Allianz für die Ewigkeit
Angela Merkel könnte Geschichte schreiben
Was kann die deutsche Bundeskanzlerin unternehmen, um sich bleibenden Verdienst in den internationalen Beziehungen zu erwerben? Ein Rat aus Moskau: Deutschland sollte sich maßgeblich dafür einsetzen, ein strategisches Bündnis zwischen Russland und der EU zustande zu bringen. Das könnte die Lösung der strukturellen Sicherheitsprobleme Europas sein.
In einem Zwei-Parteien-System, so sagt man, arbeiten die führenden Politiker während der ersten Amtszeit für ihre Wiederwahl und in der zweiten für ihren Eintrag in die Geschichtsbücher. Wie sieht es bei Angela Merkel aus? Besteht die berechtigte Hoffnung, dass sie im Rückblick eine herausragende Stellung in der Geschichte des 21. Jahrhunderts einnehmen wird?
Auf den ersten Blick scheint es, als könne Merkel als die Rettungskanzlerin in die Geschichte eingehen, als diejenige, die Deutschland aus seiner größten Wirtschaftskrise seit den zwanziger Jahren geführt hat. Da nun das Ausmaß dieser Krise aber global ist, wäre zu fragen, ob Deutschland oder die deutsche Kanzlerin hier tatsächlich eine zentrale Rolle spielen können.
Bei einem anderen Problem bestünde jedoch durchaus die Möglichkeit, dass Deutschland maßgeblich zu einer Lösung beitragen kann. Russlands Stellung in Europa ist immer noch völlig ungeklärt. Viele der aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen für die europäische Sicherheit, viele ungelöste und eingefrorene Konflikte hängen mit diesem Problem zusammen. Etwa die Verletzung der Souveränität von Staaten und international anerkannter Grenzen, geopolitische Auseinandersetzungen um die postsowjetischen Länder, der Niedergang europäischer Sicherheitsinstitutionen und internationaler Regulierungsregime wie der internationalen Waffenkontrolle sind eng damit verbunden.
Lauter Gewinner
Das Modell von 1990 hat sich für die Überwindung der sicherheits- und wirtschaftspolitischen Teilung Europas als untauglich erwiesen. Jetzt müssen wir nach neuen Wegen suchen. Eine strategische Allianz könnte das Modell für die russisch-europäischen Beziehungen darstellen und die Lösung der strukturellen Sicherheitsprobleme Europas sein, eine Allianz mit gleichberechtigten Mitgliedern in einem ungeteilten und nach Osten erweiterten Europa. Die gegenseitige Anerkennung von Russland und der EU ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass beide unabhängig bleiben und trotzdem eng miteinander zusammenarbeiten können. Europa und Russland sind wesentlich erfolgreicher, wenn sie eine gemeinsame Wirtschafts- und Sicherheitszone schaffen.
Dieses neue gemeinsame wirtschafts- und sicherheitspolitische Konzept muss in einem gemeinschaftlichen Prozess ausgearbeitet werden. Dabei kann und soll es nicht darum gehen, die NATO oder die EU zu zerstören. Sondern darum, eine neue Ordnung zu schaffen, die der NATO und der EU auf der einen Seite und Russland, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) auf der anderen Seite übergeordnet ist. Denkbar wäre zunächst eine Reihe von Abkommen, die sich dann auf lange Sicht in Institutionen verfestigen, durch welche die russisch-europäische Wirtschafts- und Sicherheitszone gesteuert wird.
Eine Win-Win-Situation würde geschaffen, die die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen der russischen und der europäischen Wirtschaft unterstreicht und dabei hilft, die globalen politischen und wirtschaftlichen Probleme effektiver anzugehen. Europa würde durch eine solche Allianz an strategischer Tiefe und politischem Gewicht auf der Weltbühne gewinnen.
Die Allianz würde sich hauptsächlich auf zwei Säulen stützen. Die erste ist wirtschaftlicher Art und sieht die Ausarbeitung von Regulierungen für die russisch-europäischen Energiebeziehungen vor. Damit wäre es wieder möglich, sich bei der Energiedebatte auf das Wesentliche zu konzentrieren und frei von sicherheitspolitischen Fragen zu diskutieren. Mithilfe solcher Regeln wäre es außerdem möglich, die Basis für eine echte Integration des Energiesektors zu schaffen. Dabei soll es nicht darum gehen, den russischen Energiesektor zu den Bedingungen Europas in die EU zu integrieren. Sondern um die gemeinsame Verwaltung eines übergeordneten Energiesektors durch die EU und Russland als gleichberechtigte Partner.
Neben der Errichtung von neuen Pipelines zwischen Russland und der EU sollte der Austausch von Kapital ein zentraler Aspekt des Abkommens sein. Zusätzlich sollte ein neues Investitionsvegime geschaffen werden, das beiden Seiten einen gleichberechtigten Marktzugang gewährt und durch Garantien und Schutzmaßnahmen für ein positives Investitionsklima sorgt. Die Bedingungen für den Zugang sollten unbedingt in bilateralen Verhandlungen ausgearbeitet werden und keine bloße Ausweitung der EU-Gesetzgebung darstellen.
Regeln gegen Rivalitäten
Ein weiterer wichtiger Punkt wäre die Ausarbeitung eines Regelwerks für die wirtschaftlichen Beziehungen der EU mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), darunter vor allem mit der Ukraine, Weißrussland, Moldawien und mit den Kaukasus-Republiken.
Das hauptsächliche Augenmerk sollte bei all diesen Aktivitäten darauf liegen, regionale Rivalitäten so weit wie möglich zu minimieren – ohne den Integrationsprozess als Nullsummenspiel zu bewerten, in dem die eine Seite in dem Maß gewinnt, in dem die andere verliert. Damit das möglich wird, müssen alle Seiten Abstand davon nehmen, Integrationsprozesse in der GUS-Region in Gang zu setzen, die mit den bereits bestehenden Verpflichtungen ihrer Mitglieder in Konkurrenz stehen.
Die EU könnte ihre Außenbeziehungen, vor allem zu den GUS-Staaten, flexibler gestalten und sollte es vermeiden, eine Annäherung der GUS-Legislative an das Regelwerk der EU als Voraussetzung für eine Kooperation zu fordern.
Oft wird die eigentlich selbstverständliche Tatsache verdrängt, dass Russland ebenso wie die Ukraine und Moldawien ein GUS-Land und nicht weniger ein osteuropäisches Land ist als diese. Daher lassen die Versuche der EU, Ko-operation und Integration zu fördern, ohne Russland zu beteiligen, Zweifel an der Redlichkeit ihrer Absichten aufkommen. Fast könnte man auf die Idee kommen, es sei der Hintergedanke der EU, einen Keil zwischen Russland und seine direkten Nachbarn zu treiben, um den Integrationsprozess in der Region am Diktat der Europäischen Union auszurichten.
Bei der zweiten Säule der Allianz geht es um Sicherheit. Dabei gibt es wieder zwei untergeordnete Dimensionen: zum einen den Versuch, einen einheitlichen Sicherheitsraum in Europa zu schaffen, der die momentane Teilung überwindet, und zum anderen den Wunsch, die Partnerschaft zwischen EU, Russland und NATO zu fördern.
Sicherheit statt Schirm
Es gibt wohl niemanden, der sich die tief greifende Instabilität und die Konflikte herbeiwünschen würde, die eine weitere Ausdehnung des EU-Sicherheitssystems Richtung Osten zweifellos provozieren würde. Daher gibt es nur die Möglichkeit, auf Grundlage der Prinzipien kooperativer Bipolarität einen einzigen übergreifenden europäischen Sicherheitsraum zu schaffen. Dazu müssen sich sowohl die NATO und EU im Westen als auch die Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit im Osten mit der Existenz von zwei parallel funktionierenden Sicherheitsordnungen in Europa einverstanden erklären.
Um die Durchsetzung der paneuropäischen Sicherheitsordnung effektiv zu überprüfen, müssen zudem Regeln für ein gemeinsames Vorgehen ausgearbeitet und möglicherweise auch eine neue Institution geschaffen werden (oder die OSZE müsste gestärkt werden). In ein neues Abkommen zwischen Russland und der EU könnten diese Handlungsvorgaben und Mechanismen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung eingebettet werden.
In der Zwischenzeit sollte der -unklare Status der Gemeinsamen -Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Deutschland nicht daran hindern, mit Russland auf bilateraler Basis bei -Energiethemen zu kooperieren. Letztlich haben beide Seiten eine ähnliche Wahrnehmung, was die von außen kommenden Bedrohungen und Herausforderungen für Europa angeht.
Fühlt sich Deutschland verpflichtet, aufgrund der EU-Vorgaben Kompromisse bei der Durchsetzung seiner Interessen einzugehen, besteht die Gefahr, dass darunter die Koopera-tion mit Russland leidet und die -Effektivität weltweiter Governance-Strukturen verringert wird. Es ist daher grundsätzlich auch im russischen Interesse, wenn Deutschland seine Position in den internationalen Beziehungen offensiver vertritt und sich zu einem aktiveren Protago-nis-ten bei globalen sicherheitspolitischen Fragen entwickelt.
Erstens würde damit Europas Rolle in der Weltpolitik gestärkt werden, zweitens müssen Deutschland und die EU früher oder später eine entscheidende Rolle mit mehr Verantwortung in Fragen der Weltpolitik und Sicherheit einnehmen, nicht zuletzt, um ihre eigenen Sicherheitsinteressen besser wahrnehmen zu können. Auf Dauer ist es zu kurzsichtig, sich auf den Sicherheitsschirm der USA zu verlassen.
Go East
Durch die Bedrohungen der internationalen Sicherheit aus dem Nahen Osten und durch den relativen (nicht absoluten) Niedergang der globalen Macht der USA kommt es zu Verschiebungen der Machtverhältnisse vom Atlantik hin zum Pazifik. Wa-shington wird seine Politik immer mehr auf Asien ausrichten, was rasch auf Kosten seiner Verpflichtungen in anderen Regionen gehen wird, vor allem in Europa.
Deutschland und die EU sollten sich daher schon jetzt stärker um einen ernsthaften Sicherheitsdialog mit Russland bemühen und diese Aufgabe nicht allein den USA überlassen. Sowohl Russland als auch Deutschland sind daran interessiert, die Effektivität globaler Governance-Strukturen zu erhöhen, um sie besser den tatsächlichen Machtverteilungen in der Welt anzupassen.
Seien wir ehrlich: Deutschland verdient ebenso einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wie Russland ein größeres Mitspracherecht bei der Gestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung, insbesondere im -Energiesektor. Beide Seiten könnten darauf drängen, die Gespräche darüber zu vertiefen. Das Problem im UN-Sicherheitsrat ist jedoch, dass bereits zwei europäische Mächte einen ständigen Sitz innehaben; außerdem bemüht sich die EU gerade, eine gemeinsame und einheitliche Außenpolitik aufzubauen, während andere Regionen und Kontinente unterrepräsentiert bleiben.
Doch Moskau und Berlin könnten einen Kompromiss finden, der beispielsweise darin bestünde, zwei ständige europäische Sitze zu schaffen, die zwischen den EU-Ländern rotieren. Ein anderes Modell sähe vor, dass dieser Platz durch den EU-Außenminister besetzt wird, sobald der Lissabon-Vertrag in Kraft tritt. Ein ähnliches Muster von Vertretung im UN-Sicherheitsrat könnte auf andere Kontinente übertragen werden, etwa auf Afrika.
Das wirtschaftliche Interesse Russlands wie Deutschlands sollte im Mittelpunkt stehen und im Rahmen der Regulierungen der bilateralen Beziehungen ein zentrales Anliegen darstellen. Ein Investment-Regime, das beiden Seiten Sicherheiten und Vorteile garantiert, fördert die Etablierung und Vervielfältigung kooperativer Produktionsketten zwischen deutschen und russischen Unternehmen. Ebenso bildet ein stabiles Investment-Regime die Grundlage, um möglichen Investoren die notwendigen Garantien zu bieten. Somit könnte zum Vorteil der russischen und der deutschen Wirtschaft der freie Verkehr von Ressourcen, Technologien und Kapital garantiert werden.
Es ist offensichtlich, dass die Befolgung derartiger Ratschläge der politischen Elite in Deutschland nicht einfach fallen dürfte. Zu lebendig sind die Erinnerungen an 1990, und zu groß sind die Hoffnungen, dass sich Russland doch noch unter westlichem Diktat in den Westen integrieren wird.
Jedoch liegt gerade hier eine Chance für Deutschland, wenn nämlich die Bundesregierung den Vorreiter in Europa dabei spielt, diese stereotypen Sichtweisen zu überwinden. Dies ist auch der einzige Weg, um den letzten noch übrig gebliebenen strukturellen Herausforderungen an die europäische Sicherheit zu begegnen. Dann könnte Deutschlands Kanzler oder Kanzlerin als die Person in die Geschichtsbücher eingehen, die diese außerordentliche Leistung vollbracht hat.
DMITRY SUSLOV ist stellvertretender Forschungsdirektor am Council on Foreign and Defense Policy in Moskau.
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 108 - 113.