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01. Mai 2004

Abschied aus dem Jammertal

Deutschland im Übergang

Deutschland präsentiert sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als ein „Land im Übergang“, so jedenfalls
der Berliner Publizist Warnfried Dettling. Allmählich dämmere es Bürgern wie Politikern,
dass sie zu lange der illusorischen Hoffnung nachgehangen haben, es könne immer so weitergehen
wie bisher. Doch die alte Ordnung trägt nicht mehr, und eine neue ist noch nicht gefunden.
Vorrangige Aufgabe der Politik sei es in dieser Situation, Hoffnung zu begründen und Vertrauen
in die Zukunft zu wecken – nur so könne der „Exodus aus dem Jammertal“ gelingen.

Den Deutschen ist die gute Laune vergangen. Das Wirtschaftswunder ist längst zur Erinnerung an die Vor- und Frühgeschichte der zweiten Republik verblasst. Wachstum und Aufschwung der Wirtschaft lassen weiter auf sich warten. Die Veränderungen der Agenda 2010, die später gekommen und schonender ausgefallen sind als in vergleichbaren Ländern (Großbritannien, Niederlande oder Schweden), reichten aus, um das Vertrauen in den Sozialstaat zu untergraben und eine Ablehnung auf breiter Front hervorzurufen – jedenfalls im Hinblick auf Demonstrationen und Oberflächendemoskopie. Der Vorsitzende der SPD Franz Müntefering stellt lapidar fest, Deutschland habe die Reformen verschlafen. Ein politischer Bestseller beschreibt den „Abstieg eines Superstars“ und lässt die „Chronologie des Niedergangs“ Mitte der fünfziger Jahre mit Konrad Adenauers Rentenformel beginnen, doch eigentlich ist für den Autor der „deutsche Defekt“ in der verfehlten Verfassungskonstruktion des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 angelegt.1

Das also wäre ein denkbares Szenario: Die Deutschen richten sich politisch und mental im Jammertal ein. Sie lieben eben die Extreme, die sie den Nachbarn etwas unheimlich machen: Wenn das Wirtschaftswunder schon weit weg in die Vergangenheit entrückt ist und keinerlei Versprechen mehr für die Zukunft enthält, dann machen sie es sich eben so bequem wie möglich im „Wirtschaftskummerland“,2 und dazu gehört, dass sie sich selbst und über den Medienzirkus immer wieder bestätigen, wie schlecht es ihnen doch eigentlich gehe.

So hat sich die miese Stimmung wie Mehltau übers Land gelegt. Das gilt für die Regierenden wie für die Regierten; für die Koalition wie für die Opposition; für die Wirtschaftsverbände und erst recht für die Gewerkschaften. Fast könnte man meinen, jetzt, da sie nicht mehr alle anderen übertreffen, was Wirtschafts- und Sozialwachstum angeht, wollen sie wenigstens von keinem übertroffen werden, was Jammern und Klagen über den eigenen Niedergang betrifft, und beides, Jammern und Niedergang, mag ja um so lustvoller inszeniert werden, da es noch eine ganze Weile auf einem hohen Niveau stattfinden wird. Den allermeisten geht es ganz gut bei der kollektiven Inszenierung ihrer depressiven Gefühle.

Doch Stimmungen haben Folgen. Die Kultur des Jammerns ist längst zu einem Entwicklungshindernis der besonderen Art geworden. Die öffentliche Malaise führt herbei, wovor sie sich doch recht eigentlich ängstigt. So legitimiert sich die Angstgesellschaft immerfort selbst, indem sie notwendigerweise zu einer Entwicklung beiträgt, die fortlaufend Gründe gebiert, Angst zu haben. In kräftigem Deutsch hat es Martin Luther so gesagt: Aus einem verzagten Arsch kommt selten ein fröhlicher Furz. Die Sozialwissenschaften drücken den Sachverhalt etwas vornehmer aus: Prophezeiungen erfüllen (oder zerstören) sich selbst, wenn nur genug Leute daran glauben und sich entsprechend verhalten. Im schlimmsten aller Fälle werden Historiker einmal die gegenwärtige Phase in Deutschland als ein klassisches Lehrstück für dieses Gesetz der „self-fulfilling prophecy“ beschreiben. Pessimisten haben grundsätzlich immer Recht: Entweder kommen die Dinge so, wie sie sie vorhergesagt haben; dann haben sie es schon immer gewusst. Oder die Dinge kommen anders; dann aber nur deshalb, weil sie wie die berühmten Gänse auf dem Kapitol rechtzeitig geschnattert haben.3

Vertrauen als Produktivkraft

Ein Land, das Zukunft haben will, muss diesen Zirkel durchbrechen. Positiv gewendet heißt das: Es muss Vertrauen aufbauen: Vertrauen in die Zukunft; Vertrauen der Akteure untereinander; Vertrauen aller in den gemeinsamen Erfolg. Warum sollte man sich auch anstrengen und sich „vernünftig“ verhalten, wenn es keinen Sinn macht, weil andere das Spiel durchkreuzen? Warum an das Ganze denken, wenn ansonsten jeder nur sich selbst der Nächste ist? Warum Rücksicht nehmen auf die Zukunft und die kommenden Generationen, wenn alle anderen nur die Gegenwart ausbeuten? Vertrauen ist ein knappes und deshalb kostbares Gut; vor allem aber ist es ein gemeinsames, ein kollektives Gut, das von Individuen auf individuelle Weise nicht geschaffen werden kann, ohne das diese aber nicht den möglichen Erfolg ihrer Anstrengungen werden erreichen können. Es ist Aufgabe der Politik und der Politiker, Vertrauen möglich zu machen.

Diese Aufgabe war vor gut 50 Jahren, bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland, leichter als heute, nicht obwohl, sondern weil die objektive Lage damals schwieriger war. Gemeinsam war damals allen Deutschen, dass sie noch einmal davon gekommen waren. Und gemeinsam war ihnen auch die Unsicherheit, was ihnen wohl die Zukunft bringen werde. So haben sich, ein Beispiel nur, Gewerkschaftler für die Rehabilitierung belasteter Unternehmer eingesetzt, um mit ihnen gemeinsam die Fabriken und das Land aus den Ruinen wieder aufzubauen. Worüber hätte man auch jammern sollen, als alles weg und nichts sicher war? Das Vertrauen, der Konsens über Gräben und Gräber hinweg, das Einverständnis über die Analyse der Lage und die gemeinsame Aufgabe haben als mentale Dispositionen den deutschen Korporatismus und die Verfassungswirklichkeit geprägt, und sie haben die sozialhistorische Lage, aus der sie entstanden sind, lange überlebt.

Nicht verschlafen, sondern verdrängt

Deshalb ist es wichtig, sorgfältig zu analysieren, welchen realen, gleichsam objektiven Hintergrund die gefühlte desolate Lage des Landes haben mag. Es ist wichtig zu fragen, worin die Misere ihren Grund hat. Oder anders gesagt: Gibt es nicht genug Gründe für den allgegenwärtigen Pessimismus, Zeichen an der Wand, die schon seit Jahren, ja Jahrzehnten den Niedergang des Landes und die Ausfallerscheinungen in Wirtschaft und Gesellschaft beschreiben?

Da ist die Arbeitslosigkeit, die sich vor knapp 30 Jahren plötzlich, innerhalb eines Jahres (1975) verdoppelt und die Millionengrenze überschritten hatte und seither, seit fast drei Jahrzehnten also, wächst und wächst und das stets unter den gemeinsamen Gelöbnissen der Politiker jedweder Couleur, dass „der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit das vornehmste Ziel der Politik“ sei. Da ist das wirtschaftliche Wachstum, das seit Jahren vor sich hin dümpelt und Deutschland ans Ende der EU-Tabelle gebracht hat. Da ist ein Bildungs- und Hochschulwesen, das weder in qualitativer noch in sozialer Hinsicht einem internationalen Vergleich standhält. Und da ist schließlich, und auch dies seit fast drei Jahrzehnten, eine Geburtenentwicklung in Deutschland, bei der das Land (fast) einen internationalen, wenn auch negativen Rekord hält.4 Auch hier flammten die Zeichen an der Wand bereits vor 30 Jahren auf: Innerhalb eines Jahrzehnts, von 1965 bis 1975, hatte sich die Zahl der Geburten in Deutschland (West) halbiert und sich danach auf niedrigem Niveau stabilisiert; seither ist jede Generation um ein Drittel kleiner als die Vorhergehende.

Es gab also Gründe und Entwicklungen, nachdenklich und besorgt zu werden, aber sie waren und sie sind nicht ausschlaggebend für die jammerige Stimmung, die sich über das Land gelegt hat, ganz im Gegenteil: Es war und ist erstaunlich, wie konsequent es den Eliten wie den Bürgern gelungen ist, die Wirklichkeit zu verdrängen.5

Eine offene und öffentliche Debatte über die Ursachen der Fehlentwicklungen fand nicht statt, und wenn doch, dann wurden diese Ursachen nicht zu Hause, in der „Verfassung“ von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft lokalisiert, sondern gleichsam externalisiert, nach außen verlagert. Die einen verweisen auf Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung, welche die gewohnten Berufs- und Familienbiografien, die Arbeits- wie die Lebenswelten grundlegend verändert haben. Wenn sie Recht haben, sieht es allerdings düster aus, handelt es sich doch durchweg um Entwicklungen, die kaum reversibel sein dürften. Andere verweisen auf die Folgekosten der deutschen Einheit, was immerhin hoffen lässt, dass diese mit der Zeit auslaufen. Beiden Erklärungsmustern ist gemeinsam, dass sie die Ursachen für die Misere gleichsam fremden Mächten zuschreiben, die wie ein Schicksal (oder, wie bei der Einigung, wie ein gütiges Geschick) über sie kommen, deren Folgen sie fatalistisch hinnehmen müssen, die sie aber nicht als Chance für die Zukunft begreifen und entsprechend gestalten können.

So ist eine radikale Ursachenanalyse lange unterblieben. Kaum jemand hat die einfache Frage gestellt: Warum ist seit wann so vieles so gründlich schief gelaufen, trotz vielen Geldes und vieler guter Absichten? Wie konnte es kommen, dass in einem Land, das an die Familien direkte Familientransfers auszahlt in einem Umfange wie wenige andere Länder, die Familienpolitik trotzdem so wenig erfolgreich ist? Wie konnte es kommen, dass in einem Land, das „im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ mehr Mittel aufwendet als andere, trotzdem die Erfolge ausbleiben? Man hätte meinen können, die Ursachenforschung erreiche irgendwann die Politik und die öffentliche Debatte. Das ist lange, bis hinein in die Gegenwart, nicht geschehen: Noch bei der Bundestagswahl 2002 wurden die neuen Realitäten und das Scheitern der alten politischen Routinen fast vollständig ausgeblendet. Warum?

Doppelte Erfahrungen des 20. Jahrhunderts

Im Rückblick lässt sich deutlich erkennen, worauf das Selbstbewusstsein der alten Bundesrepublik gründete. Es waren ihre Erfolge im Wirtschaftswunder und als Sozialstaat. Im 20. Jahrhundert hatten die Deutschen ganz gegensätzliche Erfahrungen gemacht: in der ersten Hälfte den Weg in die Katastrophen und in der zweiten Hälfte den Weg zu Wohlstand und Wohlfahrt. Insbesondere der Sozialstaat war für die Deutschen immer mehr als nur die Summe sozialer Leistungen. Seit seinen Anfängen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatten die Deutschen vier politische Regime (Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bundesrepublik), zwei Weltkriege und mehrere Inflationen erlebt, aber nur einen Sozialstaat. Er war die große Kontinuität über all den Katastrophen und Abstürzen, Anfängen und Aufbrüchen. Nach 1945 haben sie ihr Land dann auf- und ausgebaut zu einem Sozialmodell, auf das sie selbst stolz waren und um das sie in der Welt beneidet wurden. Nie ist es den Deutschen (West) so gut gegangen wie im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, als alles immer mehr, immer größer und immer besser wurde und sie mit Faust, ihrem Lieblingshelden, zum historischen Augenblicke sagen mochten: „Verweile doch, Du bist so schön ...“. Sie waren nach all den Irrfahrten endlich angekommen, hatten wieder festen Boden unter den Füßen. Wer will es ihnen verdenken, dass sie sich in diesem Status quo festgekrallt haben, dass sie diese guten Jahre lange, zu lange überzogen haben: mental, politisch und finanziell. Es hätte immer „weiter so“ gehen können, sie lebten in der besten aller Welten, und das, wo sie doch nur kurz zuvor mit Appellen und Aufbrüchen, kollektiven Gefühlen und dem „Gürtel-enger-schnallen“ so schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Das Soziale als Identitätskern

Die Angst vor Veränderungen, der „Reformstau“, von dem viele dann bald geredet haben, ist tief in der jüngeren deutschen Geschichte der Deutschen und in ihrem kollektiven Unterbewusstsein verwurzelt. Wirtschaftswunder und Sozialstaat haben für die Deutschen nach all den Katastrophen immer mehr bedeutet als Geld und Sicherheit, mehr auch als in anderen Ländern. Sie waren ein wesentlicher Teil ihrer Identität: das Herz aller Dinge.

Wenn bei den Briten oder Amerikanern der Misery-Index in die Höhe klettert, bleiben sie immer noch Briten oder Amerikaner, mit jeweils einer gemeinsamen Geschichte und einem gemeinsamen Stolz, den ihnen keine Leitkultur-Debatte von oben erst einbläuen müsste. Wenn den Franzosen erst die Kolonien abhanden kommen und später auch noch ihre führende Rolle in Europa und dazu noch Streiks alles lahm legen, dann bleiben sie immer noch stolze, selbstbewusste Franzosen und eine Grande Nation. Ähnliches ließe sich über viele andere auch sagen: über Niederländer und Italiener, über Spanier und Skandinavier. Und selbst Brasilien hat noch, was auch immer geschieht, Sonne und Fußball. Was aber bleibt den Deutschen, wenn man ihnen Wohlstand und Wohlfahrt, Wirtschaftswunder und Sozialstaat „wegnimmt“? Die Reformen wurden nicht verschlafen, sondern verdrängt, so lange es nur irgend ging, weil sie den politischen Identitätskern der Deutschen berührten.

So gab es gute Gründe, den alten sozialen Kosmos zu verteidigen, aber es gibt wenig Grund, die Deutschen deshalb zu schelten. Es ist mehr als verständlich, dass ihnen der Abschied von den guten Jahren mitsamt ihren Routinen und Institutionen so schwer fiel, dass sie Zeit brauchten für ihre Trauerarbeit, bis sie sich endlich aus ihrem Jammertal befreien können. Auch was die Reformen angeht ist Deutschland eine „verspätete Nation“.

Das alles ist nicht nur verständlich, es ist auch eine Chance. Eine intelligente Politik könnte aus den Erfolgen von gestern Zuversicht für morgen gewinnen. Wie man es auch dreht und wendet, im Guten wie im Schlechten, zum Schrecken wie zum Erstaunen der Welt: Die Deutschen waren und sind ja ein tüchtiges Volk. Sie haben im Krieg halb Europa in Schutt und Asche gelegt, zum Schrecken der Welt, und sie haben danach ein Wirtschaftswunder und ein Sozialmodell hingelegt, über das andere nur noch staunen konnten. Die Tugend, die Tüchtigkeit und die Fähigkeiten eines Menschen, eines Volkes, überhaupt aller Dinge und Wesen, so lernen wir aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, können in ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Richtungen ausschlagen. Die Moral liegt in den Werten und Zielen, auf die hin Fähigkeiten und Ressourcen mobilisiert werden. Warum konnten vor 70 Jahren so viele Interessen und Leidenschaften der Deutschen für pathologische und destruktive Ziele freigesetzt werden, und warum sollte es nicht möglich sein, dies auf andere Weise für ein konstruktives gemeinsames Projekt erneut zu versuchen? Eine starke Demokratie und eine aktive Gesellschaft zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen, die zur Erreichung dieser Ziele notwendigen mentalen, moralischen und ökonomischen Ressourcen zu mobilisieren – und das alles nicht als Exekution von oben, sondern als gemeinsames politisches Werk, unter Beteiligung möglichst aller.

Wohin geht die Reise?

Deutschland, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist ein Land im Übergang. Langsam dämmert es Politikern wie Bürgern, dass sie der größten aller Utopien nachgehangen sind, der Hoffnung nämlich, es könne immer weiter so gehen und immer mehr vom Gleichen geben. Die alte Ordnung trägt nicht mehr, eine neue ist noch nicht gefunden. Das Land ist unterwegs zu neuen Ufern, und das zum ersten Male in seiner neueren Geschichte nicht nach Krieg und Katastrophe, sondern (noch) mitten im Wohlstand und im Frieden, ein Umbau bei laufenden Motoren. Es ist im Übergang von der (für die im Westen) komfortablen Lage im Schatten der Mauer und im Schutze der USA hin zu einer anderen Rolle in einem größeren Europa und in einer neuen Welt(un)ordnung; unterwegs von der staatlich geschützten Industriegesellschaft mit ihren vertrauten Formen der Organisation von Familie und Arbeitswelt, Wirtschaft und Sozialstaat, Bildung und Biografie, hin zu einer nachindustriellen Wissensgesellschaft mit all ihren normalen Risiken und riskanten Freiheiten. Aber bevor es die vertrauten Gestade verlässt, wäre es ganz beruhigend zu ahnen, wo Land und Leute ankommen werden, ob sie das andere Ufer erreichen oder mitten im Strom unter die Fluten kommen.

Deutschland verändert sich. In einem atemberaubenden Tempo werden die Arrangements des Sozialstaats und der Wirtschaft seit März 2003 umgebaut. Beide aber, das Sozial- wie das Produktionsregime, gehören seit der Wilhelminischen Epoche bis heute zu den verlässlichen Konstanten über all die Traditionsbrüche und politischen Systemwechsel hinweg. Beide haben sie den korporatistischen Wohlfahrtsstaat deutscher Prägung ausgemacht: den Rheinischen Kapitalismus, den deutschen Weg in Wirtschaft und Gesellschaft. So ist es kein Wunder, dass schon kleine Änderungen große Ängste auslösen – und die bange Frage: Was kommt danach? Wie werden Wirtschaft und Sozialstaat aus der Zeit des Übergangs heraus kommen? Was bleibt vom deutschen Modell?

Wege in die Zukunft

Der dänische Soziologe Gösta Esping-Andersen hat schon vor gut zehn Jahren in seinem einflussreichen Buch „Three Worlds of Welfare Capitalism“ unterschieden, nämlich das sozialdemokratische skandinavische Modell mit universalen sozialen Rechten und Ansprüchen, einer ausgeprägten Rolle des Staates und einer öffentlichen Verantwortung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das konservativ-korporatistische, eher ständische Modell, wie es vor allem in Österreich und Deutschland ausgeprägt ist mit seinem Familialismus und einer eng regulierten Verflechtung von Staat, Wirtschaft und Verbänden; schließlich das liberal-angelsächsische Modell, steuerfinanziert, marktorientiert, auf die Bekämpfung der Armut konzentriert.

An diesem Schema, das der Autor inzwischen weiter entwickelt hat,6 wird deutlich, wie sich Deutschland verändern wird: Es wird eine neue Balance geben zwischen Staat und Markt, Gesellschaft und Familie, kollektiver Sicherheit und Eigenvorsorge. Das Korporatistische, das Ständische und der Familialismus werden verdampfen, und das ist auch gut so. Doch es wird nicht nur einen Abbau geben: Das weite Feld der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird zum ersten Male als eine öffentliche Aufgabe definiert werden: Deutschland wird hier schwedischer und französischer zugleich werden. Langsamer noch, aber eben doch bewegt sich das Land auch weg von einem anderen Sonderweg, der lange, zu lange unter der Fahne „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ bevölkert war. In anderen Bereichen (Gesundheit, Bildung) werden Markt und Wettbewerb eine größere Rolle spielen. Der Staat wird seine Rolle und Aufgabe neu definieren. Die Entwicklung geht von einem umverteilenden zu einem aktivierenden Staat, der mehr in Menschen und Strukturen und weniger in den sozialen Konsum investieren wird.

Abschied vom deutschen Modell?

Deutschland verändert sich, aber es ist nicht auf dem Weg in eine andere Republik. Ein Systemwechsel, etwa von der Beitrags- zu einer Steuerfinanzierung bei den sozialen Sicherungssystemen, muss noch keinen Systembruch bedeuten. Ob der deutsche Weg weiter gegangen wird, entscheidet sich nicht an den Mitteln, sondern an den Zielen, nicht an den Instrumenten, sondern an den Werten. Europa und die Welt kennen viele Formen des sozialen Kapitalismus. Das europäische Modell hat sich bisher in all seiner Vielfalt, auch und gerade in seiner deutschen Variante, dadurch ausgezeichnet, dass es immer drei Wertziele gemeinsam im Auge hatte und zu optimieren versuchte: persönliche und politische Freiheit (Demokratie), wirtschaftliche Dynamik (Marktwirtschaft) und sozialer Zusammenhalt (Integration und Kohäsion). Nirgendwo sonst ist die Quadratur des Kreises so gut gelungen.

Das wäre denn auch der eigentliche Systembruch: die Resignation und der Abschied von der Hoffnung, alle drei Ziele gemeinsam erreichen zu können und sich stattdessen zwischen ihnen entscheiden zu müssen. Die Lage ist offen, der Ausgang ungewiss. Es mehren sich ohne Zweifel Stimmen, in der politischen Literatur mehr denn in Regierung und Opposition, die alle sozialen Rücksichten abschütteln wollen wie lästigen Ballast. Wenn es der Wirtschaft gut geht, so lautet ihr Credo, dann geht es auch der Gesellschaft gut. Das und nur das (nicht schon mehr Markt und Wettbewerb) wäre die wahre neoliberale Revolution: die Reduktion der Gesellschaft auf die Wirtschaft, des Menschen auf einen Homo oeconomicus, der Politik auf Dienstleistungen für Wirtschaft und Unternehmen.

Noch ist dies nicht der Mainstream in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Aber die Stimmen in diese Richtung7 werden mehr, und sie werden lauter, die da sagen, Deutschland sei nur noch durch eine Radikalkur an Haupt und Gliedern zu retten: Länger arbeiten, mindestens 42 Stunden; Mitbeteiligung statt Mitbestimmung; Entmachtung der Gewerkschaften; weg mit dem Kündigungsschutz; weniger Staat und weniger Steuern, eine Familienpolitik nach französischem Vorbild. Was beeindruckt an diesen marktradikalen Entwürfen für Deutschlands Zukunft ist nicht nur die Konsequenz im Denken, sondern auch das totale Ausblenden von Kultur und Tradition und jeder Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft. Es ist der begrenzte Tunnelblick des Ökonomen, der auf die ganze Gesellschaft geworfen wird. Es sind aber gesellschaftliche Institutionen, die Vertrauen schaffen, eine langfristige Perspektive in die Wirtschaft bringen, für attraktive „weiche“ Standortfaktoren sorgen. Wie der demokratische Staat leben auch Markt und Wettbewerb von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen, ohne die sie aber auch nicht gedeihen können. Es ist nicht so sehr das, was Ökonomen, die Wirtschaft oder den Arbeitsmarkt betreffend, vorschlagen, als vielmehr das, worüber sie, die Gesellschaft betreffend, sich ausschweigen, was eine neue Tonart in die öffentliche Debatte bringt.

Wirtschaft ohne Gesellschaft

Diesen Trend bestätigt eindrucksvoll der eingangs erwähnte Bestseller des Spiegel-Redakteurs Gabor Steingart. Zugleich wird in diesem wichtigen Buch der andere, bisher verborgene Sinn des Schlagworts „Reformstau“ deutlich. Deutschland sei nicht reformfähig, das war die eine, inzwischen schon klassische Botschaft der Rhetorik vom Reformstau: Res publica non reformanda est. Die andere, neue Botschaft lautet hingegen: Wenn die Dämme erst einmal brechen, dann werden die Fluten nicht nur die Strukturen, sondern auch die Ideen unter sich begraben, die einmal das deutsche und das europäische Sozialmodell begründet haben. Man wird die neue politische Melodie künftig aus dem Bundespräsidialamt hören, und sie dürfte bald auch aus dem Kanzleramt erklingen. Steingarts Buch ist Ausdruck und Ankündigung eines Gezeitenwechsels: ein Buch wie ein Gewittervogel, der eine neue Wetterlage ankündigt. Die scharfsichtige Analyse der Fehlentwicklungen kombiniert mit einer ziemlichen Blindheit für all jene Zusammenhänge und Leistungen, die sich nicht in Geldgrößen ausdrücken lassen oder nicht unmittelbar zur Wertschöpfung beitragen, ist in dieser Klarheit und Konsequenz neu in Deutschland, nicht unbedingt in der wissenschaftlichen (ökonomischen) Fachwelt, wohl aber in der politisch-öffentlichen Debatte. Gewiss hat der sozialpolitische Nebel den klaren Blick auf die ökonomische Landschaft oft genug verstellt. Aber hier geschieht mehr als eine Revision alter Irrtümer. Es bahnt sich eine Entwicklung an von einem Extrem ins andere, hin zu einem Primat der Ökonomie, der keinerlei Rücksichten mehr nimmt auf kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Zusammenhänge.

Das europäische Modell in all seinen Varianten steht und fällt aber nicht mit der Höhe und Dauer dieser oder jener Transfers, sondern mit der „Quadratur des Kreises“, wie Lord Dahrendorf einmal den ehrgeizigen Versuch genannt hat, liberale Demokratie, wirtschaftliche Dynamik und sozialen Zusammenhalt gemeinsam zu optimieren. Das war einmal das Versprechen Europas nach innen und außen, und Deutschland konnte sich dabei sehen lassen.

Staatsmann für die Wirtschaftspolitik

Um dieses Versprechen zu erneuern, braucht es freilich mehr als „nur“ Reformen im Sozialstaat und auf dem Arbeitsmarkt, so wichtig diese auch sind. Die wirtschaftliche Krise wird sich nicht aus der Mitte der Wirtschaft und die soziale Krise nicht aus der Mitte des traditionellen Sozialstaats heraus überwinden lassen, sondern nur durch eine Wiederentdeckung der Politik in ihrem anspruchsvollen Sinne, die gemeinsame Aufgaben, Perspektiven und Anstrengungen von der Zukunft her legitimiert. Der Exodus aus dem Jammertal braucht nicht mehr die Verheißung auf ein gelobtes Land, in dem Milch und Honig fließen, aber doch die Ahnung einer Zukunft, in der alle gewinnen und zu der jeder seinen gerechten Beitrag leistet.

Hoffnung zu begründen und Vertrauen in die Zukunft zu wecken, das ist wohl die wichtigste, aber auch die schwierigste Aufgabe der Politik in der gegenwärtigen Zeit. Dazu braucht es jedoch Politiker, die mehr sind als Machtspieler, Gesellschaftsarbeiter, Narzissten oder Interessenvertreter.8 Es braucht dazu so etwas wie einen „politischen Unternehmer“ im Sinne Joseph Schumpeters, der mit einem entsprechenden politischen Angebot vor Partei und Wähler tritt, damit Erfolg haben oder scheitern kann.

Wir sind gewohnt, die Arena für einen Staatsmann nur in der internationalen Politik zu suchen. Ohne einen Staatsmann auf dem weiten Feld der Sozial- und Wirtschaftspolitik, der Bildungs- und überhaupt der Gesellschaftspolitik dürfte die Zukunft des Landes nicht erfolgreich zu gestalten sein.

Anmerkungen

1Vgl. Gabor Steingart, Deutschland. Der Abstieg eines Superstars, München 2004, und die Besprechung in diesem Heft, S. 119 ff.

2Vgl. Warnfried Dettling, Wirtschaftskummerland? Wege aus der Globalisierungsfalle, München 1998.

3Der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht in diesem Zusammenhang allgemein, aber treffend von einem „hysterischen Zukunftsangst-Syndrom“; vgl. dazu Horx, Das Zukunfts-Manifest, München 1999.

4Vgl. Warnfried Dettling (Hrsg.), Schrumpfende Bevölkerung – Wachsende Probleme? Ursachen, Folgen, Strategien, München 1978.

5Vgl. Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, Berlin 2003.

6Vgl. Gösta Esping-Andersen, Why We Need a New Welfare State, New York 2002.

7Eine besonders wichtige unter ihnen ist der Präsident des ifo Instituts in München, Hans-Werner Sinn; vgl. seinen Beitrag in diesem Heft (S. 25–34), sein Buch: Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003, und eine Rezension dieses Buches in: Internationale Politik, 3/2004, S. 96 f.

8Vgl. dazu das anregende Buch von Hermann Scheer, Die Politiker, München 2003.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 1-10

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