaiwanische DPP. Stolz zeigte er auf ein Foto, das einen Besuch von Tsais KMT-Vorgänger dokumentierte. Erst dann sah ich das Porträt daneben: Mao. Warum er, fragte ich überrascht. Ach, der hänge da wegen der chinesischen Touristen, die vor der Pandemie millionenfach nach Kinmen kamen. „Und außerdem ist er ja derjenige, der uns das Material geschenkt hat.“  

 

Alltäglicher Pragmatismus

Die Haltung des Schmieds schien mir sinnbildlich dafür zu stehen, wie viele Taiwaner mit ihrem übermächtigen Nachbarn umgehen, der nach dem Willen von Staatschef Xi Jinping eine „Wiedervereinigung“ bis 2049 notfalls militärisch durchsetzen will. Gibt es Pragmatismus? Unbedingt. Opportunismus? Natürlich. Eigene Überzeugungen? Klar, aber sie zu deutlich zu äußern, könnte unangenehm werden. Gibt es Nonchalance, Naivität gar angesichts des angedrohten Krieges? Mag sein, aber das weiß man ja immer erst hinterher.  



Wie ist diese vermeintliche Laschheit zu erklären? Taiwan ist so klein wie die Schweiz, mit zwar drei Mal so vielen Einwohnern, gut 23 Millionen – aber so viele hat allein Schanghai. China ist ein Kontinent für sich, ist militärisch Lichtjahre überlegen, kauft fast die Hälfte aller taiwanischen Exportgüter. Und natürlich ist Taiwan diplomatisch isoliert, wird offiziell nur von 14 Staaten (und dem Vatikan) anerkannt. Selbst der Hauptverbündete USA hat nie klar gesagt, dass er Taiwan bei einem Angriff verteidigen würde; stattdessen setzt er auf „strategische Ambiguität“.  



Taiwan muss sich also irgendwie durchwursteln, und das sieht nicht immer schön aus. Die Halbleiter-Firma TSMC gilt als Taiwans „Silizium-Schutzschild“, weil sie als Marktführer die halbe Welt mit den besten Computerchips beliefert, wodurch insbesondere die Industriestaaten großes Interesse am Erhalt von Taiwans Eigenständigkeit haben. Ausgerechnet diese Chips landeten über Zulieferer und offenbar ohne TSMCs Wissen in chinesischen Supercomputern, welche Tests mit Hyperschallraketen simulieren, die potenziell Taiwan bedrohen. Wie kann das sein, fragte ich einen Analysten, dessen Think-Tank zum Verteidigungsministerium gehört. Der Mann zuckte mit den Schultern: „Man kann TSMC nicht wirklich dafür verantwortlich machen, ein Messer zu produzieren, das jemand nutzt, um jemand anderes zu ermorden.“ Mag sein, aber was ist, wenn der Ermordete Taiwan selbst sein könnte?  



Wie real die Gefahr einer Invasion ist, dazu höre ich von Taiwanern eine ganze Bandbreite an Antworten. Eine Chinesischlehrerin, die über 70 Jahre alt ist und somit Maos Bomben miterlebt hat, sagte mir kürzlich, sie habe noch nie so viel Angst gehabt wie jetzt. Warum? Weil es nun um Ideologie gehe; Mao und Chiang Kai-shek waren sich noch in vielem erstaunlich ähnlich. Eine Mittzwanzigerin hingegen sagte mir, sie halte die Wahrscheinlichkeit einer Invasion für gering; stattdessen versuche China auf andere Weise, Taiwan zu übernehmen.  



Das sagen auch viele Experten. In Deutschland ist man sich wohl wenig bewusst, wie vielfältig Chinas Aktivitäten in Taiwan sind. Es vergeht hier praktisch kein Tag ohne Berichte über Flüge chinesischer Kampfjets nahe Taiwan, über Cyber-Angriffe, Fake News, die Verurteilung von Spionen, Schmiergeldzahlungen an Lokalpolitiker, dubiose Spenden an buddhistische Tempel, chinesisches Training speziell für taiwanische Online-Influencer oder organisierte Verkaufsreisen aufs Festland für die Kunsthandwerker unter Taiwans Ureinwohnern. Darin kann man eine „allgegenwärtige Bedrohung“ sehen, ja. Aber mir scheint, die hiesige Bevölkerung nimmt die Lage als weniger dramatisch wahr, weil sie seit Jahrzehnten kaum etwas anderes kennt – und weil man nicht ständig in höchster Alarmbereitschaft leben kann.

 

Matthias Sander ist China-Korrespondent für Technologie für die Neue Zürcher Zeitung; bis Mai berichtete er aus Taipeh, künftig aus Shenzhen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 114-115

Teilen

Mehr von den Autoren

Matthias Sander

Verzerrte Wahrnehmung

Überschätzt man im Westen die Technologie-Macht China? Erstaunlich ­offen werden vor Ort mittlerweile die Probleme benannt: Abschottung und politische Ideologisierung.