IP

01. März 2008

Als Sicherheitsnetz unverzichtbar

Warum die NATO auf dem Balkan auch in Zukunft wichtig bleiben wird

Kosovo, Serbien, Mazedonien, Bosnien: Allerorten zeigt das fortdauernde Krisenpotenzial, dass die Intervention der internationalen Gemeinschaft den Balkan keineswegs nachhaltig befriedet hat. Aber wird die NATO dort noch gebraucht? Sollte die EU nicht besser den gesamten Stabilisierungseinsatz übernehmen? Nein, argumentiert der Autor.

Seit UN-Vermittler Martti Ahtisaari seinen Plan für eine „konditionierte Unabhängigkeit“ Kosovos vorgelegt hat, sind Robert D. Kaplans „Balkan ghosts“, die längst überwunden schienen, bei uns wieder erwacht. Denn mit dem ersten ernsthaften Versuch einer Statuslösung werden die enormen Dilemmata offensichtlich, denen wir seit Jahren ausgewichen sind. Einerseits ist eine Fort- und damit Festschreibung der Protektoratslösung im Kosovo unhaltbar, die serbisch-russische Obstruktion nicht hinnehmbar. Der bereits seit 2002/03 anschwellende Konfliktzyklus droht in ein gewaltsames Aufbegehren der Albaner zu münden, das sich auch gegen die internationale Präsenz richten und nach Mazedonien und Südserbien ausbreiten könnte. Andererseits könnte die am 17. Februar ausgerufene Unabhängigkeit des Kosovo eine Abwanderung der Serben aus den Enklaven und eine faktische Abspaltung des nördlichen Mitrovica stimulieren, zudem eine Loslösung der albanischen Minderheit in Mazedonien und Südserbien und der serbischen in Bosnien. Serbien scheint sich trotz der Wiederwahl des europafreundlichen Präsidenten Boris Tadic weiter zu isolieren. Jenseits des regionalen Rahmens werden sezessionsbereite Minderheiten, etwa in Georgien oder Zypern, ermutigt, ihre separatistischen Ziele mit neuem Schwung weiter zu verfolgen; das kriselnde Verhältnis zu Russland wird weiter erschüttert und der UN-Generalsekretär zu einem völkerrechtlich gewagten Spagat gezwungen. Angesichts dieser Unwägbarkeiten das Schiff des Kosovo wohlbehalten zwischen Skylla und Charybdis hindurchzusteuern, ist nahezu unmöglich. 2005 hatte George W. Bush die Devise ausgegeben, die „unvollendete Agenda“ des Balkan zu einer endgültigen Lösung zu bringen.1 Doch was auch immer jetzt geschehen wird – endgültig ist es wohl kaum.

Wenn sich Problemlagen verschieben, wandelt sich auch die Einschätzung, welche Instrumente zu ihrer Lösung einzusetzen sind. Internationale Organisationen sind solche Instrumente zur besseren Lösung kollektiver Probleme. In der letzten Dekade wurde die NATO systematisch auf dem Balkan abgewickelt. Nicht nur wollte sie selbst Ballast abwerfen und sich auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus konzentrieren. Auch schien die NATO weniger geeignet als vor allem die EU, die Stabilisierungsaufgabe auf dem Balkan „aus einer Hand“ mit zivilem Fokus zu organisieren. Zunehmend entstand der Eindruck, die NATO sei entbehrlich – auch auf dem Balkan.

Seit 2004 jedoch ist der Rückzug auf Raten gestoppt. Die Unruhen im Kosovo lösten nicht nur den Statusprozess aus; sie wurden auch zum Weckruf für eine NATO, die sich längst nach Afghanistan, Pakistan und Darfur umorientiert hatte. KFOR wurde reorganisiert. Letzthin wurden zusätzliche Spezialkräfte zugeführt. Und anders als in Bosnien wird die NATO auch in einem unabhängigen Kosovo weiter die Sicherheitspräzenz stellen. Vorläufig sind dies nur temporäre Vorsichtsmaßnahmen. Doch legt die derzeitige Debatte um das Kosovo wie auch um die Tragfähigkeit der Dayton-Architektur in Bosnien ein fortdauerndes Krisenpotenzial bloß, das die Nachhaltigkeit der westlichen Friedenskonsolidierung in Frage stellt. Ob im Kosovo, in Mazedonien, Serbien oder Bosnien – allgemein dominiert fundamentale Unsicherheit, wie weit die Kräfte der Vergangenheit wirklich schon von den Kräften der Zukunft verdrängt sind. Wird die NATO unter diesen Umständen auf dem Balkan noch gebraucht? Und für welche Zwecke?

In den neunziger Jahren war die Frage der institutionellen Relevanz der NATO nach dem Kalten Krieg unauflöslich mit ihrem Balkan-Engagement verknüpft. Ab 1992 begann sie mit der Sanktionsüberwachung in der Adria, der Luftbrücke nach Sarajewo und der Durchsetzung der Flugverbotszone über Bosnien – zunächst äußerst zögerlich, dann zunehmend selbstbewusst. Die NATO offenbarte in den Luftoperationen vor Dayton 1995 ihre Handlungsfähigkeit und wurde unbestritten mit der Führung der militärischen Implementierung des Dayton-Abkommens betraut. 1999 folgten die NATO-Luftoperationen und der Friedenseinsatz im Kosovo. Es waren diese Operationen, welche die nagenden Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der NATO, die seit 1989 kursierten, zerstreuten. Die Vorrangstellung im europäischen Sicherheitsgefüge schien gefestigt. Der Balkan, zentraler regionaler Fokus der NATO, bescherte ihr „out of area“ einen neuen Daseinszweck und damit Legitimität. Bei der NATO selbst löste das Engagement einen tief greifenden Transformationsprozess aus, von der Hinwendung zum Krisenmanagement über die Reform der Kommandostruktur bis hin zur gewandelten Sicherheitskultur. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer brachte dies kürzlich in Dubrovnik treffend zum Ausdruck: „In vielfacher Hinsicht liegen die Ursprünge der NATO-Transformation nach dem Kalten Krieg direkt hier in Südosteuropa. ... Das Balkan--Engagement hat die eigene Entwicklung der NATO maßgeblich geprägt, vielleicht mehr als jedes andere äußere Ereignis.“2

Scheffer fügte jedoch hinzu „mit Ausnahme von Afghanistan“ – und damit unterstrich er, wo die NATO seit 9/11 im Feuer der Bewährung steht. Bereits seit 1999 gleitet die Balkan-Politik der Allianz in eine neue Phase über, mit zwei zentralen Merkmalen: erstens einer schrittweisen Aufgabenverschiebung vom Krisenmanagement hin zu Partnerschaft und Integration; zweitens einer deutlichen De-Priorisierung des Balkans im gesamten Aufgabenspektrum der Allianz. Damit gibt das Balkan-Engagement für viele heute keine befriedigende Antwort mehr auf die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Allianz, eine Frage, die mit 9/11 und der ostentativen Marginalisierung der NATO durch die USA neu erwacht ist, und dies drängender denn je, da sie nun auch von der Führungsnation selbst gestellt wird.

Die Aufgabenverschiebung ist durch den Wandel des regionalen Kontexts bedingt. Seit dem Tod des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman und dem Sturz Slobodan Milosevic in Serbien ist es zu einer, wenn auch von Rückfällen geplagten, Befriedung und nachholenden Demokratisierung der Region gekommen. Der Aufbruch in eine neue Ordnung geht mit einer inneren Differenzierung (Nord-Süd-Gefälle) und einer Imageaufbesserung des vormaligen „Pulverfasses Balkan“ einher. In der Folge hat das Bündnis schrittweise seine Partnerschaftsprogramme für die Region geöffnet, die Kooperation auf die Reform des Sicherheitssektors ausgerichtet und eine Beitrittsperspektive für alle Länder formuliert. Bulgarien und Rumänien traten bereits 2004 bei, Kroatien und eventuell auch Mazedonien und Albanien werden wohl demnächst eingeladen.3 Krisenmanagement und Beitrittsperspektive sind damit im Balkan (anders als in Afghanistan) direkt verknüpft – und nicht zuletzt geht es einer chronisch überlasteten NATO im globalen Einsatz darum, zusätzliche Truppensteller aufzubauen.

Aber die Balkan-Agenda des anstehenden Gipfels in Bukarest, zwischen Beitrittsentscheidung einerseits und Risikovorsorge im Kosovo andererseits, spiegelt die Zwitterhaftigkeit der regionalen Lage und das dadurch erforderliche Lavieren zwischen Aufarbeitung der Altlasten und Zukunftsausrichtung wider. Beide Aufgaben stehen in Wechselwirkung. Das Tempo der Fokusverlagerung entscheidet mit über den Gesamterfolg. Seit Dayton musste die NATO erkennen, dass erstens die Hürden für erfolgreiche Friedenskonsolidierung weitaus höher als angenommen liegen und zweitens der Erfolg des militärischen Engagements untrennbar mit dem Erfolg des gesamten State- und -Nationbuilding verbunden ist.

Dies erklärt die Aufgabenverschiebung, nicht jedoch die Depriorisierung. Dafür ist der globale Kontext maßgeblich, genauer drei Faktoren, die sich wechselseitig verstärken: die Globalisierung der NATO seit Afghanistan, die Verschiebung der medialen Aufmerksamkeit auf den Kampfeinsatz dort („if it bleeds, it leads“) und die schrittweise Übernahme der NATO-Operationen im Balkan durch die EU. Je mehr sich die NATO Afghanistan zuwandte und zugleich die EU die Missionen in Mazedonien (2003) und Bosnien (2004) ablöste, desto mehr schien die NATO auf dem Balkan entbehrlich. In Zahlen: Die NATO-Mission in Bosnien (SFOR), nach Dayton 1996 zunächst 60 000 Mann stark, wurde auf 7000 Mann reduziert und 2004 der EU übergeben. Die Mission im Kosovo (KFOR), 1999 noch 50 000 Mann stark, wurde bis heute auf 16 000 Mann verringert. Zugleich sank der Anteil amerikanischer Truppen überproportional: in SFOR auf zuletzt ein Siebtel, in KFOR auf etwa ein Zehntel der Gesamtstärke. Insgesamt führt die NATO derzeit fünf Operationen mit über 60 000 Soldaten in drei Kontinenten durch.

Warum nicht diese regionale Rollenteilung vollenden und den Balkan ganz europäisieren? Der Druck wird zunehmen, vor allem nach der Beendigung von EUFOR in Bosnien (ursprünglich für dieses Jahr avisiert), auch KFOR der EU zu übertragen. Planspiele dieser Art wurden nur vorerst zurückgestellt. Damit könnte sich die NATO auf Missionen konzentrieren, die jenseits des Kapazitätsspektrums der EU liegen, die kränkelnde Kooperation von EU und NATO erhielte einen Vitaminstoß und die EU könnte Krisenmanagement und Heranführung an den Beitritt effektiv aus einer Hand koordinieren.

Langfristig macht dies Sinn, doch vorerst bleibt die NATO als präsentes Abschreckungs- und Eingreifinstrument unentbehrlich. Die gegenwärtige -Kosovo-Diskussion führt die fortdauernde Krisenanfälligkeit der Region vor Augen. Vier Konfliktherde bleiben virulent: Bosnien, Kosovo, Mazedonien und Serbien. Es ist die ethnische Gemengelage, Vermächtnis europäischer Kolonialpolitik, welche die Konfliktherde wie „kommunizierende Röhren“4 miteinander verbindet und Spill-over-Effekte fürchten lässt. Von selbsttragender Stabilität mit positiver Friedensqualität ist das interethnische Miteinander noch weit entfernt. Die Ermordung des liberalen serbischen Premiers Zoran Djinji, die großserbische Rhetorik in Belgrad wie Banja Luka, der anhaltende Widerstand der bosnischen Serben gegen die Auflösung ihrer Polizei- und Armeestrukturen, die weitgehende ethnische Segregation in Mazedonien und in Südserbien, die permanente Bedrohtheit der Kosovoserben in ihren Enklaven, der Mangel an integrem Führungspersonal und an Kompromissfähigkeit – all diese Indikatoren lassen vermuten, dass es noch lange dauern wird, bis das Denken in Kategorien von ethnischer Exklusivität und nationaler Abgrenzung überwunden ist.

Kann die EU diese Last alleine schultern? Vier Faktoren sind zu bedenken. Erstens, die Präferenzen in der ganzen Region sind weiterhin primär auf äußere Sicherheit und damit auf die NATO ausgerichtet. Die Negativerfahrung der neunziger Jahre, für die Srebrenica paradigmatisch steht, wirkt nach, etwa in der anfänglichen Ablehnung der Übernahme von SFOR durch EUFOR 2004.5 Die Zweifel an der Handlungsfähigkeit der EU sind nicht überwunden, und sie mindern die Abschreckungswirkung der EU-Präsenz.

Zweitens, dieses Misstrauen führt die Balkan-Länder an die Seite Washingtons. Alle außer Serbien sind stark auf die USA ausgerichtet. Albanien, Kroatien und Mazedonien etwa, denen Washington 2003 in einer eigenen Atlantic Charter Unterstützung auf dem Weg zum Beitritt zusicherte, haben die Irak-Erklärung der Vilnius-Gruppe 2003 unterzeichnet und leisten militärische Beiträge in Irak und Afghanistan. Sie wissen um die amerikanische Führungsrolle im NATO-Erweiterungsprozess. In Krisenzeiten wird von dort Hilfe erwartet. Bei allen Reibungen mit den USA, auch auf dem Balkan, hat die US-Präsenz, so begrenzt sie als Brückenkopf in KFOR und im NATO-Hauptquartier Sarajewo ist, doch beträchtliche Abschreckungswirkung. Für das, was die NATO „sicheres Umfeld“ nennt, entfaltet die Perzeption amerikanischer Handlungsfähigkeit stabilisierende Eigenwirkung.

Drittens, die EU bleibt essenziell auf die NATO und damit die USA angewiesen – nicht zufällig muss die bei weitem größte EU-Operation bisher (Bosnien) auf NATO-Mittel zurückgreifen. Im Fall krisenhafter Zuspitzungen, so die Vereinbarung, wird die NATO Einsatzkräfte aus dem Kosovo zuführen.

Und viertens, wie ein roter Faden durchzieht die westliche Balkan-Politik ein Mangel an Früherkennung von Krisensignalen.6 Fehlperzeptionen resultieren zum einen aus der politischen Neigung zur Positivdarstellung, die den Abzug von Kräften für anderweitige Aufgaben legitimieren soll, zum anderen aus dem Aufeinandertreffen höchst unterschiedlicher Sicherheitskulturen. Wer postwestfälisch in den Kategorien von globaler Sicherheit, Integration und Interdependenz, Grenzüberwindung und Globalisierung denkt, dem muss der Balkan fremd bleiben. Hans Koschnick, ehemals EU-Administrator in Mostar, hat von dieser Kulturkluft eindrücklich berichtet.7 Die USA, zunehmend auch die NATO, sind dagegen durch ihr globales Engagement permanent mit der Wirklichkeit jenseits EU-Europas konfrontiert – und vielleicht auch deshalb, etwa im Gewalteinsatz, „spätwestfälisch“8 geblieben.

Summa summarum: Es ist gut, eine Organisation im Balkan präsent zu wissen, die im Umgang mit Krisen und Gewalt erprobt ist. Die EU wird an den Aufgaben wachsen. Dann mag sie fähig werden, Sezessionismus und Irredentismus alleine zu begegnen. Doch vorerst sollte die NATO die Zeit des fragilen Übergangs auf dem Balkan weiter absichern. Vielleicht kommt es nicht noch einmal zum Schwur. Doch Sicherheitsnetze entfalten ihre Wirkung auch dann, wenn sie nicht zum Einsatz kommen, ja wenn der Zuschauer sie kaum wahrnimmt.

PD Dr. RAFAEL BIERMANN, geb. 1964, lehrt Internationale Beziehungen an der U.S. Naval Postgraduate School in Monterey, Kalifornien.

  • 1Julie Kim: Bosnia. Overview of Current Issues, CRS Report to Congress, Washington D.C., 20.12.2006.
  • 2Speech at the Croatia Summit 2007, 6.7.2007.
  • 3Karl-Heinz Kamp: The NATO Summit in Bucharest: the Alliance at a Crossroads, NATO Defense College, Rom, November 2007.
  • 4Stefan Troebst: Kommunizierende Röhren. Makedonien, die Albanische Frage und der Kosovo-Konflikt, Südosteuropa-Mitteilungen 3/1999, S. 215–229.
  • 5Frank Kupferschmidt: EU and NATO as „Strategic Partners“: the Balkan Experience, in: Peter Schmidt: A Hybrid Relationship. Transatlantic Security Cooperation Beyond NATO, Frankfurt a.M. 2008, S. 130.
  • 6Rafael Biermann: Lehrjahre im Kosovo. Das Scheitern der internationalen Krisenprävention vor Kriegsausbruch, Paderborn 2006.
  • 7Hans Koschnick: Praktische Friedensstiftung durch die Vereinten Nationen am Beispiel Mostar: Erfolge und Misserfolge?, Kiel 1997.
  • 8James Sperling: Regional or global security cooperation?, in: Emil J. Kirchner und James Sperling: Global Security Governance, New York 2007, S. 283 f.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2008, S. 38 - 43

Teilen

Mehr von den Autoren