Titelthema

28. Aug. 2023

Allianz der Interessen

Die NATO-Partnerschaftspolitik ist im globalen Systemwettbewerb ein ideales Instrument für enge Verbindungen zu Demokratien. Aber eine grundlegende Reform tut not.

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Bild: Flaggen der Mitgliedstaaten bei einem NATO-Gipfel
Feierlich werden bei einem NATO-Gipfel die Flaggen der Mitgliedstaaten gehisst. Doch wie weiter mit 
den NATO-Partnerschaften? Sie müssen grundlegend 
an die neuen Zeiten angepasst werden.
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Dass Russlands Krieg gegen die Ukraine die Grundfesten der NATO verändert und eine Neuorientierung des Atlantischen Bündnisses erfordert, ist heute eine Binse. Es ist auch kein Geheimnis, dass sich die Aggressivität Russlands oder die Konfliktbereitschaft Chinas seit Längerem abgezeichnet hatte und von wichtigen NATO-Mitgliedern schlicht ignoriert wurde.

Umso bemerkenswerter ist, wie asch die NATO den politischen und militärischen Kurswechsel seit dem Februar 2022 hin zu Abschreckung und Verteidigung vollzogen hat. Der NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 hat gezeigt, wie geeint und entschlossen das Bündnis mit Blick auf die Bedrohung durch Russland ist.

Ein Bereich, der in der aktuellen Konzentration auf den Aspekt der Bündnisverteidigung zu kurz kam, ist die Partnerschaftspolitik der NATO. Sie war nach dem Ende des Kalten Krieges ein erfolgreiches Instrument, um interessierte Staaten außerhalb der Mitgliedschaft an die Allianz zu binden oder politische Demokratisierungsprozesse in Regionen jenseits der Bündnisgrenzen zu fördern. Sie wird umso wichtiger, als hinter dem Konflikt in der Ukraine schon die nächste und vermutlich weit größere Herausforderung lauert, nämlich die globale Auseinandersetzung mit einem immer aggressiveren China, das die internationale Ordnung zu seinen Gunsten zu verändern sucht.

Für diesen künftigen Systemwettbewerb, in dem sich die im politischen Sinn „westlich“ orientierten Demokratien behaupten müssen, ist die NATO sicher nicht das militärische Instrument erster Wahl. Auch wenn die USA auf ein stärkeres Engagement der Atlantischen Allianz im asiatisch-pazifischen Raum dringen, ist doch Russland für die Europäer das weitaus akutere Problem und die NATO ist nun einmal die „North Atlantic Treaty Organization“ und kein ostasiatisches Verteidigungsbündnis. Auch ist außer Frankreich und Großbritannien wohl kaum ein europäischer NATO-Staat in der Lage, im asiatisch-pazifischen Raum militärisch schlagkräftig zu agieren. Politisch vermag die NATO allerdings eine Menge zu leisten, zumal eine politische Kooperation mit Staaten außerhalb des Bündnisses immer auch eine militärische Komponente etwa in Form von militärischer Ausbildung oder gemeinsamen Übungen beinhaltet.

Hier kommt die NATO-Partnerschaftspolitik ins Spiel, weil sie ein ideales Instrument ist, enge Verbindungen zu den demokratischen Nationen in der Region zu knüpfen. Das geschieht bereits jetzt sehr erfolgreich mit den „Asia Pacific Four“ – Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea. Neben diesen Einzelaktivitäten müssen die NATO-Partnerschaften aber grundlegend reformiert werden, um sie von Wildwuchs zu befreien und an die Realitäten einer doppelten Herausforderung durch Russland und China anzupassen.



Den Dschungel lichten

Beginnend mit der „Partnership for Peace“ 1994 hat die NATO in den folgenden Jahren immer neue Partnerschaftsformate für Länder in unterschiedlichen Regionen geschaffen. Der „Mediterranean Dialogue“ wandte sich an Staaten des Mittelmeerraums, wie Israel, Ägypten oder Tunesien, während die „Istanbul Cooperation Initiative“ für Länder in der Golfregion gedacht war. Hinzu kamen drei „Special Relationships“ mit Russland, Georgien und der Ukraine sowie weitere Ober- und Untergruppierungen wie der „Euro-­Atlantic Partnership Council“, der „Partnership for Peace Planning and Review Process“, der „Intensified Dialogue“ oder der „Membership Action Plan“. Als wäre dies noch nicht genug, wurde weiter in das

„Individual Tailored Partnership and Cooperation Program“ oder den „Individual Partnership Action Plan“ ausdifferenziert. Unter der „Partnership Around the Globe“ wurden so unterschiedliche Länder wie Afghanistan, Australien, Irak, Japan oder die Mongolei zusammengefasst. Die Liste ließe sich fortführen.

All dies bildet einen schier undurchdringlichen Dschungel von Akronymen und Foren, der selbst für Fachleute nur noch schwer zu durchschauen ist. Auch wurden all diese Formate bislang kaum den veränderten politischen Bedingungen angepasst. Der im Jahr 2011 mit dem sogenannten „Berlin Package“ gestartete Versuch einer grundlegenden Reform scheiterte schon im Ansatz an den Regional- und Partikularinteressen einzelner NATO-Mitgliedstaaten. Auch konnte man sich nicht auf eine wirkliche Hierarchie wichtiger und weniger wichtiger Beziehungen oder der mehr oder weniger politisch nahestehenden Partner einigen. Also beließ man das Dickicht, auch wenn beispielsweise die finanziellen Mittel der NATO schon seit Langem nicht mehr ausreichten, all diese Partnerschaften personell oder organisatorisch zu betreuen.

Diese Strategie des Laissez-faire lässt sich spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine – oder eigentlich schon seit Moskaus Annexion der Krim im Jahr 2014 – nicht mehr aufrechterhalten. Mit der Bedrohung durch Russland rückt die militärische Bündnisverteidigung an die Spitze der drei Kernaufgaben der NATO. Die beiden anderen, Krisenmanagement und Partnerschaften, sind nicht nur untergeordnet, sondern müssen auf diesen ersten Daseinszweck ausgerichtet sein. Auch erfordern die Entwicklungen in Ostasien eine neue geografische Priorisierung der NATO-Beziehungen. Darüber hinaus ist der ohnehin nie realistische Traum einer militärisch autonom handelnden Europäischen Union endgültig ausgeträumt, und der nun eingeschlagene Weg einer immer engeren Kooperation von NATO und EU macht eine Neusortierung der Partnerschaften beider Organisationen notwendig. Diese Erkenntnis setzt sich nach und nach in den NATO-Mitgliedstaaten durch. Also erarbeiteten die Fachabteilungen des Bundesverteidigungsministeriums im Sommer 2022 erste Gedanken zur Anpassung der NATO-Partnerschaftspolitik, die indes bei der damaligen Leitung des Hauses auf wenig Interesse stießen.

Eine grundlegende Reform setzt allerdings bei vielen NATO-Staaten eine Abkehr von überkommenen Vorstellungen und Handlungsmustern voraus. So hatte sich Deutschland lange gegen eine geografische Ausweitung des NATO-Horizonts jenseits des Bündnisgebiets gewehrt, befürchtete man dadurch doch eine „Globalisierung“ der NATO, die irgendwie mit „Weltpolizistentum“ gleichgesetzt wurde. Die Türkei hatte in den vergangenen Jahren die NATO-Partnerschaften zum Spielball der eigenen Interessen gemacht und gemeinsame Projekte mit den Ländern blockiert, die sich negativ über die politischen Zustände in der Türkei geäußert hatten. Frankreich hat bis heute ein Problem mit NATO-Aktivitäten im asiatisch-pazifischen Raum und hat sogar bis zuletzt versucht, das auf dem jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius beschlossene ­NATO-Verbindungsbüro in Japan zu verhindern. Dahinter steht offenbar die unausrottbare gaullistische Furcht, dass diese transatlantische und damit im französischen Verständnis amerikanisch kontrollierte NATO allzu viel politischen Einfluss gewinnen könnte. Auch die Osteuropäer sehen den Blick der NATO nach Ostasien skeptisch, befürchten sie doch, dass dadurch weniger Ressourcen für den Kampf gegen Russland bereitstehen.



Partnerschaften der Zukunft

Ein NATO-Partnerschaftskonzept, das auf den kommenden globalen Systemwettbewerb ausgerichtet ist, sollte deshalb auf vier Grundprinzipien beruhen.

Erstens müssen NATO-Partnerschaften grundsätzlich interessenorientiert sein und unter dem Aspekt der Nützlichkeit betrachtet werden. Die NATO definiert, welche Staaten Partner werden können oder sollten, statt ein Menü zu präsentieren, aus dem interessierte Länder je nach eigenen Präferenzen wählen können. Die NATO hat von vielen Partnerschaften profitiert, etwa indem sie militärische Inter­operabilität mit den Partnern erreicht oder Einfluss in den Regionen gewonnen hat. Umgekehrt hat etwa die militärische Ausbildungshilfe der NATO viele Partner in die Lage versetzt, für ihre Sicherheit selbst zu sorgen. Ist diese Zweibahnstraße wechselseitigen Nutzens nicht gegeben, hat eine Partnerschaft wenig Sinn. Demzufolge kann es auch keinen Bestandsschutz für eines der oben genannten Formate geben. Eine solche Interessenorientierung ist nicht verwerflich, sondern wird auch von den einzelnen NATO-Mitgliedern betrieben. Der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe, einer der Treiber der ersten NATO-Erweiterung nach dem Ost-West-Konflikt, hatte die Partnerschaft mit Polen, Tschechien und Ungarn klar am deutschen Interesse einer Stabilisierung seiner Ostgrenze ausgerichtet.

Zweitens haben NATO-Partnerschaften – anders als in den 1990er Jahren – kaum noch eine Vorbereitungsfunktion für künftige NATO-Mitglieder. Mit der jüngsten Erweiterung um Schweden und Finnland fallen zwei der engsten NATO-Partner weg. Keiner der übrigen Aspiranten, wie Georgien oder Bosnien-Herzegowina, werden bald der NATO beitreten. Die Ukraine ist durch den akuten Krieg zu einem Sonderfall geworden. Bei allem Verständnis für die Sicherheitsinteressen Kiews sind es nicht nur der Krieg oder die Krim-Frage, die vor allem die USA gegen eine rasche Aufnahme stimmen lassen. Es sind vor allem die militärischen Implikationen.

Die Ukraine ist nach Russland der zweitgrößte Flächenstaat in Europa. Nach ihrem Beitritt müsste die NATO in der Lage sein, die Ukraine an ihrer Ostgrenze zu verteidigen. Da die NATO derzeit militärisch schon kaum die eigenen Grenzen glaubwürdig zu schützen vermag, sind die gewaltigen Kosten eines solchen Beitritts erkennbar. Allerdings kann sich das ändern, je nachdem, wieviel militärische Macht Russland nach dem Ende des Krieges noch besitzen wird. Die Ukraine-Frage wird sich bis zum NATO-Gipfel im Frühjahr 2024 in Washington D.C. noch entwickeln. Daneben wird sich die künftige Partnerschaftspolitik vor allem an die Länder richten, die nicht der NATO beitreten können oder wollen.

Drittens können Partnerschaften nicht frei von Hierarchien sein. Partner sind aufgrund ihrer geostrategischen Lage, ihres politischen Systems oder der Beiträge, die sie in die Beziehung mit der NATO einbringen, unterschiedlich relevant. Das war bereits so, als die NATO die Länder, die am meisten zur Operation in Afghanistan beitrugen, als „Heavy Partners“ bezeichnete. Hierarchien können sich wandeln, wenn sich die politischen Umstände ändern. Der Umstand, dass Pakistan zu den globalen Partnern der NATO zählte, ergab sich allein aus seiner geostrategischen Position, da Pakistan kaum Beiträge zur Partnerschaft leistete. Heute, nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan, ist die Grundlage für eine Partnerschaftsbeziehung zu Islamabad nicht mehr gegeben.

Viertens entscheiden vor allem das politische System und die Werteorientierung eines Landes darüber, ob es zum Kreis der privilegierten Partner der NATO zählen kann. Die Atlantische Allianz ist ein wertegebundenes Bündnis und muss dadurch demokratischen Staaten eine besondere Bedeutung beimessen. Wenn es im künftigen globalstrategischen Wettbewerb auch darum geht, dass Länder wie Russland und China westliche Werte dezidiert ablehnen und China darüber hinaus darauf zielt, seinen eigenen Wertekanon international durchzusetzen, ist es die Aufgabe einer Werteallianz, sich dagegen zu positionieren. Die Tatsache, dass sich NATO-Mitglieder wie Ungarn oder die Türkei schrittweise immer weiter vom transatlantischen Wertegerüst entfernen, ist eine bedauerliche Entwicklung unter deren jeweiligen autokratischen Regierungen, spricht aber nicht grundsätzlich gegen die Werteorientierung der Allianz.

 

Partnerschaften im Wettbewerb

Der engste Kreis der NATO-Partner besteht somit aus den Ländern, welche die Interessen und Ziele der NATO befördern und den demokratischen Grundsätzen der Allianz entsprechen. Diesen privilegierten Partnern der NATO muss ein Einfluss auf die internen Prozesse des Bündnisses eingeräumt werden. Das bedeutet weder ein Mitsprache- noch ein Stimmrecht bei ­konkreten Entscheidungen der Allianz. Allerdings müssen die Sicherheitsinteressen dieser Partner stets in die Überlegungen der NATO einbezogen werden. Ein Idealmodell waren die Beziehungen zu Schweden vor dessen Einladung zur NATO-Mitgliedschaft. Schweden hat an allen für das Land wichtigen internen ­NATO-Debatten teilgenommen und konnte seine Positionen stets in die Diskussionen einbringen.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich zweierlei: Zum einen haben sich ein Teil der existierenden NATO-Partnerschaften und der dazugehörigen Foren überlebt und ihre Daseinsberechtigung verloren. Formate wie der NATO-Mittelmeerdialog oder die Partnerschaft mit den Golfstaaten existieren faktisch nur noch auf dem Papier. Ein erhebliches Ausdünnen und Priorisieren ist unabdingbar, selbst wenn es mit liebgewonnenen Routinen bricht.

Zum anderen wächst den Partnerschaftsaktivitäten im asiatisch-pazifischen Raum eine besondere Bedeutung zu. Die NATO hat zu den vier Demokratien in der Region (Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland, den schon erwähnten „AP-4“) besonders enge Beziehungen entwickelt und diese Länder zu den jüngsten beiden NATO-Gipfeltreffen eingeladen. Was die AP-4 mit der NATO eint, ist die Sorge gegenüber China und Russland, da Moskau trotz des Krieges in Europa weiterhin gemeinsame militärische Übungen mit China im Indo-Pazifik veranstaltet. Daraus ergibt sich automatisch ein gemeinsames Interesse an der Bekämpfung russischer und chinesischer Desinformation, deren aggressiven Cyberaktivitäten oder am Schutz von Unterwasserkabeln und Pipelines. Dies könnte wiederum die Basis für eine engere Zusammenarbeit der NATO mit weiteren regionalen Zusammenschlüssen sein, wie dem amerikanisch-australisch-britischen Format „AUKUS“ oder dem „Quadrilateral Security Dialogue“ (USA, Australien, Japan und Indien) – kurz „Quad“.

Gleichzeitig wird durch die militärische Kooperation der NATO mit den AP-4 und potenziell weiteren Staaten in der Region in Form von Übungen, gemeinsamer Ausbildung oder Interoperabilität von Waffensystemen ein deutliches Signal der gemeinsamen Verteidigungsbereitschaft und damit der Abschreckung gegenüber möglichen Aggressionen gesandt.

Durch die Konzentration der bestehenden Partnerschaften einerseits und einem deutlich größeren Augenmerk der NATO auf die Demokratien im asiatisch-pazifischen Raum andererseits würde ein tragfähiges Partnerschaftsgeflecht des politischen Westens entstehen, das im Systemwettbewerb mit den Diktaturen in Moskau und Peking und deren Satrapen bestehen kann.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 76-80

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Dr. Karl-Heinz Kamp war Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und Sonderbeauftragter im Bundesministerium der Verteidigung.

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