Abschied vom Irak
Der Krieg hat seine Rolle als Motor des Zeitgeists ausgespielt
Noch im vergangenen März schien der Irak-Krieg der Schalthebel der Weltpolitik zu sein, das größte politische Ereignis im 21. Jahrhundert. Doch siehe da, einige Wahlen und viele Anschläge später zeigt sich: Es ist Krieg, aber niemand schaut hin. Die Europäer haben andere Sorgen.
Am 11. März 2004 demonstrierte ein Terroranschlag auf Madrids U-Bahnsystem die zentrale geopolitische Rolle des Irak-Krieges. Noch bevor dieser begonnen hatte, drängte sich seine Bedeutung auf bis hin zur Obsession. Noch nie hatte die internationale Gemeinschaft einen Truppenaufmarsch aufmerksamer verfolgt oder den Sinn des Krieges inbrünstiger debattiert.
Die Entscheidung, nicht am Krieg teilzunehmen, läutete in Ländern wie Frankreich und Deutschland eine neue Politik ein: den „deutschen Weg“ in der Außenpolitik und eine betonte Unabhängigkeit von amerikanischem Einfluss. Europäische Kriegsgegner wollten sich einem kommenden Desaster entziehen. Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld waren auf ihre Weise ebenso überzeugt, dass der Irak-Krieg die Zukunft bestimmen würde. Sie rechneten mit einer neuen Koalition von Verbündeten, die durch den Krieg selbst geschaffen würde. Politisches Gewicht, glaubten sie, würde sich aus der Teilnahme am Krieg ergeben. Politische Vernunft, argumentierten ihre Gegner, würde überleben, wenn man zu Hause bliebe.
Der Anschlag in Madrid, mit relativen Low-Tech-Methoden verübt, schockierte nicht allein durch sein Ausmaß. Bedeutsamer waren das Timing und womöglich die Auswirkungen: das Unterminieren der Kriegspartnerschaft zwischen Spanien und den USA. Die Wähler haben vermutlich José Maria Aznár, den spanischen Premier, eher für seine unbeholfene Antwort auf die Zugbomben abgestraft als für seine Kooperation mit Bush; aber Aznárs sozialdemokratischer Rivale José Zapatero profitierte von seinem energischen Widerstand gegen den Irak-Krieg. Als Zapatero ein paar Tage nach den Anschlägen Ministerpräsident wurde, veränderte sich die Machtbalance in Kontinentaleuropa zugunsten der französisch-deutschen Antikriegsachse. Der Irak-Krieg war der Schalthebel der Weltpolitik, so schien es im März 2004. Er musste nur in die eine oder andere Richtung umgelegt werden, um politischen Wandel zu bewirken.
Die Zentralität des Krieges für die Iraker selbst und für Iraks Nachbarn steht nicht in Frage. Immer weniger klar jedoch ist, ob der Irak-Krieg in weiter entfernten Ländern, selbst in Ländern wie den USA und Deutschland, wo die Debatte über den Krieg heftig war und die Medienberichterstattung intensiv, noch eine entscheidende Rolle spielt. Der Irak-Krieg ist zweifellos eines der großen Medienereignisse des 21. Jahrhunderts. Er ist jedoch nicht unbedingt eines der großen politischen Ereignisse im neuen Jahrhundert. Dass sich dieser Krieg nur begrenzt als historischer Wendepunkt eignet, zeigt sich an drei Abstimmungen: der amerikanischen Präsidentenwahl, den EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden sowie den kommenden deutschen Wahlen. In keinem Fall war der Irak-Krieg eine Schlüsselfrage.
Die amerikanischen Wahlen wurden dominiert vom 11. September und dessen außenpolitischen Folgen, deren dramatischste der Irak-Krieg war. George W. Bush verstand den Krieg als Ausdruck seiner neuen außenpolitischen Doktrin, die Staaten ins Visier nahm, die den Terrorismus unterstützten. Bush glaubte sich im Einklang mit den Überzeugungen der Amerikaner. Prominente Demokraten wie Hillary Clinton und Joe Lieberman stimmten insoweit zu, als sie den Krieg befürworteten.
John Kerry zog den umgekehrten Schluss. Er nannte den Irak-Krieg den „falschen Krieg zur falschen Zeit“. Er hoffte, die Wahl zu gewinnen, weil sich Bush auf der Grundlage mangelhafter Geheimdiensterkenntnisse in den Krieg gestürzt und Alliierte vergrätzt habe. Kerry machte die Sache sogar noch komplizierter, als er versuchte, gleichzeitig den Kriegshelden und den Antikriegsaktivisten zu geben. Bush schlug Kerry mit drei Millionen Stimmen Vorsprung.
Es war nicht der Irak-Krieg, der Bush den Sieg brachte. Er gewann eher trotz des Krieges. Es gab keine Massenvernichtungswaffen. Obwohl der Irak immer noch nicht befriedet ist, hat der Krieg Hunderte von Amerikanern das Leben gekostet, Milliarden Dollar verschlungen und die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Regierung beschädigt. Eine Reihe von Skandalen haben Amerikas moralisches Ansehen in der Welt dauerhaft untergraben. In Amerika selbst hat die Popularität des Präsidenten seit der Wiederwahl 2004 kontinuierlich abgenommen. Doch die zahlreichen Fehlschläge des Irak-Krieges brachten auch den Demokraten keine Vorteile.
Dasselbe gilt für Jacques Chirac, den Wortführer der nichtamerikanischen Gegner des Krieges; die amerikanischen Schwierigkeiten im Irak haben sich nicht in europäische Chancen verwandelt. Chirac verkörpert die gaullistische Tradition, nach der Frankreich die amerikanische Außenpolitik kritisiert und sich darum bemüht, Koalitionen zu bilden, die sich zwar nicht direkt gegen die USA richten, aber sich zumindest außerhalb der amerikanischen Interessensphäre formieren. Außenminister Dominique de Villepin sprach im März 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat das französische Nein gegen Amerikas Krieg aus. Seine theatralische Rede war ein Appell an die Welt, die keine Befehle von Amerika annehmen müsse.
Mit ihrer Weigerung, in den Krieg zu ziehen, richteten sich de Villepin und Chirac unmittelbar an das Publikum auf dem europäischen Kontinent. Die osteuropäischen Beitrittsländer hätten zu Fragen von Krieg und Frieden lieber schweigen sollen, meinte Chirac, und er bezichtigte insbesondere Polen, wegen seines Pro-Amerikanismus „schlecht erzogen“ zu sein. Europäer zu sein hieß demnach, gegen den Krieg zu sein, und kein Land war mehr gegen den Krieg – also europäischer – als Frankreich. Es gab die Hoffnung, dass die außerordentliche Unpopularität Präsident Bushs und seines Irak-Krieges die Europäer dazu veranlassen würden, die internationale Rolle der EU zu überdenken. Dann endlich könnte die EU eben die von französischer Führung abhängige Koalition werden, die das gaullistische Frankreich seit Jahrzehnten anstrebt. Eine mächtige EU würde zur Geburtshelferin einer multipolaren Welt werden.
Die negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden zerstörten zwar nicht die Aussicht auf eine starke EU, aber sie stellten substanzielle Fragen nach Europas geopolitischer Zukunft. In welchem Ausmaß würden Europäer bereit sein, für eine größere Machtfülle der EU Opfer zu bringen – etwa das Opfer ihrer Souveränität, ihres Wohlstands oder ihres Pazifismus? Die europäische Politik der vergangenen Monate legt nahe, dass die Opferbereitschaft nicht allzu groß ist.
Der Irak-Krieg spielte bei den Abstimmungen in Europa kaum eine Rolle, die französischen und niederländischen Wähler ließ er völlig kalt. Wer in Frankreich mit Nein stimmte, lehnte nicht etwa die amerikanische Supermacht ab, sondern schon eher das Laissez-faire-Amerika sozialdemokratischer Albträume. Viele französische Wähler wollten eine besondere lokale Vision von Frankreich erhalten – im Gegensatz zu einer größeren, ambitionierten EU, die den französischen Eliten vorschwebt. Holländer hatten andere innenpolitische Gründe für ihr Nein: Die Furcht vor neoliberaler Globalisierung plagte sie weniger als die Sorge, die EU würde den Niederlanden mehr nehmen als geben. Der Krieg im Irak war zu vieldeutig, um irgendeine politische Rolle zu spielen, und er war zu weit weg vom Alltagsleben der Europäer, sodass sich eine geschlossenere, stärkere EU als Gegenreaktion nicht ausformen konnte.
Gerade als es schien, dass Chirac und seine Bundesgenossen vom britischen Premierminister Tony Blair ausgespielt worden waren – die Olympischen Spiele 2012 waren nach London statt nach Paris vergeben worden, Blair war EU-Präsident und glücklicher Gastgeber des G-8-Gipfels in Schottland –, erschütterte ein Anschlag das Londoner U-Bahnsystem. Dieser Anschlag stand zweifellos in Verbindung zum Irak-Krieg – einem Krieg, den die meisten Briten ablehnten, der jedoch von Tony Blair als seinem wortgewaltigsten Verteidiger verkörpert wird. Die langfristigen Folgen dieser Anschläge sind noch nicht abzusehen, aber kurzfristig hatten sie keine mit Madrid vergleichbaren Auswirkungen. Die Labour Party ist nicht in eine Krise geraten, Blair regiert weiter, und die britische Öffentlichkeit fand es vulgär, eine direkte Verbindung zwischen dem Krieg und den Anschlägen herzustellen – vor allem fand sie es unsinnig, davon die Politik bestimmen zu lassen.
Schröders letzte Hoffnung?
In Deutschland ist ein solcher Schrecken bislang ausgeblieben. Man ist stolz darauf, sich dem Irak-Krieg widersetzt zu haben. Und dennoch wird der Krieg Bundeskanzler Gerhard Schröder nicht wieder ins Amt bringen. Angesichts seiner ökonomischen Bilanz und mit einer SPD, die zerrissen ist zwischen dem Reformeifer der Agenda 2010 und einer wiederentdeckten antikapitalistischen Inbrunst, versucht Schröder verständlicherweise, das Thema zu wechseln und über Außenpolitik zu reden, wenn ihm die Opposition die Arbeitslosenzahlen vorrechnet. War es nicht die Kandidatin der CDU, Angela Merkel, die den Irak-Krieg unterstützte, indem sie eine bisher nie dagewesene Pilgerreise nach Washington unternahm, als Deutschland offiziell den Krieg ablehnte? Und sind nicht die meisten Deutschen nach wie vor gegen den Krieg? Warum sollte also das Rezept, das Schröder schon einmal kurz vor seiner Wiederwahl 2002 half, ihm nicht wieder den Sieg bringen in diesem Sommer seines Missvergnügens?
In einer Rede am 13. August und in einem Interview mit Bild am Sonntag klang Schröder daher wie das Echo seiner Irak-Politik, als er forderte, dass unter keinen Umständen gegen den Iran militärische Mittel eingesetzt werden dürften. Schröder muss seine linke Flanke gegen die populäre Linkspartei sichern, die mit trotzigem Pazifismus einen Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan fordert. Doch er muss die Wahl auch in der Mitte gewinnen: Trotziger Pazifismus mag populistische Anziehungskraft haben, aber seine Popularität ist politisch sehr begrenzt. Nachdem der Iran seinen europäischen Verhandlungspartnern eine schroffe Abfuhr erteilt hat, muss Schröder der Öffentlichkeit zumindest erklären, wie ein Verhandlungserfolg ohne militärische Drohungen erreicht werden kann und wie ein kategorisches Nein gegen einen Krieg im Iran zu größerer Sicherheit führen soll. Er sollte mehr tun als nur Nein zu sagen, aber selbst wenn ein kategorisches Nein mit antiamerikanischem Touch noch einmal zu seinen Gunsten wirken sollte, so steht Schröder dennoch Wählern gegenüber, die – ähnlich wie Franzosen und Niederländer – die politische Welt vorrangig unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Die Landtagswahlen der letzten zwei Jahre sind ein ausreichender Beleg für die Unzufriedenheit der deutschen Wähler mit dem Status quo, und aus der Perspektive dieser Unzufriedenheit ist eine auch noch so erleuchtete Außenpolitik völlig irrelevant.
Hinzu kommt, dass die meisten Deutschen zwar Pazifisten sind, sich der Antiamerikanismus im Michael-Moore-Stil aber überlebt hat. Präsident Bush hat seit dem Irak-Krieg in Deutschland keine neuen Freunde gewonnen, aber er befindet sich in seiner zweiten Amtszeit, und kein neuer Krieg ist in Sicht. Die Bush-Regierung, die sich über das „alte Europa“ lustig machte und voller Selbstgewissheit in die mesopotamische Wüste marschierte, ist nicht mehr die Bush-Regierung von heute. Sie ist längst nicht mehr so schneidend wie einst. Als Rumsfeld kürzlich nach dem „alten Europa“ gefragt wurde, erwiderte er, das sei der „alte Rumsfeld“ gewesen. Die Bush-Regierung versucht nicht länger, Westeuropa zu spalten. Sie ist viel zu sehr auf dessen Unterstützung angewiesen. Und Europa braucht Amerikas Unterstützung mindestens genauso sehr. Die Spannungen mit Nordkorea und dem Iran betreffen die Sicherheit der Europäer genauso wie die der Amerikaner, selbst wenn beide unterschiedliche Lösungswege vorziehen. Die USA und Europa können sich in dieser Sache nicht allzu weit voneinander entfernen. Als der Irak-Krieg begann, schien das Gegenteil zuzutreffen – Amerika und Europa schienen Kontinente zu sein, die durch einen gemeinsamen Krieg getrennt worden waren.
Zu ihrer gegenseitigen Überraschung haben Amerikaner und Europäer gelernt, dass der Irak nicht der Schlüssel zur Weltpolitik ist. Der Irak-Krieg ist ein historisches Ereignis, das die Politiker und Wähler erst noch verstehen müssen, ganz zu schweigen von den Terroristen, die unsere Politik manipulieren wollen. Die Bedeutung des Krieges ist kaum zu entziffern: Es ist weder ein klarer Sieg noch eine klare Niederlage. Lange bevor die britischen, italienischen, dänischen, polnischen und amerikanischen Soldaten irakischen Boden verlassen haben werden, wird der Irak seine Rolle als Motor des Zeitgeists verloren haben. Genau an diese Rolle aber glaubten im Furor der letzten zwei Jahre die optimistischsten Verteidiger und die pessimistischsten Kritiker des Krieges gleichermaßen.
Internationale Politik 9, September 2005, S. 102 - 105