Agenda 2020: Deutschland weiter denken!
Zu Beginn des Jahres 2004 lag das Wohlstandsniveau der einstigen Wirtschaftswundermacht
Deutschland erstmals unter dem Durchschnitt der (damals noch) 15 EU-Länder. Daniel Dettling
vom Berliner Think Tank „berlinpolis“ und der an der Universität Rostock lehrende Politikwissenschaftler
Hans Jörg Hennecke plädieren angesichts dessen für einen „entschlossenen Neuanfang
mit gutem Gewissen“, rufen nach mehr Risikobereitschaft bei Bürgern und Unternehmen
und konstatieren die Notwendigkeit einer „grundlegenden Überprüfung bisheriger Annahmen
und Instrumente“.
Deutschland steht vor einer neuartigen Situation. Zu
Beginn des Jahres 2004 lag das Wohlstandsniveau der
einstigen Wirtschaftslokomotive erstmals unter dem
Durchschnitt der 15 EU-Länder. Während viele
Länder Europas in den letzten Jahrzehnten bei durchaus
unterschiedlichen institutionellen oder parteipolitischen
Voraussetzungen wirksame Reformen des Arbeitsmarkts und des
Wohlfahrtsstaats oder eine Disziplinierung der
Staatsverschuldung erreicht haben, befindet sich
Deutschland in einem ökonomischen Sinkflug. Auch in
Sachen Innovation hinkt das Land hinterher und belastet die
Bilanz der EU. Nach dem seit 2000 jährlich
erscheinenden Innovationsanzeiger der Europäischen
Kommission liegt das Innovationspotenzial der
Europäischen Union weit hinter dem Japans und dem der
USA. Der Anzeiger bestätigt aber auch, dass mehrere
EU-Mitgliedstaaten zur globalen Innovationselite
gehören. Dies gilt insbesondere für Schweden,
Finnland und Dänemark, die in vielen Bereichen Japan
und den USA voraus sind. Ohne ihre konsequente
Innovationspolitik wären die wirtschaftliche Dynamik
und drastische Verringerung der Arbeitslosigkeit dort nicht
zu erreichen gewesen.
Und Deutschland? Von einer
„Innovationsoffensive“ kann keine Rede sein.
Statt Dynamik dominiert in Deutschland eine Discounter- und
„Geiz-ist-geil“-Mentalität, die daneben an
den Patriotismus noch hier ansässiger Unternehmen
appellieren will. Die Politik hat bislang zu wenig auf die
neuen Herausforderungen reagiert. Zum einen hat die viel
diskutierte Globalisierung die verhängnisvolle
„Desintegration der Weltwirtschaft“ (Wilhelm
Röpke) der Jahre von 1914 bis 1989 überwunden.
Die Belebung der Austauschbeziehungen und die
Intensivierung der Kommunikation gingen mit technischen
Innovationen einher, ein globaler Wettbewerb der
Innovationszentren ist in Gang gekommen und stellt auch
Deutschland vor die Herausforderung, seine aktive
Innovationsfähigkeit zu verbessern, d.h. selbst
Innovationen hervorzubringen. Auch die passive
Innovationsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit,
Innovationen aufzunehmen und erfolgreich anzuwenden, muss
gestärkt werden.
Zum andern stehen wir vor der doppelten Herausforderung
des Bevölkerungsrückgangs und der Alterung der
Gesellschaft. Einerseits bietet eine alternde Gesellschaft
durchaus die Chance, Erfahrungswissen als wichtige
Ressource zur Steuerung immer komplexer werdender Systeme
zu nutzen, andererseits kann eine alternde und schrumpfende
Gesellschaft auch unter nachlassender
Innovationsfähigkeit leiden. Es ist ziemlich
unwahrscheinlich, dass Wohlstand und Wohlfahrt auf hohem
Niveau gesichert werden können, wenn jede nachfolgende
Generation um ein Drittel kleiner ist als die
vorhergehende. Vordergründig und aktuell belastet die
demographische Entwicklung schon heute die
Innovationsfähigkeit der Gesellschaft, da die Systeme
sozialer Sicherung auf der Fiktion des
„Generationenvertrags“ beruhen. Steigende
Steuersubventionierungen mögen zwar den Problemdruck
für eine gewisse Zeit verlagern, aber schon heute
gilt, dass die Kosten konsumptiver Sozialpolitik den
Spielraum für investive und nachhaltige
Bildungspolitik spürbar einschränken. Auch aus
diesem Grund ist eine Stärkung privater,
wettbewerblicher und kapitalgedeckter Vorsorgesysteme
dringend geboten.
Einen Politikwechsel, der diesen Herausforderungen
Rechnung trägt, hat Deutschland noch vor sich. Die
Parteien tun sich schwer damit, das Land aus den bequemen
Gewohnheiten der Wirtschafts- und Sozialpolitik
herauszuführen. Wenn sie sich zum Handeln aufraffen,
wie die Regierung Kohl Mitte der neunziger Jahre oder die
Regierung Schröder 2003 mit der „Agenda
2010“, so geschieht es halbherzig, mit schlechten
Gewissen und ohne die überzeugte und überzeugende
Gewissheit, das Richtige zu tun. Reformen werden von vielen
nur dann befürwortet, solange sie eigene
Besitzstände nicht antasten. Doch ohne eine andere
Mentalität, die neue Zuversicht begründet, wo
bisher Angst und Sorge herrschen, wird Deutschland die
Kehrtwende nicht schaffen.
Staatliche Innovationspolitik muss sich von der
Vorstellung eines linearen und technischen
Innovationsprozesses verabschieden und sich statt dessen
auf der Grundlage eines erweiterten Innovationsbegriffs auf
die Förderung der Voraussetzungen für Innovation
konzentrieren. Seit dem Lissabonner Gipfel im Jahr 2000
empfiehlt auch der Europäische Rat eine weit reichende
Neuorientierung staatlicher Innovationspolitiken. Ziel ist
es seitdem, die EU zum wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und
dafür Wirtschaft, Sozialsysteme und Bildung tief
greifend umzugestalten. Um dies zu erreichen, soll Europa
spätestens 2010 mindestens drei Prozent seines BIP
für Forschung und Entwicklung ausgeben. Deutschland
gibt derzeit gerade einmal 2,5 Prozent aus, in Schweden
sind es dagegen 4,27 und in den Vereinigten Staaten
immerhin noch 2,8 Prozent. Vor allem die private Hand gibt
in Europa zu wenig für Bildung aus; im Vergleich zu
den USA ist es gerade einmal ein Fünftel. Das
Engagement der Privaten bleibt erschreckend niedrig.
Von Ländern, die beim Thema Innovation vorne
liegen, kann man – bei manchen Unterschieden im
Detail – einige Prioritäten übernehmen,
z.B.
– die Entwicklung von Humanressourcen durch
die Förderung von lebenslangem Lernen;
– die Realisierung einer fortschrittlichen
Arbeitsgestaltung, in der Beschäftigte ihre
Fähigkeiten optimal entfalten können;
– die Erhaltung von Arbeits- und
Beschäftigungsfähigkeit (Employability) unter
anderem durch eine vernünftige Balance zwischen Arbeit
und Freizeit (Work&Life-Balance) und einer
generationengerechten Personalpolitik (Age Diversity);
– umfassende und gezieltere Investitionen in
Forschung und Entwicklung (F&E);
– die Verbreitung und Anwendung von
Forschungsergebnissen;
– und schließlich eine neue
Bildungspolitik, die vom Lernenden her denkt.
Ein gesellschaftliches Umfeld zu entwickeln, das Neues
zulässt und Gegebenes in Frage stellt, bedarf des
Rückhalts durch eine Regierung, die durch kluge
Rahmensetzung und lernfähige Institutionen eine Kultur
der Offenheit, Kreativität und Vielfalt etablieren
hilft. Innovationen brauchen einen Staat, der die
Risikobereitschaft seiner Bürger und
Wirtschaftssubjekte unterstützt und honoriert –
einen Staat, der fördert und nicht lähmt. Drei
große Aufgaben sind hierbei von langfristiger
Bedeutung:
1. Im vorschulischen und schulischen Bereich muss eine
neue Bildungspolitik ungeachtet der sozialen Ungleichheit
den gleichen Erwerb von Humankapital ermöglichen. In
der Wissensökonomie mit ihrem raschen Wandel von
Technologien und Fertigkeitsanforderungen wird die
Fähigkeit des Einzelnen, Informationen zu verstehen,
zu interpretieren und produktiv zu verarbeiten, zur
conditio sine qua non. Diese Fähigkeiten werden aber
sehr früh im Leben entwickelt, überwiegend vor
dem Schulalter. Eine Politik der frühkindlichen
Förderung muss daher zu einem Schlüsselthema
werden. Die besonderen Fähigkeiten jedes Einzelnen
frühestmöglich zu fördern, ihn zu
ertüchtigen, aus seinen Anlagen das Beste zu machen,
ihm Chancen zur Selbstentfaltung zu bieten, ihn aber
auch rechtzeitig an die Herausforderungen der
Lebenswirklichkeit heranzuführen – all dies wird
letztlich auch die soziale Vererbung von Armut wirksamer
bekämpfen können als die rückgelagerte
Politik der Umverteilung von Einkommen, auf die der
deutsche Wohlfahrtsstaat zulasten des Innovationspotenzials
des Landes bislang allzu sehr fixiert ist.
2. In der beruflichen Bildung werden zwei große
Aufgaben zu meistern sein. Erstens werden längere
Lebenserwartungen und die Umkehrung der Alterspyramide mit
einer Verlängerung der Lebensarbeitszeiten einhergehen
müssen (oder können!). Erwerbsbiografien
verlieren an Stetigkeit, Innovationsintervalle werden
kürzer, und es wächst die Notwendigkeit
lebenslanger Weiterbildung innerhalb und außerhalb
der Unternehmen. Ob das duale, betriebsgebundene
Ausbildungssystem dem auf lange Sicht gewachsen sein wird,
ist mehr als fraglich. Um das Innovationspotenzial der
Arbeitnehmer zu erhöhen, werden sich zweitens die
Institutionen beruflicher Bildung und Weiterbildung
ändern müssen. Der Staat ist dabei gut beraten,
Bildungsfinanzierung auf individuelle
Bildungsförderung umzustellen und sich von der
Subventionierung schwerfälliger Bildungsträger zu
verabschieden. Nichts wird Innovationen der Bildung und
Qualifizierung besser ermöglichen als die Etablierung
eines echten Bildungsmarkts. Das legen nicht nur die
Skandale und Affären nahe, die aus dem
bürokratischen Interessenbiotop der Bundesagentur
für Arbeit gelegentlich das Tageslicht erblicken,
sondern auch die alles in allem kläglichen Resultate
der milliardenschweren Beschäftigungs- und
Qualifizierungspolitik, wie man sie vor allem in
Ostdeutschland in erschreckender Weise studieren kann.
3. Die Umstellung von der vorherrschenden
Direktsubventionierung der Bildungsträger auf eine
individuelle Bildungsförderung mit dem Ziel, einen
echten Bildungsmarkt bei Wahrung der Chancengleichheit zu
etablieren, wird auch die universitäre Bildung
prägen müssen. Studiengebühren in
Verbindung mit Darlehens- oder Zuschusshilfen machen
nämlich dann Sinn, wenn sie an die Stelle der
bisherigen Bildungsfinanzierung treten und
Universitäten Anreize bieten, ihre Angebote flexibel
auf die Bedürfnisse der Studierenden auszurichten.
Hingegen werden Studiengebühren, die lediglich der
Subventionierung der bestehenden Strukturen dienen sollen,
ein ebenso wirkungsloses Ärgernis bleiben wie eine
Praxisgebühr, die nicht mit wettbewerblichen Reformen
des Gesundheitssektors einhergeht. Die Universitäten
müssen darüber hinaus wieder mehr echte Autonomie
erhalten und von allerhand Überregulierungen befreit
werden, die sich aus der kumulativen Gesetzgebung von Bund
und Ländern ergeben. Nur durch die Lockerung
haushaltsrechtlicher und besoldungsrechtlicher Vorschriften
werden sie in die Lage versetzt werden, die Bildung von
Eliten in Deutschland und die Bindung von Eliten an
Deutschland zu sichern und jene internationale
Attraktivität zurückzugewinnen, die sie
früher einmal besessen haben.
Eine neue Vision beginnt mit der Revision von
Bildungszielen. Deutschland steht wegen veränderter
Arbeitsbedingungen, einer fortschreitenden Globalisierung
und demographischen Veränderungen vor der
Notwendigkeit einer grundlegenden Überprüfung
bisheriger Annahmen und Instrumente. Nicht die Krise des
„deutschen Modells“, sondern eine
Neugründung steht an. Eine Neugründung, die
möglichst viele Chancen für eine möglichst
große Zahl schafft.
Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 85-89
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