Aussöhnung und Neubeginn
Das Haager Tribunal und seine Folgen
Die erste Runde in Den Haag ist an Slobodan Milosevic gegangen, so der Balkan-Experte Biermann: Der Meister medialer Dramaturgie und populistischer Selbstinszenierung nutzt das Tribunal als politische Bühne. Ohne die Aufdeckung der historischen Wahrheit ist Aussöhnung auf dem Balkan allerdings nicht möglich, doch diese braucht viel Zeit.
Wieder einmal hat die Vergangenheit die neue Regierung in Belgrad eingeholt. Wieder einmal, wie schon bei der Auslieferung Slobodan Milosevics, war der Druck aus Washington – weniger aus Brüssel – enorm. Wieder einmal war es das Damoklesschwert ausbleibender Finanzhilfe, welches die Führung in Belgrad zum Einlenken bewegte.
Endlich wurde am 11. April 2002 ein Gesetz erlassen, das die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher regelt. Präsident Vojislav Kostunica, der das Tribunal immer wieder übel schmähte, scheint unter heftigem Widerstreben auf den Kurs von Ministerpräsident Zoran Djindjic einzuschwenken. Auf das Ultimatum der Belgrader Führung hin haben sich sechs Angeklagte (von 23) freiwillig gemeldet; der ehemalige Innenminister Vlajko Stojiljkovic beging am 11. April auf den Stufen des Parlaments dramatisch Selbstmord. Die Schlinge zieht sich enger, auch um Ratko Mladicund Radovan Karadzic.
Ist dies aber schon der Durchbruch? Wohl kaum. Halbheiten bleiben wieder einmal – nicht nur im Auslieferungsgesetz, das etwa mutmaßlichen Kriegsverbrechern, die künftig erst angeklagt werden, einen Prozess in Serbien zusichert. Ob die Belgrader Führung schon bald aktiv die Verhaftung der verbliebenen Angeklagten betreibt, ist zu bezweifeln. Schon rudert sie zurück: der in Den Haag angeklagte serbische Präsident, Milan Milutinovic, werde selbstverständlich sein Amt bis zur Neuwahl ausüben, Archivmaterial werde nur nach Einzelfallprüfung herausgegeben.
Der innenpolitische Widerstand bleibt immens, nicht nur von Seiten der Sozialisten in Serbien und in Montenegro. Die Öffentlichkeit ist auf diese erneute Wende in der Kriegsverbrecherfrage kaum vorbereitet. Soeben war die erste Runde im zweijährigen Prozessmarathon in Den Haag an Milosevic gegangen. Milosevic, Meister medialer Dramaturgie und populistischer Selbstinszenierung, wurde wieder einmal unterschätzt. Der Regieführung von Chefanklägerin Carla del Ponte fehlte es an Sensibilität dafür, dass Milosevic gerade das Tribunal als politische Bühne nutzen würde, sich und seine Herrschaft noch einmal vor den Augen der serbischen Öffentlichkeit zu legitimieren.
Bis zu zwei Drittel seiner Landsleute saßen täglich an den Bildschirmen. Die Selbstverteidigung ohne Anwalt erlaubte es Milosevic, sich breit in Szene zu setzen. Seine Litaneien gegen die „westliche Aggression“ im Kosovo-Krieg, die „Entlarvung“ der albanischen Zeugen im Kreuzverhör, seine verächtliche, demonstrativ zur Schau gestellte Geringschätzung des Gerichts – dem allen hatte die Anklageseite wenig entgegenzusetzen. Die ersten Zeugen waren schlecht gewählt. Lord Ashdown, der zukünftige Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina – der erste, der Milosevic auf Augenhöhe begegnete –, wurde zu spät in den Ring geschickt. Die Quintessenz: gebeten, den Auftritt Milosevics auf einer Skala von eins bis fünf zu bewerten, wählten 41,6 Prozent der Serben die Bestnote fünf, jeweils 20 Prozent die Noten vier und drei, fünf Prozent die Note zwei und 11,6 Prozent die Note eins.
Nicht, dass sich Milosevic noch großer Beliebtheit in Serbien erfreut: die Zahl der Demonstranten nach seiner Auslieferung war erstaunlich gering, der befürchtete Massenprotest blieb aus. Doch hinterließ seine Auslieferung einen faden Beigeschmack, denn sie geschah auf Grund des immensen Druckes aus dem Ausland, kaum aus innerer Überzeugung. Das amerikanische Junktim mit der Geberkonferenz war allzu offensichtlich.
Die zweite Runde des Duells Belgrad – Washington/Den Haag sah dieselben Protagonisten, dieselbe Interessenlage und dieselben Druckmittel, und sie hatte denselben Ausgang. Nur dass es Djindjic diesmal gelang, Kostunica mit in die Verantwortung zu nehmen – ein innenpolitisches Meisterstück, das Kostunicas Popularität weiter mindern wird. Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal kommt in Serbien noch immer nicht gut an, vor allem nicht bei Armee, Polizei und Geheimdiensten, die bisher kaum personell und strukturell erneuert wurden.
Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit findet kaum statt: Vukovar, Srebrenica, Sarajewo, Drenica, Raçak – dies alles sind Tabuthemen, gerade auch in den Medien. Fast die Hälfte der serbischen Bevölkerung ist der Überzeugung, dass es überhaupt kein Massaker in Srebrenica gegeben hat. Diese Befragten können auch kein Verbrechen serbischer Sicherheitskräfte nennen, um so mehr jedoch Verbrechen anderer. Lediglich ein Drittel der Befragten glaubt, Milosevic sei für Kriegsverbrechen verantwortlich, viele sehen in Den Haag das ganze serbische Volk an den Pranger gestellt. In der Haupteinkaufsstraße in Belgrad verkaufen sich T-Shirts und Kalender mit Bildern von Karadzic und Mladic mit großem Erfolg.
Kooperation mit dem Tribunal
Dabei gibt es sie durchaus, die junge, reformorientierte Elite, die sich der historischen Wahrheit stellen, mutig die Hypotheken der Vergangenheit abtragen und die Demokratisierung entschlossen voranbringen will. Diese beeindruckenden Kräfte, vielfach gut ausgebildet und mit engen Westkontakten, konzentrieren sich jedoch auf die Wirtschaftsreform. Sie finden gerade unter den Vertretern der deutschen Wirtschaft in Belgrad große Anerkennung. Manche von ihnen haben nun in der Parlamentsdebatte zum Auslieferungsgesetz das Thema „Vergangenheitsbewältigung“ mutig aufgegriffen, wie etwa Außenminister Goran Svilanovic, der stellvertretende Ministerpräsident Miroljub Labus oder der serbische Justizminister, Vladan Batic. Sie haben erkannt, dass der Erfolg der Wirtschaftsreform mit der auswärtigen Finanzhilfe steht und fällt – und diese ist ohne Kooperation mit Den Haag nicht zu erlangen.
Druck von außen wird weiterhin erforderlich sein. Dies hilft den Reformern auch innenpolitisch, die erforderlichen Schritte zu legitimieren. Dabei muss Ministerpräsident Djindjic ständig das Maß des Möglichen im Auge behalten – stürzen darf er über das Tribunal nämlich nicht. Immerhin steigt die Zahl der Befürworter einer Kooperation mit Den Haag kontinuierlich. Eine erneute internationale Isolation, wie sie Djindjic geschickt an die Wand malt, will niemand. Im Prinzip gibt es Widerstände gegen eine Kooperation mit dem Tribunal in allen Ländern der Region. Nur sind sie in Serbien und in der Republika Srpska besonders ausgeprägt. Unter diesen Umständen gewinnt das Tribunal eine Bedeutung, die weit über die Verurteilung der Hauptschuldigen hinausreicht. Es geht um vier Anliegen:
–Erstens um umfassende Aufklärung, einfache Daten und Fakten, um den Menschen die Augen für das zu öffnen, was über Jahre kaum gesagt und geschrieben werden durfte – ein eminenter Beitrag zur Erneuerung der politischen Kultur auf dem Balkan;
–zweitens um Rehabilitierung der Opfer, die ein Recht auf historische Wahrheit und Gerechtigkeit haben. Wiedergutmachung kann es nicht geben; doch müssen Leid und Unrecht beim Namen genannt werden;
–drittens um die Feststellung von individueller Schuld, damit allen Kollektivschuldannahmen, die überall auf dem Balkan immer noch kursieren, der Boden entzogen wird. Die Frage bleibt allerdings, wie es geschehen konnte, dass Milosevics Politik über 13 Jahre von einer breiten Mehrheit der serbischen Bevölkerung gestützt wurde und Opposition, wenn überhaupt, fast nur von noch nationalistischeren Kreisen kam. Milosevic war ein „Produkt der serbischen Gesellschaft“ (Djindjic) – das gibt Anlass zum Nachdenken;
–schließlich geht es um saubere und professionelle Prozessführung; denn die Reformer in allen Ländern können es kaum verkraften, wenn durch anfechtbare Prozesse zusätzlich Wasser auf die Mühlen der Nationalisten geleitet wird. Die Prozesse selbst haben eine meinungsbildende Kraft, die nicht unterschätzt werden darf. Nicht zuletzt präsentiert sich hier auch „der Westen“ in seinem moralischen Anspruch und seinen Werten, die sich vor aller Augen beweisen müssen.
Auch wenn Milosevic und seine Gefolgsleute die Hauptverantwortung für das tragen, was auf dem Balkan geschah – der Blick muss über Serbien hinausreichen.
Aufarbeitung in Kroatien
In Kroatien findet eine schmerzliche, aufwühlende Debatte statt: Wie kann es sein, dass „wir“ als überfallenes und jahrelang besetztes Land plötzlich selbst an den Pranger gestellt werden? Hatten wir nicht ein Recht, uns zu wehren, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung standen? Jene Völker, die sich bisher nur als Opfer der Aggression Milosevics sahen, müssen sich der Tatsache stellen, dass auch ihre Sicherheitskräfte schwerste Kriegsverbrechen verübten, die nicht mit den serbischen Verbrechen „aufgerechnet“ werden können, und die dafür in Den Haag zur Rechenschaft gezogen werden.
Auch in Kroatien ist der innenpolitische Druck nicht nur durch die Veteranenverbände enorm. Über Jahre kultivierte Geschichtsbilder müssen revidiert werden. Opfer und „Befreier“ werden zu Tätern. Diese Debatte wird auch an Kosovo nicht vorbeigehen. Noch ist die Öffentlichkeit darauf kaum vorbereitet. Überall sieht man in Priötinas Straßen Poster der drei UCK-Kommandeure, die von der KFOR verhaftet wurden. Chefanklägerin del Ponte bereitet erste Anklagen vor, wie sie in Priötina nun auch öffentlich bekannt gab. Will das Tribunal tatsächlich Glaubwürdigkeit wahren, muss es mit der Gleichbehandlung aller ernst machen.
Ohne die Aufdeckung der historischen Wahrheit ist Aussöhnung auf dem Balkan nicht möglich. Dies lehrt ein Blick auf unsere eigene Geschichte; dies lehrt aber auch ein Blick auf die Geschichte des Balkans. Denn die Tabuisierung etwa der Gräuel der Balkan-Kriege 1912/13 oder des kroatischen Ustaöa-Regimes zu Zeiten von Josip Broz Tito hat Demagogen wie Milosevic und Franjo Tudjman die Möglichkeit eröffnet, in einseitiger Auslegung „ihrer“ Geschichte alte Stereotypen neu zu beleben und für aktuelle Zwecke zu missbrauchen. Solchem Revisionismus darf keine Chance mehr gegeben werden.
Es geht deshalb nicht nur um Moral, sondern es geht ebenso um Realpolitik. Curricula und Geschichtsbücher dürfen nicht neue Generationen im alten Geist heranbilden. Natürlich kann Aussöhnung nicht verordnet werden – sie braucht Zeit; die Wunden sind tief; die Aufarbeitung schmerzt. Doch wann sollte die Aussöhnung beginnen, wenn nicht heute, wo erstmals alle Regierungen der Region demokratisch gewählt sind, wo die Perspektive eines Beitritts zur EU enorme Kräfte der Transformation freisetzt und alle Länder essenziell auf umfassende Hilfe angewiesen sind?
Abgeschlossen am 2. Mai 2002.
Internationale Politik 5, Mai 2002, S. 21 - 24.