In 80 Phrasen um die Welt: „Polykrise“
Selten hat es ein Schlagwort so schnell in den Jargon von Politik, Ökonomie, Beratungsunternehmen und Medien geschafft wie die „Polykrise“. Der Begriff geht auf den französischen Soziologen Edgar Morin zurück und wurde 2022 vom New Yorker Wirtschaftshistoriker Adam Tooze aufgegriffen, um die eskalierende Weltlage zu beschreiben.
Inzwischen ist es zu einem Topos geworden, dass die Welt sich in einer Polykrise befinde, in der, wie Tooze es nennt, „das Ganze gefährlicher ist als seine Teile“. Einzelne Krisen in Regionen der Welt oder in Teilen einzelner Gesellschaften verstärken sich wechselseitig. Rückkopplungsschleifen und Verstärkereffekte zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlicher Umwelt führen zu einer unbeherrschbaren Welt voller unbeabsichtigter und unkontrollierbarer Nebenfolgen. Das Wort Polykrise bringt ein Gefühl der Ohnmacht und Überforderung auf den Begriff.
Russlands Krieg in der Ukraine hat eine millionenfache Flüchtlingsbewegung in Gang gesetzt. Die Massenflucht stresst den Haushalt der Aufnahmeländer und stärkt die politischen Extreme, die wiederum die Waffenhilfe für Kyjiw zurückfahren wollen; das könnte neue Flüchtlingswellen provozieren und die Polarisierung verschärfen. Hinzu kommt die Krise durch den Ausfall russischen Gases. Sie lässt die Energiepreise steigen; das verstetigt die Rezession in Deutschland, lässt die Arbeitslosigkeit wachsen, stärkt die politischen Ränder und schwächt die Ukraine-Unterstützung.
Es fiele leicht, zahlreiche andere doom loops aufzuzählen. Mit einem alten deutschen Begriff könnte man auch von Teufelskreisen sprechen. Zur Polykrise verdichtet sich die Lage, wenn die verschiedenen Teufelskreise ineinandergreifen.
Die Klimakatastrophe zwingt zur Abkehr von billigen fossilen Energien; die darauffolgende Energiewende trifft vor allem untere Einkommensschichten, die sich in der Folge von den Parteien der demokratischen Mitte abwenden, was die Rechtspopulisten stärkt und damit wiederum die Klimapolitik erschwert.
Der Erkenntnisgewinn durch das Konzept ist offensichtlich: Man kann die Folgen von Fehlsteuerungen weit über Ressorts, Teilsysteme, Nationen und Weltregionen hinweg in den Blick nehmen. Allerdings hat der Modebegriff Grenzen, denn wenn alles und jedes als Teil einer Polykrise erscheint, verwischen die Unterschiede.
„Alles hängt mit allem zusammen“ ist eine lähmende Botschaft. Sie kann einem ohnehin schon verbreiteten Fatalismus Vorschub leisten: Das System spielt verrückt, jeder Eingriff macht womöglich alles noch schlimmer, und vor lauter unbeabsichtigten Nebenfolgen und Feedback-Phänomenen erscheint Heraushalten plötzlich als attraktive Option.
Wie andere systemtheoretische und strukturalistische Analyse-Ansätze hat das Konzept der Polykrise keinen Sinn für den menschlichen Faktor der Weltpolitik. Ohne Akteure wie Putin, Xi Jinping und Trump sähe die Welt anders aus. Sie verschärfen die Polykrise, weil sie sich davon Vorteile erwarten. Für die Überwindung der Polykrise kommt es auf Dinge an, die dieser Begriff nicht erfassen kann: Persönlichkeit
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 15