IP

01. Juni 2006

Aenaeas, Roland und Artus

Die Briten schöpfen ihre Europa-Skepsis auch aus ihrer Nationalmythologie

Eine kurze These über Herrschaft und Hegemonie: Sicher ist es wichtig, einen Platz zu besetzen, physisch so präsent zu sein, dass dabei andere Bewerber ausgeschlossen werden. Gleich bedeutend aber ist es, dass die hegemoniale Gruppe, wie wir sie mit dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci nennen wollen, über einen mythischen Fond verfügt, über – jedenfalls in Europa, in China mag das anders sein, konfuzianisch-prosaischer – dichterische Symbolisierungen, die ihren Ansprüchen Glaubwürdigkeit und einen Resonanzraum schaffen. Dauerhafte Hegemonie ist ohne Poesie offenbar nicht zu haben. Denn von dort erst kommen die zauberhaften Worte und Namen, die, später zu Begriffen rationalisiert, dem ganzen Unternehmen Bestand verleihen. Solange wir Monate nach Julius Cäsar und Augustus benennen, solange wir am Himmel nicht nur strahlende Himmelskörper, sondern die römischen Gottheiten Merkur und Venus, Mars und Jupiter sehen – solange ist Rom eine geistige Wirklichkeit. Aber von Dschingis Khan ist nichts geblieben als die Ruinenstätten. Gewiss, nicht jedes Gelegenheitsgedicht will als politische Parabel gelesen sein. Die historisch maßgeblichen Dichtungen jedoch, die Epen, begründen mehr als kulturelle Identität – sie sind in der Tat jene „großen Erzählungen“, in denen die Völker erstmals ihre Politik begründeten. Ilias, Odyssee und das Argonauten-Epos waren es, in denen die auf Inseln und in den Pflanzstädten weit verbreiteten Griechen der Antike sich erkannten. Alexander der Große besuchte auf seinem Zug nach Asien das Grab des Achilles, von dem abzustammen er behauptete – ein kluger Versuch, in den Augen der Griechen symbolisches Kapital zu akkumulieren.

Das aber ist europäische Vorgeschichte. Drei große Dichtungen sind es, die dann, nach Homer, Europa in jener Widersprüchlichkeit begründet haben, wie wir sie bis heute kennen: allen voran die „Aenaeis“, die Urgeschichte der Gründung Roms durch den Trojaflüchtling (und Venus-Sohn) Aenaeas, dessen Landnahme ewiges Nachleben in einem Reich vorhergesagt wird, das Frieden und Gerechtigkeit schützt. Die schöne Übersetzung von Rudolf Alexander Schroeder ist im Insel-Verlag erschienen. Dann ist das Rolandslied zu nennen, das, indem es Kaiser Karl und seinen Neffen Roland als Glaubenskrieger des christlichen Europas im Kampf gegen die muslimischen Sarazenen in Spanien zeigt, auch alttestamentliche Vorbilder des Religionskrieges aufnimmt. Wie in der Geschichte von Josua hält Gott die Sonne am Himmel an, bis die Schlacht beendet ist. Entscheidend aber: Karl gilt hier als rechtmäßiger Nachfolger des römischen Kaisers, als nicht leiblicher, aber rechtlicher Ur-Ur-Enkel des Aenaeas. Einen Kaiser aber gibt es nur im Singular. Genau da lag das Problem der Artus-Dichter. Die Geschichten um den Britenkönig, teils rein abenteuerlich in einem zeitlosen Raum der wunderbaren Begebnisse spielend, teils aber auch mit deutlich politischer Absicht, haben in dieser Problematik der Legitimität ihre Pointe: Ging es doch für die Plantagenet-Dynastie darum, ein Herrscherbild zu etablieren, das Karl dem Großen mindestens ebenbürtig sein sollte. Das Vorbild forderte nun, wenn dieser Anspruch glaubhaft sein sollte, eine eigenständige Troja-Abkunft der britischen Könige, eine Art Sonderlegitimität unabhängig von Rom wie von Aachen – und so erfand man sich eine Trojaner-Schar, geführt von einem Aenaeas-Sohn, die einst in Britannien gelandet sei. Wer dem Kaiser ebenbürtig sein will, muss eine gleich vornehme Abkunft nachweisen können. Epen wie die Aenaeis, das Rolandslied oder die Artus-Dichtungen sind deshalb langfristig wirkende Legitimitätsbehauptungen. Auf diese bezieht man sich, wenn man für die politische Rhetorik einen Echoraum schaffen will – noch John F. Kennedy beschwor für seine Präsidentschaft das Bild des arturischen Camelot und der Tafelrunde. Und jeder durchschnittlich Gebildete in der englischsprachigen Welt konnte damit etwas verbinden: die Geschichte eines idealen Königtums nämlich.

Und da fällt nun der Unterschied der Epen klar ins Auge. Während das Rolandslied Karl den Großen als den rechtmäßigen Erben der römischen Kaiser vorstellt, zwar etwas ins Legendenhafte gehoben (er ist in der Dichtung 200 Jahre alt), aber immerhin als den Herrscher des europäischen Kontinents, der von Aachen bis Nordspanien, vom Frankenreich bis Italien die Länder geeinigt hat, unter einer legitimen, nämlich vom Papst anerkannten Herrschaft – während also das Rolandslied eine Kontinentalhegemonie besingt, die im Kaiser ihre Spitze hat, erscheint Artus geradezu als eine Art Gegenkaiser, dessen Herrschaft in Opposition zur kontinentalen steht. Im „Lai du Cor“ des Robert Biket emfängt Artus (fiktive) Lehnsmannen auch aus Deutschland. Seine erste Amtshandlung ist es, die großspurigen Ansprüche des römischen Kaisers, der sich in einem Sendschreiben das „Haupt der Welt“ nennt, streng zurückzuweisen. Bei Chrétien de Troyes, einem anderen Dichter dieses Sagenkreises, nennt Artus seinen Vater Pendragon direkt „Kaiser und König“.

Kontinentale oder insular-atlantische Legitimität – das ist bis heute ein Kernproblem Europas geblieben. Was Europa ist und sein sollte, wird im Artus-Britannien meist anders gesehen als in Frankreich oder Deutschland, den alten Karls-Ländern. Die Transatlantiker, also die Befürworter einer engeren Zusammenarbeit mit den USA, sind nach einer Umfrage der Zeit in Großbritannien mit 52 Prozent in der Mehrheit, während die Befürworter einer größeren Distanz in Deutschland eine knappe Mehrheit von 50 Prozent bilden. Wie die Wiener Presse kürzlich meldete, halten nur 33 Prozent der Briten die EU für eine „gute Sache“. Wenn es, wie Josef Joffe kürzlich schrieb, die immerwährende britische Staatsräson ist, kontinentale Hegemonien zu verhindern – auch dies schon ein Artus-Problem, wie wir sahen – dann kommt dem ein EU-Beitritt der Türkei durchaus entgegen. Und so erklärt sich das scheinbare Paradoxon, dass die notorisch euroskeptischen Briten zu den stärksten Befürwortern einer türkischen EU-Mitgliedschaft zählen. Ein „divide et impera“ ist in einer um die Türkei bereicherten Union für Großbritannien leichter zu erreichen – das ist das machiavellistische Geheimnis dieser großherzigen Politik.

Freuen wir uns also, wenn in den nächsten Wochen die große Artus-Erzählung des Thomas Malory in einer Neuauflage erscheint, genießen wir diese frühe Form der Fantasy, in der die Ritter sich gegen übelwollende Zwerge, ungeschlachte Riesen und allerhand Wundertiere behaupten müssen und für schöne Damen streiten. Aber vergessen wir nicht die politische Lektüre – und vor allem: Hüten wir uns vor der ewigen anglophilen Romantik, die manchen deutschen Konservativen so wertvoll zu sein scheint wie ihren linken Widersachern die sozialistische Utopie.

Dr. LORENZ JÄGER, geb. 1951, Diplom-Soziologe und Germanist, unterrichtet an japanischen und amerikanischen Universitäten und ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien von ihm „Adorno. Eine politische Biographie“ (2003).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 98‑99

Teilen

Mehr von den Autoren