Weltspiegel

29. Aug. 2022

Ahistorisch und lückenhaft

Die erbitterte deutsche Debatte über Fehler bei der Politik gegenüber Russland wird verkürzt und schief geführt. Neun Punkte für eine notwendige Neujustierung.

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Bild: Feierliche Eröffnung von Nord Stream 1
Schon die rot-grüne Regierung hatte mit der Nord Stream 1-Pipeline die Abhängigkeit von der russischen Gasversorgung verbreitern wollen: Angela Merkel, Dmitri Medwedew u.a. bei der Inbetriebnahme 2011
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Seit Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine am 24. Februar 2022 wird vehement über die deutsche Politik gegenüber Russland diskutiert. Diese Debatte krankt an verschiedenen Punkten. Frühzeitige Warner vor einer russischen Aggression unterstellen zum einen eine Zwangsläufigkeit der Geschichte bis zum russischen Angriff, die man zumindest infrage stellen kann – wahlweise beginnend mit dem Amtsantritt Wladimir Putins, der russischen Annexion der Krim oder den Planungen zur Nord Stream 2- Pipeline. Auch ist die Diskussion ein Paradebeispiel für das Phänomen des „hindsight bias“, bei dem mit dem Wissen von heute unterstellt wird, dass man damals eine andere Politik hätte machen können oder müssen. Zur Wahrheit gehört aber: Gerade in Deutschland wären viele nun für die Vergangenheit eingeforderte Entscheidungen ohne den russischen Angriffskrieg gar nicht möglich gewesen.



So wirkt die ganze Debatte erstaunlich ahistorisch und lückenhaft. Es wird keineswegs das ganze Set der ­westlichen ­Aufstellung gegenüber Russland diskutiert – die Konzentration liegt fast ausschließlich beim Thema Gas und dort bei der Nord Stream 2-Pipeline. Aber dies verkürzt die Debatte um entscheidende Aspekte. Zweierlei sei besonders betont: Es geht in diesem Artikel nicht um eine historische Aufarbeitung der deutsch-russischen Beziehungen. Es geht auch nicht um die Bewertung einer bestimmten Politik oder um den Sinn oder Unsinn jahrzehntelanger Gaslieferungen aus Russland. Dieser Artikel soll vielmehr die damaligen Beweggründe für das Handeln führender Politikerinnen und Politiker klarer machen – und er will die Debatte anhand von neun Punkten neu justieren und verbreitern. Grundlage sind Beobachtungen der Hauptakteure der deutschen Bundespolitik aus nächster Nähe seit mehr als 20 Jahren.

 

1. Sanktionen statt militärischer Mittel

Die Politik der Bundesrepublik ist über Jahrzehnte davon geprägt, vermeintlich richtige Lehren aus der deutschen Geschichte und vor allem der NS-Zeit ziehen zu wollen. Dies hat eine besondere Haltung gegenüber dem Militärischen nach sich gezogen. Der Einsatz von Gewalt als letztem Mittel der Politik wurde vom Tätervolk des Zweiten Weltkriegs eher tabuisiert. Unter Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel gab es zwar eine schrittweise Ausweitung des Aktionsradius der Bundeswehr – auf dem Balkan, in Afghanistan und in Mali. Aber in den vergangenen Jahren ist die Bereitschaft zu Auslandseinsätzen wieder gesunken, wozu eine breite Allianz in Regierung und Opposition beitrug. Waren es früher Schecks, so sind es heute vor allem Sanktionen, die Deutschland als Mittel der Wahl in Auseinandersetzungen wie beispielsweise mit Russland einsetzt. Ergänzt wird dies – im Einzelfall Ukraine – mit einer begrenzten Lieferung von Waffen.



Diese Skepsis gegenüber Auslandseinsätzen ist keine allein deutsche Entwicklung. Spätestens seit dem libyschen Bürgerkrieg, der durch den Sturz Muammar al-Gaddafis 2011 (ermöglicht durch die westliche Militärintervention) noch verstärkt wurde, gibt es Zweifel an der Sinnhaftigkeit und der positiven Wirkung von Auslandseinsätzen. Dies führte in Syrien dazu, dass man letztlich Iran, Russland und der Türkei das Feld überließ, weil nicht einmal mehr die USA willens waren, militärisch in entscheidender Weise zu intervenieren. Der überstürzte Rückzug aus Afghanistan 2021 demonstrierte der ganzen Welt die neue Schwäche des Westens.



Das Problem dieser Haltung ist, dass es eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber Akteuren wie Russland nach sich zieht, die sehr wohl willens und in der Lage sind, zum Erreichen ihrer Ziele militärische Gewalt einzusetzen. Dieses Problem wird in der Debatte über Russlands Krieg in der Ukraine meist unterschlagen, weil es unangenehme Fragen aufwerfen würde – gerade weil es für das Kalkül des russischen Präsidenten Putin sehr wichtig ist.

 

2. Mangelhafte Abschreckung

Vor diesem Hintergrund ist wenig erstaunlich, dass in der deutschen Aufarbeitung ein Element der Politik gerade gegenüber Russland weitgehend fehlt oder nur indirekt behandelt wird: die militärische Schwäche Deutschlands. Bis 2014 galt die Bundeswehr in den Regierungen Merkel nicht als Priorität. Nach der russischen Annexion der Krim kam es dann zu einer schrittweisen Anhebung des Wehretats. Noch im Wahlkampf 2021 und bei der Bildung der Ampelregierung lehnten SPD und Grüne die erneuerte Selbstverpflichtung der NATO-Länder ab, 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Sicherheit auszugeben. Erst am 27. Februar 2022 – drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine – korrigierte Bundeskanzler Olaf Scholz diese Position und setzte das 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ für die bessere Ausstattung der Bundeswehr durch.



Dies ändert aber nichts daran, dass das wirtschaftliche stärkste Land in Europa militärisch schwach war und es auf absehbare Zeit auch sein wird. Das beschränkt die Politik in ihren Handlungsoptionen entscheidend und wirkt sich auch auf die mögliche direkte Militärhilfe der Bundeswehr für die Ukraine aus.



3. Der Nord Stream 2-Komplex

Nichts hat die Russland-Debatte so sehr geprägt wie der Streit um den Bau der Nord Stream 2-Pipeline. Deutschlands Konzentration und Vertrauen auf russisches Pipeline-Gas und dieses Projekt werden von Kritikern als Chiffre für Naivität und Kurzsichtigkeit der deutschen Politik angesehen. Rückblickend betrachtet war es aus Sicht der beteiligten Unternehmen falsch, Milliarden in den Bau der Pipeline zu stecken, durch die sie mehr russisches Gas nach Deutschland und Westeuropa bringen wollten. Die Warnungen vor einer noch größeren Gasabhängigkeit von Russland und einem möglichen weiteren Druckmittel Putins durch Nord Stream 2 haben sich allerdings nicht bewahrheitet. Denn Putin griff die Ukraine schon vor der Inbetriebnahme an und verwandelte das Projekt damit in ein Milliardengrab. Die heutigen Probleme bei der Gasversorgung Deutschlands liegen an ganz anderen ­Stellen.



Schröders rot-grüne Regierung hatte schon mit der Unterstützung der Nord ­Stream 1-Pipeline die Abhängigkeit der Versorgung Deutschlands und Westeuropas mit russischem Gas auf eine breitere Grundlage stellen wollen. Auch wenn dies in der Öffentlichkeit wegen der freundschaftlichen Bande zur Ukraine nicht laut betont wurde: Eine gefährliche Abhängigkeit des Industrieriesen Deutschland wurde in Regierungskreisen sowie bei Firmen auch nach 2005 nicht vom russischen Verkäufer, sondern bei dem ukrainischen Durchleiter des Erdgases gesehen. Gründe dafür waren ein marodes Leitungsnetz und korrupte Strukturen im ukrainischen Energiesektor.



„Naiv“ wurde die Debatte damals keineswegs geführt, auch wenn man in Bundesregierung und Ministerien den – als interessengeleitet eingeschätzten – Warnungen unter anderem der USA, Polens und der Ukraine vor einer zu großen Energieabhängigkeit von Russland wenig Gehör gab. Nach den Erdgaskonflikten ­zwischen der Ukraine und Russland ab 2005 setzte sich gerade die Bundesregierung dafür ein, dass osteuropäische Länder von Westen aus („reverse flow“) oder mit von der EU finanzierten LNG-Terminals mit (teilweise russischem) Gas versorgt werden konnten. Zusammen mit der EU-Kommission sorgte die Bundesregierung dafür, dass die Ukraine ihre Transitverträge behielt. Sie baute nach jahrzehntelangen Erfahrungen darauf, dass Moskau selbst bei politischen Konflikten an einem nicht rütteln würde: an der Lieferung der vereinbarten Gasmengen nach Westeuropa.



Und Merkel machte mehrfach öffentlich, dass es nicht verhandelbare Bedingungen für den Betrieb der seit 2018 gebauten Nord Stream 2-Pipeline gab – unter anderem eine vertragliche Vereinbarung, dass die Ukraine weiter Transitland bleibt, sowie der Verzicht Russlands darauf, Erdgaslieferungen als politische Waffe einzusetzen. Diese Konditionen wurden in der amerikanisch-deutschen Vereinbarung vom Juli 2021 festgehalten, auch um exterritoriale Sanktionen der USA abzuwenden. Genau diese Vereinbarung war die Grundlage dafür, dass es gar nicht mehr zu einer Inbetriebnahme kam. Überspitzt ausgedrückt könnte man Nord Stream 2 also auch als Beleg dafür nehmen, dass schon die frühere Bundesregierung sehr genau wusste, mit wem sie es in Moskau zu tun hat. Die US-Regierung wurde im Übrigen darauf verwiesen, dass sie selbst Jahr für Jahr für Milliarden Dollar Erdöl aus Russland einkaufe. Gestoppt hat Wa­shington dies erst im März 2022, also nach dem russischen Angriff.



Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Putin aus Sicht der neuen Bundesregierung die Grundlage für den Betrieb der Pipeline zerstört. So führten der Krieg, die folgenden westlichen Sanktionen sowie die russischen Gegenmaßnahmen wie das Bestehen auf Rubelzahlung dazu, dass Russland erstmals seit Jahrzehnten seine Gaslieferungen gen Westen dauerhaft unter die vereinbarten Mengen reduzierte. In Deutschland wich die anfängliche Forderung, sofort alle Gasimporte aus Russland zu stoppen, der Angst, nicht mehr genug russisches Gas für den Winter zu bekommen. Mit Nord Stream 2 hat beides nichts zu tun.



4. Das Verhältnis Politik – Wirtschaft

Nicht diskutiert wird ein möglicherweise tieferliegendes Problem, nämlich das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft in Deutschland. Die bundesrepublikanische Grundüberzeugung über wechselnde Regierungen hinweg – aber vor allem bei Union und FDP – war, dass man mit einem liberalen Wirtschaftsmodell samt einer gewissen Distanz zwischen Politik und Unternehmen am besten fährt. Aber der Aufstieg Chinas veränderte die Debatte. Erstmals zeigte sich, dass auch eine autoritäre Regierung mit einer langfristigen Strategie wirtschaftlich erfolgreich sein konnte. Die mehrfache Verschärfung des Außenwirtschaftsgesetzes zeigt, dass die Erkenntnis in der Regierung Merkel nur schrittweise einsickerte, dass sich Demokratien wehren können müssen – auch wenn dies dem Interesse einzelner Unternehmen und der eigenen Marktideologie widerspricht.



Partikularinteressen in westlichen Marktwirtschaften standen einer über Jahrzehnte geplanten und auch an Sicherheitsinteressen orientierten Aufstiegspolitik in Peking gegenüber. Dies wurde schon 2015 bei den vorübergehenden chinesischen Exportbeschränkungen für Seltene Erden deutlich. Mit Blick auf den Erdgassektor räumen führende Vertreter der Merkel-Regierungen heute ein, dass man die strategische Bedeutung der ganzen Lieferkette zu spät gesehen habe. Rückblickend dürfte der größte Faktor für eine gefährliche Abhängigkeit die Entscheidung von BASF im Jahr 2015 gewesen sein, Gazprom im Gegenzug zur Nutzung sibirischer Gasfelder die Kontrolle über das Vertriebsunternehmen Wingas und den größten Gasspeicher in Deutschland in Rehden zu überlassen. Dies stieß damals übrigens auch in der Öffentlichkeit kaum auf Kritik.



5. Das LNG-Paradox

Es ist mitnichten so, dass die Option von Flüssiggas (liquified natural gas, LNG) in den Jahren vor dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht diskutiert und geprüft worden wäre. Aber LNG galt als politisch unerwünscht, weil es in den USA mit der Fracking-Technologie verbunden war und deshalb verschmäht wurde oder mit Menschenrechtsverletzungen in möglichen anderen Lieferstaaten am Golf in Verbindung gebracht wurde. Erst seit dem russischen Angriff verschieben sich die Prioritäten auch bei den Kritikern.



Hinzu kommt, dass LNG noch 2021 als wirtschaftlich nicht attraktiv galt – weil man die Preise mit denen für billiges Pipeline-Gas verglich. 2018 sprach Merkel davon, dass man ein LNG-Terminal mit 500 Millionen Euro an der deutschen Nordseeküste mitfinanzieren könne. Etwa 2017 hatte auch Olaf Scholz noch als Hamburgs Bürgermeister den Bau eines LNG-Terminals in Brunsbüttel befürwortet. Allerdings ging es damals für Scholz eher darum, im Hamburger Hafen Schiffe mit alternativen Antrieben zu versorgen als die ganze Republik zu heizen.



Aber Unternehmen wie Eon verwarfen die Planungen immer wieder. Denn der LNG-Preis lag deutlich über dem für Pipeline-Gas, der Bezug aus Russland galt parteiübergreifend als sehr sicher. In der EU gab es zudem bereits erhebliche Kapazitäten an LNG-Anlandeterminals, die nur zu einem geringen Teil ausgelastet waren.



Dass osteuropäische Staaten wie Polen oder Litauen heute anders als Deutschland bereits über LNG-Terminals verfügen, liegt daran, dass diese nach der russischen Annexion der Krim 2014 und den folgenden Spannungen von der EU massiv subventioniert wurden, also indirekt auch von Deutschland. Staatliche Hilfe in einem reichen Land wie Deutschland wäre unter EU-Beihilferecht aber ohne eine akute Notlage von außen und angesichts der Verfügbarkeit russischen, deutschen, norwegischen oder niederländischen Erdgases viel schwieriger gewesen. Dass die massive staatliche Förderung nun für LNG-Terminals an der deutschen Küste möglich ist, liegt allein am russischen Angriff auf die Ukraine und der aufgetretenen Erdgaskrise.



6. Die Suche nach Alternativen

Rückblickend sind sich alle einig, dass in der deutschen Energiepolitik Fehler gemacht wurden. Je nach politischer Richtung werden aber andere Schuldige identifiziert. Unstrittig ist , dass ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien mitgeholfen hätte, Abhängigkeiten zu reduzieren. Allerdings hätte dies den Import des Übergangsenergieträgers Erdgas nicht beseitigt, den man wegen des gleichzeitigen Ausstiegs aus der Atom­energie und der Kohleverstromung benötigt.



Dass große Industrieländer wie Deutschland oder Italien einen so hohen Anteil russischen Gases verbrauchten, liegt nicht nur am niedrigeren Preis des Pipeline-Gases. Es musste auch Ersatz für die auslaufende heimische oder niederländische Produktion beschafft werden. Nur galt die mögliche Frackinggas-Förderung in Deutschland wegen der Umweltbedenken als politisch nicht durchsetzbar. Zudem scheiterten viele Versuche, neue Lieferanten zu finden. Dass der Anteil russischen Gases am Verbrauch in Deutschland in den vergangenen Jahren stieg, war also anders als von Kritikern behauptet keineswegs eine gezielte Politik, sondern die Folge gescheiterter Diversifizierungsbemühungen.



Bundeskanzlerin Merkel hatte in ihrer Amtszeit eine ganze Reihe von Reisen in rohstoffreiche Staaten am Golf, nach Aserbaidschan, Algerien, Ägypten oder Angola unternommen. Gerade Nordafrika galt als Alternative zu Energielieferungen aus Russland. Libyen etwa war vor dem Bürgerkrieg ein verlässlicher Gaslieferant gewesen. Es gab zudem die Hoffnung, dass eine Einigung mit Iran über das Atomprogramm Gaslieferungen über eine durch die Türkei führende Pipeline ermöglichen würde. Aber politische Hoffnungen wie im Falle Irans oder auch Algeriens zerstoben.



Hinzu kommt, dass in Deutschland bis heute offensichtlich ein Grundverständnis für die Bedürfnisse und Forderungen von Produzentenländern fehlt. Die Zahl möglicher Lieferländer schrumpft, wenn aus Klimaschutzgründen keine Investitionen in neue Gasfelder gewünscht werden, die aber selbst bevorzugte afrikanische Partner wie Senegal einfordern. Sie sinkt noch weiter, wenn deutsche Firmen wegen des erklärten mittelfristigen Ausstiegswunsches aus Erdgas keine Langfristverträge abschließen wollen, anders als Firmen aus anderen Ländern.



Erst der russische Einmarsch hat die Sicht der Akteure und die politischen Spielräume geändert. Nun gelten plötzlich Investitionen in Gasfelder oder der Bezug von LNG-Gas aus den USA und Katar auch in Berlin und bei den Grünen als das kleinere Übel gegenüber russischem Gas. In der deutschen Binnendebatte wird dabei verdrängt, dass die Bundesrepublik erneut Probleme mit ihrem Reichtum löst: Aus der hohen Abhängigkeit von russischem Gas kauft sich Deutschland einfach teilweise frei, indem es andere potenzielle Käufer im Rennen um noch frei verfügbare LNG-Vorkommen auf den Weltmärkten überbietet und diese nach Europa umleitet. Das führt zu Lieferproblemen in anderen Teilen der Welt und treibt die Preise weltweit weiter in die Höhe.



7. Osteuropa und die Solidarität

Außen- und europapolitische Debatten in Deutschland zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer gewissen Lust zur Selbstverzwergung und Selbstgeißelung geprägt sind. Kritik von außen wird ­begierig als Beleg für eine falsche deutsche Politik aufgegriffen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die fast einhellige Kritik der außenpolitischen Community, als sich die Merkel-Regierung 2011 bei der westlichen Militärintervention in Libyen im UN-Sicherheitsrat enthielt. Die damals von Expertinnen und Experten prognostizierte Isolation Deutschlands trat nie ein. Stattdessen versank Libyen im Bürgerkrieg und fiel als Lieferant von Erdgas und Erdöl für Europa aus.



Dennoch werden jetzt dieselben harten Schnellurteile gefällt. Erstaunlich abrupt änderte sich etwa der Blick auf osteuropäische Länder. Noch vor einem Jahr galt Polen unter der nationalkonservativen PiS-Regierung vor allem als schwieriger, ideologiegetriebener EU-Partner. Es dominierte die Kritik am umstrittenen Umgang mit Justiz und Medien, auch über bewusst geschürte antideutsche Ressentiments durch einige PiS-Politiker.



Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat sich dies völlig verändert. Die Angst vor Russland dominiert im Osten alle Debatten, was angesichts der geografischen Nähe verständlich ist. Auch nationalistische Warner gelten nun als weitsichtig und werden als Kronzeugen einer angeblich verfehlten deutschen Politik akzeptiert. Aber diskutiert wird vor allem das Thema Erdgas und nicht etwa die jahrelangen polnischen Warnungen vor mangelnder militärischer Stärke Deutschlands. Völlig ausgeblendet wird, dass es auch in Polen – wie in allen anderen Ländern – innenpolitische Motive gibt, die Kritik an Deutschland mit erklären.



8. Realpolitik und Grauzonen

Seit dem Zerfall der Sowjetunion wird debattiert, wohin sich die unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken orientieren. Auf NATO- und EU-Seite gab es die Entscheidung für eine doppelte Ost­erweiterung um einige frühere Ostblockländer und das Baltikum. Die EU legte daneben eine Nachbarschaftspolitik für diejenigen Staaten auf, für die man in absehbarer Zeit keine Beitrittsperspektive erkannte – dazu gehörten Belarus, die Ukraine, die Republik Moldau sowie die drei Kaukasus-Länder. Gründe für die Zurückhaltung waren entweder die geografische Entfernung, ungeklärte Territorialkonflikte wie in Moldau, Armenien und Aserbaidschan oder aber zwischen einer West- und Ost-Orientierung gespaltene Bevölkerungen wie in der Ukraine.



2008 blockierte Merkel – übrigens zusammen mit anderen Europäern – den Versuch von US-Präsident George W. Bush, die Ukraine und Georgien schnell in die NATO zu holen. Zugespitzt gab es damals die Einschätzung, dass man Länder wie Georgien oder die Ukraine im Konfliktfall nicht würde verteidigen können oder wollen. Man mag dies kritisieren und angesichts des Entsetzens und der Empörung über das Töten in der Ukraine verdrängen: Aber damals wie heute gab es eine zumindest informelle Verständigung über Par­teigrenzen hinweg, dass der Westen wegen einiger in „Grauzonen“ befindlicher Staaten wie der Ukraine keinen Krieg mit der Atommacht Russland führen würde – und das weiß Putin. Diese Realpolitik wird in Deutschland gern verschwiegen. Aber sie wurde eben auch von politischen Kräften getragen, die heute nach ungeteilter Solidarität mit der Ukraine rufen. Als ­entscheidende Grenze für die eigene Abwehr russischer Aggression wird immer noch die NATO-Grenze angesehen.



9. Die Mär von der Naivität nach 2014

„Aber 2014“, lautet ein Einwand. Nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Moskau hätte man sich doch keine Illusionen über Putin mehr machen dürfen. Zumindest bei den Hauptakteuren der deutschen Politik war dies allerdings auch gar nicht der Fall. Die Ostdeutsche Merkel hegte seit Amtsantritt 2005 große Skepsis gegenüber dem früheren KGB-Mann Putin. Nach dessen Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 gab es endgültig keine Hoffnung auf Reformen mehr. Den Hauptakteuren in Berlin – auch denen in der SPD – ging es allein um die Frage, wie man mit einem Regime umgehen sollte, das immer autoritärer auftrat, das man aber etwa für eine Kooperation in internationalen Fragen vom Klimaschutz bis Iran brauchte. 2014 warf die Kanzlerin Putin offen vor, sie im Zusammenhang mit der Besetzung und Annexion der Krim angelogen zu haben.



Aus Sicht von Merkel oder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminister, wird die gesamte Ukraine-Krise 2013/14 heute teilweise verzerrt wahrgenommen. Der Einsatz Merkels und Steinmeiers für das Zustandekommen des Minsker Abkommens zwischen der Ukraine und Russland war der Versuch, angesichts der politischen Zerrissenheit der Ukraine und einer damals schwachen ukrainischen Armee zumindest eine Eskalation zu verhindern. Diese Einschätzung, dass das Einfrieren eines ungelösten Konflikts in der Ostukraine immer noch besser sei als ein offener Krieg mit zehntausenden Toten, prägte in den Folgejahren das Pochen auf das Minsker Abkommen und die Gespräche im Normandie-Format. Die russische Annexion der Krim oder die Abspaltung des Ostens wurden dabei gerade nicht legitimiert.  



Völlig unter geht dabei, dass neben einigen Osteuropäern vor allem Deutschland für EU-Sanktionen gegen Moskau eintrat. Auch wenn Kritiker rückblickend bemängeln, dass die begrenzten Sanktionen Putin offensichtlich nicht entscheidend abschreckten – mehr wäre in der EU damals wohl nicht durchsetzbar gewesen. Schon die halbjährliche Verlängerung erforderte jeweils einen politischen Kraftakt.   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 65-72

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Dr. Andreas Rinke ist Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.