Nach Corona: Szenarien und Strategien für die Zukunft
Isolation, Neonationalismus, Privatheit, Resilienz? Wie wir morgen leben und wirtschaften werden.
Corona ist eine Tiefenkrise, wie sie die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Covid-19 disrupiert unsere gemeinsame Lebensweise, Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Virus hat die Grundlagen und Grundwerte unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miteinanders auf unbestimmte Zeit erschüttert.
Die Pandemie wird aber auch zum Beschleuniger von Veränderungen, die bereits vorher begonnen hatten und auf einen Tipping Point zuliefen – jenen Punkt oder Moment, an dem eine vorher geradlinige und eindeutige Entwicklung durch bestimmte Rückkopplungen abrupt abbricht, die Richtung wechselt oder stark beschleunigt wird. Wie wird Corona unser Leben und das Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verändern? Welche geopolitischen Folgen sind absehbar? Und: Ist das westliche Modell der liberalen Demokratie noch zukunftsfähig?
Räume für neues Denken
Das Zukunftsinstitut hat unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie in vier Szenarien den Corona-Effekt auf Wirtschaft und Gesellschaft beschrieben (https://www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Whitepaper-Der-Co…). Die Szenarien sind keine Prognosen, sondern zugespitzte Betrachtungen. Es geht darum, Optionen für neues, zukunftsweisendes Denken aufzuzeigen. Ihnen liegen zwei Basiskoordinaten zugrunde, die mögliche Entwicklungen beschreiben (s. Abbildung):
1. Gelingende Beziehungen versus nicht gelingende Beziehungen (optimistisch versus pessimistisch)
2. Lokal versus global (disconnected versus connected).
Die Szenarien basieren auf Daten und Studien des Zukunftsinstituts, und sie verstehen sich als Möglichkeitsräume, die einen Eindruck davon geben, wie die Welt in und nach der Pandemie aussehen könnte. Ihre Dynamiken sind real und bereits heute spürbar, und sie schließen ein Szenario aus: den Status quo ante, das Zurück in die alte Normalität. Die Welt nach Corona wird eine andere sein als davor. Es ist der Umgang mit den möglichen Zukünften, der über die Post-Corona-Realität entscheidet.
Blick zurück nach vorn
Die Szenarien beschreiben gesamtgesellschaftliche Folgen, die alle Bereiche des Lebens beeinflussen, uns seit Langem beschäftigen und unser kollektives Zukunfts-Mindset prägen. Ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie ist es Zeit für ein „Revisited“: Welches Szenario setzt sich durch? Was ist unwahrscheinlicher geworden? Und was können wir tun, um die nächste Tiefenkrise besser zu bewältigen?
Szenario 1: Die totale Isolation – alle gegen alle
Am Anfang der Krise war der Shutdown. Grenzen wurden geschlossen, jedes Land sorgte sich um seine Existenz, seine Gesundheitssysteme und die Beschaffung von systemkritischen Gütern. Das Ziel ist die „Super-Safe-Society“. Für die Aus- und Einreise in ein anderes Land braucht es eine Genehmigung. Der globale Handel ist weitgehend ausgesetzt aus Angst, dass das Virus und seine Mutationen aus dem Ausland eingeschleppt werden könnten.
Das neue Bedürfnis nach „Keimfreiheit“ führt zu einem Misstrauen gegenüber Produkten, deren Herkunft nicht eindeutig nachvollziehbar ist. Der Import solcher Produkte wird verboten, aufwändige Grenz- und Lieferkettenkontrollen sind die Folge. Jeder ist sich selbst der Nächste. Der Staat setzt alle verfügbaren Mittel ein, um seine Bürgerinnen und Bürger zu beschützen. Ängste werden geschürt und Falschmeldungen über die sozialen Medien verbreitet. Soziale Kontakte werden in den virtuellen Raum verlagert. Gewinner sind Streamingdienste, Online-Plattformen und die Gamingindustrie – und der ländliche Raum. Regionale Landwirtschaft und lokal produzierendes Gewerbe boomen. Wer kann, zieht raus aus der Stadt aufs Land und versorgt sich selbst.
(Einen Kommentar von Prof. Dr. Talja Blokland zu Szenario 1 lesen Sie hier.)
Szenario 2: Systemcrash – permanenter Krisenmodus
Corona hat die Welt unsicher gemacht, und sie kommt aus der Krise nicht mehr heraus. Das Vertrauen in globale Institutionen, Zusammenarbeit und Multilateralismus sind nachhaltig erschüttert. Die Angst vor ständig neuen Ausbrüchen der Pandemie führt zu dauerhaften Grenzschließungen, Protektionismus und neuen Kriegen. Die Folgen: ein wachsender Neo-Nationalismus und eine Verlagerung der Produktion und Fertigung zurück hinter die eigenen Landesgrenzen. Die Staaten lassen sich nur dann auf Deals mit anderen ein, wenn sie sich selbst etwas davon versprechen.
Zunächst schien es, als hätte die Krise den rückwärtsgewandten Populismus entzaubert; die Politik fand jedoch nach Corona keine neuen Ansätze und Wege, um die Stabilität und den sozialen Frieden wiederherzustellen. Vor allem in den großen Städten ist das Leben unsicher geworden; sie werden zu den nervösesten Orten der Welt.
Je unsicherer die Welt, desto größer wird die Nachfrage nach Daten und Kontrolle. Cybercrime wird zum Instrument der Staaten, um internationale Konkurrenten zu schwächen. Gegenüber seinen Bürgern setzt der Staat Künstliche Intelligenz ein, um sie zu überwachen und soziales Fehlverhalten zu sanktionieren. „Predictive Politics“, die datenbasierte Vorausberechnung menschlichen Verhaltens, wird in einer permanent verunsicherten Gesellschaft immer wichtiger. Privatheit und Datenschutz werden immer stärker eingeschränkt und bald abgeschafft. Vor allem Gesundheitsdaten werden zur Staatsangelegenheit. Das Vertrauen in staatliche Gesundheitspolitik sinkt dennoch. Immer mehr Menschen setzen auf gesundheitliche Eigenverantwortung wie Self Tracking und Smart Devices.
(Einen Kommentar von Bernd Ziesemer zu Szenario 2 lesen Sie hier.)
Szenario 3: Neo-Tribes – der Rückzug ins Private
Die globalisierte Welt entwickelt sich nach der Corona-Krise wieder zu lokalen Strukturen zurück. Die Abkehr von der globalen Weltgemeinschaft geht mit der Bildung von Neo-Tribes einher: Gemeinschaften, die sich gegenüber anderen abgrenzen. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft und einem geteilten Alltag in überschaubaren Einheiten wächst, die Gefahr von Bürgerkriegen nimmt zu. Der Ausfall globaler Handelsketten und das Misstrauen gegenüber bestimmten Herkunftsländern führen zu einer Re-Regionalisierung der Wirtschaft und einem Comeback des lokalen Herstellens und Handelns. Vor Ort entstehen Gemeinschaften mit autonomen Ökosystemen für die Selbstversorgung.
Homeoffice ist nun zentraler Bestandteil jeder Unternehmenskultur, Videokonferenzen lösen reale Versammlungen und Treffen ab. Auch nach Corona befördert die zunehmende Digitalisierung den Rückzug ins Private. Hygge und Häuslichkeit sind vom Trend zur Norm geworden. Restaurants und Cafés werden gemieden. De-Globalisierung und De-Urbanisierung führen zu einem Wegzug aus den großen Städten. Die Menschen ziehen vermehrt aufs Land oder in kleinere Städte. E-Bikes und Fahrräder lösen den öffentlichen Nahverkehr ab, das Reisen außerhalb der eigenen Grenzen wird zur Ausnahme, Urlaub zuhause zur Norm.
(Einen Kommentar von Prof. Dr. Christine Hannemann zu Szenario 3 lesen Sie hier.)
Szenario 4: Adaption – die resiliente Gesellschaft
Die Welt hat aus der Krise gelernt und resiliente, adaptive Systeme entwickelt. Gesellschaftliche Trends, die bereits vor Corona mehr Zulauf fanden, werden beschleunigt: Wir-Kultur, Nachhaltigkeit, Lebensqualität und Glokalisierung sind der neue Mainstream. Corona hat eine Selbstreinigung der Märkte angestoßen. Gewinnorientierung und rein quantitatives Wachstumsdenken werden abgelöst durch neue Konsummuster und eine nachhaltige und klimaneutrale Wirtschaft. Der anfängliche Ausfall globaler Lieferketten hat zu einer Wiederentdeckung heimischer Alternativen und einem neuen Gleichgewicht von lokalem und globalem Handel geführt. Das Monopol der großen Online-Plattformen wie Amazon und Facebook hat sich zugunsten von regionalen Direct-Trade-Plattformen verändert. Statt der globalisierten Nahrungsindustrie (90 Prozent der Angebote im Lebensmitteleinzelhandel kamen vor Corona nicht aus der Region) dominieren heute überwiegend genossenschaftlich organisierte Wertschöpfungsnetzwerke.
Der stationäre Handel, regionale Produkte und Lieferketten erleben eine Renaissance. Massenkonsum und Wegwerfmentalität gehören der Vergangenheit an. Die Idee der Circular Economy (Kreislaufwirtschaft) setzt sich durch. Bauen wird modularer, flexibler und ökologischer, ebenso Mobilität und Landwirtschaft. Auch politisch verknüpft sich die lokale Ebene (Städte, Gemeinden, Bürgermeister) direkt mit globalen Institutionen und Organisationen. Lokale und globale Gesundheit werden zusammengedacht, ganzheitliche öffentliche Gesundheitssysteme entstehen über die Landesgrenzen hinweg. Gesundheits- und Sozialberufe werden stärker wertgeschätzt und dementsprechend besser bezahlt. Die neue globale Wir-Kultur wird von einem Wertewandel getragen: Solidarisierung und Verantwortung.
(Einen Kommentar von Luisa Neubauer zu Szenario 4 lesen Sie hier.)
Welches Szenario wird sich durchsetzen? Werden die Werte der Aufklärung und Demokratie dominieren oder sind autoritäre und populistische Systeme auf dem Vormarsch? Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie wie Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Staatsverschuldung lassen eine neue Welle des Populismus erwarten. China ist zumindest der kurzfristige Gewinner der Krise. Sein Modell der autoritären Überwachungsdiktatur wird den Westen in Zukunft noch stärker herausfordern. Weltweit ist die Demokratie erstmals seit Langem wieder auf dem Rückzug. Heute glaubt selbst in Europa eine Mehrheit, dass autoritäre Staaten wie China Krisen wie Corona oder den Klimawandel besser in den Griff bekommen.
Global beschleunigt Corona die Despotie – eine Regierungsform, die auf Willkür, Antiliberalismus und Furcht setzt, im globalen Verbund (China, Russland, Iran) und mithilfe digitaler Vernetzung. Das Mantra vom „Ende der Geschichte“ mit der Erzählung, dass Zukunft lediglich die Fortsetzung und Mehrung des Gegenwärtigen sei, hat sich als Irrtum entpuppt. Heute glauben nur wenige Menschen in Europa und noch weniger in den USA, dass die Zukunft eine bessere Version der Gegenwart ist. Und das hat viel damit zu tun, dass die real existierende Demokratie ihr Versprechen des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl der Menschen nicht mehr einlöst.
Europa als „glokale Supermacht“
In Europa wird Corona das Verhältnis zwischen Staat und Markt fundamental ändern. Der Staat wird zum steuernden Vorsorgestaat, der Themen und Megatrends wie Geopolitik, Klimaschutz, Digitalisierung und Gesundheit verbindet und eine Politik der achtsamen Glokalisierung anstelle einer rücksichtslosen „My nation first“-Globalisierung verfolgt. Corona wird die europäische Integration weiter befördern. Ob Wirtschaft, Gesundheit, Verteidigung oder Energie: Europa muss zur neuen glokalen Supermacht werden – oder es wird den „Kampf der Werte“ verlieren.
Voraussetzung ist, dass die EU nicht nur die „Sprache der Macht“ (Ursula von der Leyen) lernt, sondern auch die Vorteile wiederentdeckt, die das europäische Modell von autoritären Systemen unterscheidet: seine Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur. Es geht um eine neue europäische Zukunftsidentität.
Was auf dem Spiel steht, hat Corona gezeigt: Der Rückfall in ein Europa der Ego-Länder mit geschlossenen Grenzen. Der Kampf gegen Corona kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und zu einem neuen Verhältnis und einem besseren Verständnis der Generationen führen. Die junge Fridays-for-Future-Generation wird sich mit den Älteren verbünden. Eine breite Bewegung für Neo-Ökologie entsteht: Der „grüne“ Schutz des Planeten gegen seine Zerstörung und der „weiße“ Schutz des Menschen gegen Pandemien gehen Hand in Hand. Aus radikalem Protest wird radikale Politik.
Eine konkrete Antwort auf die Desinformationen aus China, Russland und anderen Diktaturen ist eine neue systemische Verbindung von Demokratie und Digitalisierung, etwa durch eine europäische Medien- und Datenplattform. Öffentliche Daseinsvorsorge erweitert sich um Datenvorsorge: Demokratische Intelligenz und digitale Souveränität gehören zusammen. Europa muss seine technologischen Standards und Normen entwickeln und global behaupten, auch durch eine Digitalsteuer. Gleiches gilt für die ökologischen Standards. Nur ökologisch produzierte Waren dürfen in Europa importiert werden.
Keine Angst vor den Wählern
Nach innen können autoritärer Despotismus und Populismus nur durch eine Erneuerung der Demokratie, ihrer Institutionen und Werte überwunden werden. Es geht um eine Stärkung der politischen Angebots- wie der Nachfrageseite: Politiker, die kommunalpolitische Erfahrungen mitbringen und Bürger, die auch jenseits von Wahlen mitbestimmen. „Mehr direkte Demokratie wagen“ statt Angst vor den Wählerinnen und Wählern lautet ein Ausweg aus der Misere des westlichen Demokratiemodells.
Für den französischen Ideenhistoriker Pierre Rosanvallon sind Verschwörungstheorien Ausdruck einer „Suche nach der Wahrheit“, deren Ursache er in Mängeln der „unvollendeten Demokratie“ sieht. Die Erneuerung der liberalen Demokratie braucht nicht nur institutionelle Reformen, sondern auch eine Zukunftsgeschichte der neuen Aufklärung, die an die Stelle der despotischen Untergangserzählung tritt. Statt um Kulturkämpfe wie „Volk gegen Elite“, „Nationalismus gegen Globalisierung“ und „Patriotismus gegen Vielfalt“ ist der Kampf der Werte ein Kampf um die Zukunft.
Die nächste Epoche der Aufklärung braucht mutige Bürgerinnen und Bürger, Heldinnen und Helden. Menschen, die den Despoten und Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln nehmen, im Netz, auf den Straßen, in den Schulen, in den Parlamenten. Die Helden unserer Zeit sind Journalisten, Lehrer, Erzieher – Menschen, die sich kümmern und Respekt verdienen. Mit der Demokratie ist es wie mit der Gesundheit: Wir wissen sie erst zu schätzen, wenn wir sie verloren haben. Gesund zu bleiben, ohne den Weg in die Unfreiheit zu gehen, ist der beste Weg in die Zukunft.
Resilient im Sinne von widerstandsfähig ist das Modell der liberalen Demokratie dann, wenn es stärker als bislang in systemischen Kontexten denkt und neue Verbindungen zwischen den Systemen Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung herstellt, etwa beim Aufbau von robusten Lieferketten, innovativer (Weiter-)Bildung und nachhaltigen Mobilitäts- und Gesundheitslösungen.
Zukunftsintelligenz als Immunsystem
Zuversicht wird zur Verantwortung und Verpflichtung gleichermaßen: Die Corona-Krise kann die systemische Zukunftsintelligenz erhöhen und Innovationen beschleunigen: digitale Infrastrukturen, kollaborative Plattformen, Ökosysteme und demokratische Institutionen, die unser Leben und unsere Gesellschaft insgesamt robuster machen. Rückblickend werden wir schon bald feststellen, dass nicht nur der wissenschaftliche, sondern vor allem auch der soziale Fortschritt das doppelte Virus besiegt haben – das der Natur und das der Unfreiheit. Gerettet hat uns die humane, die soziale Intelligenz. Unsere Zukunftsintelligenz ist das beste Immunsystem.
Dr. Daniel Dettling ist Zukunftsforscher und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Jüngste Veröffentlichung: „Zukunftsintelligenz. Der Corona- Effekt auf unser Leben“, LangenMüller 2020.
Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 22-27
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