Titelthema

29. Aug. 2022

Zwischen Chaos und Konsens

Wie sich die Zwischenwahlen auf Washingtons Auftreten und Agieren in der Welt auswirken – und warum die größte Gefahr nicht von außen droht.

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Bild: Jo Biden hält eine Rede in Washington D.C.
Joe Biden will Präsident aller Amerikanerinnen und Amerikaner sein; in Wirklichkeit aber zerfällt das Land in immer mehr Fragmente, schreitet die Polarisierung noch rascher voran – allen Beschwörungen Bidens zum Trotz.
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Ja, traditionell spielt die Außenpolitik in amerikanischen Wahlen eine untergeordnete Rolle. Dies gilt insbesondere für die Midterms, die Zwischenwahlen, bei denen zur Halbzeit einer Präsidentschaft das gesamte Repräsentantenhaus sowie ein Drittel des Senats (und einige Gouverneure) gewählt werden. Auch für die am 8. November 2022 stattfindenden Wahlen stehen wieder andere Themen im Vordergrund, vor allem die wirtschaftliche Lage und die hohe Inflation treiben laut Umfragen die Wählerschaft um. Hinzu kommen Themen wie Kriminalität und Waffengewalt, Sorgen um die Stabilität der US-Demokratie und politische Polarisierung sowie die Frage des Abtreibungsrechts – vor allem auf demokratischer Seite infolge der dramatischen Entscheidung des Supreme Court. Im täglichen Nachrichten- und Twitterverlauf und besonders in konservativen Medien dominieren darüber hinaus immer wieder tagesaktuelle Culture-War-Themen aller Art den Diskurs. Diese Dominanz der Innen- und Parteipolitik sorgt dafür, dass auch außenpolitische Themen, sollten sie den Weg in den Wahlkampf finden, nicht selten durch eine parteipolitische Linse gesehen werden.



Dennoch: Die Midterms 2022 können beträchtliche Auswirkungen auf die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik der kommenden Jahre haben. Zwei Jahre nach seiner Wahl droht Joe Biden seine Mehrheit im Kongress zu verlieren und zu einem „­Lame-Duck-Präsidenten“ zu werden. Bisher gehen die meisten Beobachter noch davon aus, dass die Demokraten bei den Wahlen ihre momentanen hauch­dünnen Mehrheiten in einer oder gar beiden Kammern des Kongresses verlieren werden. Für diese ­Erwartung gibt es handfeste Gründe.



Historisch betrachtet verliert die Partei des Präsidenten in den Mid­terms, besonders in dessen erster Amtszeit, fast immer erheblich an Sitzen, insbesondere im Repräsentantenhaus. Mit Ausnahme der Wahlen 2002, die unmittelbar nach dem 11. September 2001 unter besonderen Vorzeichen standen, sowie 1998 (als die Republikaner für das Impeachment-Verfahren gegen Präsident Bill Clinton abgestraft wurden) musste die Partei des Präsidenten in jeder Midterm-Wahl seit 1934 zum Teil erhebliche Verluste hinnehmen. Im Durchschnitt verlor die Seite des Amtsinhabers in den Zwischenwahlen seit dem Zweiten Weltkrieg 26 Sitze im Repräsentantenhaus. Die demokratische Mehrheit von momentan 220 zu 210 Stimmen ist somit schon von diesem Standpunkt aus äußerst prekär. Auch im Senat sind Verluste für die Präsidentenpartei die historische Norm. Allerdings steht immer nur ein Drittel der Senatoren zur Wiederwahl, sodass die Einbußen – je nach Zusammensetzung der zur Wahl stehenden Senatorenkohorte – meist geringer ausfallen.



Auch andere Indizien deuten auf ein schlechtes Abschneiden der Demokraten im Herbst hin. So steht Präsident Biden in diesem Sommer in Umfragen so schlecht da wie noch keiner seiner Vorgänger zu diesem Zeitpunkt; im Durchschnitt kam er Anfang August nur noch auf rund 39 Prozent Zustimmung, ein niedrigerer Wert als der seines ebenfalls unbeliebten Vorgängers Donald Trump. Besonders die hohe Inflation, vermutlich aber auch Frust über die nicht überwundene Pandemie sowie die Enttäuschung der eigenen Anhänger über viele unerreichte Ziele kommen hier zusammen. In der Außenpolitik waren es vor allem die dramatischen Bilder des amerikanischen Abzugs aus Afghanistan, die dem Präsidenten und seinem Team ­zusetzten.



Trotz der historischen Präzedenzfälle und der schlechten Umfragewerte gibt es in den vergangenen Wochen aber auch Anzeichen, die auf eine positive Überraschung für die Demokraten hindeuten lassen. Seit der von einer überwiegenden Mehrheit der Amerikaner abgelehnten Entscheidung des Obersten Gerichts, das Abtreibungsrecht aufzuheben, konnten die Demokraten in Umfragen, die speziell die gewünschte Mehrheit im Kongress erfragen, deutlich zulegen. Selbst im konservativen Bundesstaat Kansas sprach sich zuletzt eine handfeste Mehrheit in einem Referendum gegen ein Abtreibungsverbot aus. Darüber hinaus sinken seit Wochen die Benzinpreise wieder, und auch im Kongress konnte Bidens Partei durchaus überraschend eine Reihe von wichtigen Gesetzesvorhaben durchbringen, darunter der Inflation Reduction Act, das größte je vom US-Kongress verabschiedete Klimapaket.



Beflügelt Trump die Demokraten?

Auch Trumps von einigen Beobachtern erwartete frühzeitige Ankündigung einer erneuten Kandidatur für das Präsidentenamt könnte die demokratische Basis aus ihrer Lethargie wecken. Während die meisten Wahlforscher weiterhin von einer republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus nach den Midterms ausgehen, sind die Chancen für die Demokraten für eine Verteidigung ihrer hauchdünnen Mehrheit im Senat nicht aussichtslos. Dies wäre nicht nur ein starkes Signal für Bidens Partei, es hätte aufgrund der Rolle des Senats bei der Bestätigung von Botschaftern, Richtern und vielen Regierungsposten auch erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik der nächsten zwei Jahre.  



Selbstverständlich sind bei der Gestaltung der Außenpolitik nach wie vor Präsident und Exekutive die entscheidenden Institutionen im System, sodass selbst bei einem republikanischen Wahlerfolg keine unmittelbare Veränderung der US-Außenpolitik zu erwarten wäre. Doch die Rolle des Kongresses in der Außenpolitik ist zuletzt wieder gewachsen. Lange Zeit galt in Washington dabei das Mantra „Politics ends at the water’s edge“, dass also die Parteipolitik bei den grundlegenden außenpolitischen Fragen hintangestellt würde. Dieser vermeintliche Konsens erscheint dieser Tage als ein Relikt des Kalten Krieges. Zwar gibt es auch heute insbesondere mit Blick auf China oder die Unterstützung der Ukraine einen parteiübergreifenden Konsens; doch kann in Washington niemand vorhersagen, wie belastbar dieser künftig sein wird. Die zunehmende Polarisierung und insbesondere der Rechtsruck der Republikaner mitsamt der Abkehr von vielen etablierten demokratischen Normen unter Trump schlagen immer öfter auch auf die Außenpolitik durch.



Trumps öffentliches Zweifeln an bewährten Bündnissen und Sicherheitsgarantien hat auch in Washington Spuren hinterlassen. Das Erstarken des nationalistischen Flügels macht sich – von Trump durch seine „America-First“-Rhetorik angefeuert und mit traditionell isolationistischen Argumenten kombiniert – ebenfalls in der außenpolitischen Debatte bemerkbar. Zwar konnten sich unter Trump auch immer wieder Verfechter einer eher traditionelleren republikanischen Außen- und Sicherheitspolitik durchsetzen, um einige der dramatischsten außenpolitischen Ideen und Vorhaben des Präsidenten abzuwenden, das gelang aber nicht immer. Darüber hinaus hat Trump durch seine Fähigkeit des Agenda Setting in den Medien und der republikanischen Basis dafür gesorgt, dass seine Beschreibung der USA als ein von anderen Staaten und sogar von Verbündeten ausgenutztes Land weite Verbreitung findet. Trumps langer Schatten und sein weiterhin enormer Einfluss prägen somit noch immer die innerparteilichen Ausein­andersetzungen in der Republikanischen Partei. Auch wenn sie in der derzeitigen Opposition überdeckt scheinen, könnten diese Bruchstellen in einer etwaigen republikanischen Kongressmehrheit und insbesondere mit Blick auf den inner­parteilichen Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahlen 2024 wieder offener zutage treten.



Traditionalisten versus Isolationisten

Dabei ist die Gruppe der eher traditionell gesinnten Außenpolitiker in den aktuellen republikanischen Kongressfraktionen noch eindeutig in der Mehrheit. Angeführt vom Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, befürwortet diese Gruppe eine starke NATO, die Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland, erhöhte Militärausgaben im Bundeshaushalt und die Kooperation mit Partnern – besonders in der Auseinandersetzung mit China.



Ihnen gegenüber stehen die Vertreter einer Fortsetzung der Trumpschen Außenpolitik. Sie kombinieren traditionell isolationistische Ansichten mit einer nationalistisch geprägten Politik der Härte gegenüber Amerikas Gegnern. Auch sie fordern eine härtere Gangart gegenüber China und lehnen diplomatische Bemühungen wie etwa das Atomabkommen mit dem Iran strikt ab. Im Gegensatz zu früheren konservativen Idolen wie Ronald Reagan stellen Verfechter dieser Ausrichtung jedoch nicht einmal mehr rhetorisch die Verteidigung universeller Demokratie- und Freiheitsrechte in den Vordergrund. Stattdessen befürworten sie eine strikte, nur dem direkten amerikanischen Eigennutzen verpflichtete Außen- und Sicherheitspolitik. Bündnisse und internationale Verpflichtungen sind ihnen – wenn sie sich nicht direkt gegen Amerikas Hauptgegner richten – eher Belastung als Gewinn. Dass insbesondere einige der jüngeren und ambitioniertesten republikanischen Politiker wie Senator Josh Hawley aus Missouri oder der ehemals Trump-kritische Senatskandidat J.D. Vance aus Ohio entsprechende Positionen vertreten, lässt die Vermutung zu, dass diese Haltung als innerparteilich und politisch gewinnbringend angesehen wird.



Auch in den konservativen Medien und insbesondere auf Fox News wird immer wieder über Amerikas globales Engagement lamentiert und der Sinn von Bündnisverpflichtungen infrage gestellt. Neokonservative Strömungen, die unter Präsident George Bush jr. dominierten, sind unterdessen – durch den desaströsen Irak-Krieg diskreditiert – weitgehend in den Hintergrund geraten, obwohl beispielsweise eine harte Linie gegenüber den Regimen in Nordkorea und im Iran weiterhin die republikanische Position prägt und eint.



Wie könnten sich diese republikanischen Positionen und der innerparteiliche Konflikt auf die amerikanische Außen­politik auswirken, sollte die Partei im Herbst bei den Zwischenwahlen gewinnen? Auf den ersten Blick besteht in Wa­shington in den großen außenpolitischen Fragen momentan eine seltene überparteiliche Einigkeit. So stimmte eine überwältigende Mehrheit in beiden Kammern den Hilfspaketen für die Ukraine zu (obwohl es jeweils republikanische Abweichler gab). Auch die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die NATO wurde mit nur einer Gegenstimme (des bereits erwähnten Senators Hawley) beschlossen.



Etwas geringer, aber dennoch überparteilich fiel zuletzt die Zustimmung für den sogenannten CHIPS Act im Kongress aus, dessen Hauptziel die Stärkung der amerikanischen Halbleiterproduktion und -forschung und somit der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China ist.

Anfängliche Kritik an der Unterstützung der Ukraine oder gar ein zunächst etwa von Trump und Fox News-Kommentator Tucker Carlson geäußertes Verständnis für Putin zogen diese aufgrund der eindeutigen öffentlichen Meinung in den USA rasch zurück. Denn auch die republikanische Basis sieht Russland nach dem Angriff auf die Ukraine laut Umfragen wieder deutlich negativer und als eine erhebliche Bedrohung für die USA an. Dementsprechend ist die Unterstützung für die NATO unter Republikanern in letzter Zeit ebenfalls wieder gestiegen, auch wenn diese weiterhin deutlich geringer als unter Demokraten ausfällt. Mit Blick auf die Auseinandersetzung mit China sind es ­allerdings die republikanischen Wähler, die eine weitaus kritischere Haltung an den Tag legen und insbesondere in wirtschaftlichen Fragen eine stärkere Konfrontation mit Peking fordern. Hier ist zu erwarten, dass die Republikaner im Kongress eine Verschärfung fordern und versuchen könnten, Biden und die Demokraten als schwach gegenüber China darzustellen. Dass ausgerechnet die liberale Nancy Pelosi für ihren kontroversen Besuch in Taiwan Anfang August besonders aus konservativen Kreisen Lob und Unterstützung erhielt, ist dafür ein Indiz.



Parteipolitik vor Staatsräson

Doch trotz der grundsätzlichen Einigkeit ist offen, ob sich diese in einer entsprechenden Politik im Kongress niederschlägt, übertrumpft doch die parteipolitische Auseinandersetzung immer öfter die außenpolitische Staatsraison. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2024 ist zumindest fraglich, ob eine etwaige republikanische Mehrheit im Kongress selbst bei den außenpolitischen Großthemen China und Russland mit den Demokraten kooperieren oder dem Präsidenten zu außenpolitischen Erfolgen verhelfen will.



Vor allem bei einer Kandidatur Trumps würde er wohl auch in den kommenden Jahren die außenpolitische Agenda seiner Partei beherrschen und vermeintliche Abweichler scharf angehen, um sie auf Linie zu halten. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass die überwältigende Mehrheit republikanischer Amtsträger Trump folgen und seine Positionen übernehmen wird, selbst wenn diese nicht mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen. Insbesondere im Senat findet sich neben Hawley mit Ted Cruz, Tom Cotton und Marco Rubio eine Reihe von Senatoren mit Ambitionen auf höhere Posten und letztendlich auf das Präsidentenamt; sie sorgen sich daher besonders um das Standing in den eigenen Reihen. Die ­Versuchung, so oft wie möglich die Konfrontation mit Biden und den Demokraten zu suchen, dürfte daher für viele Republikaner sehr hoch sein. Eine republikanische Mehrheit in einer oder beiden Kammern des Kongresses dürfte es nicht bei inhaltlichen Auseinandersetzungen belassen. Die Republikaner würden wohl eine ganze Reihe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen einsetzen, um Regierungsvertreter und möglichst Präsident Biden selbst zu attackieren und so echte oder vermeintliche Skandale aufzudecken oder anzuprangern – man denke an die Benghasi-Ausschüsse mit Hillary Clinton zu den Ereignissen um die US-Botschaft in Libyen. Dabei könnten sowohl Themen wie der heikle Abzug der Amerikaner aus Afghanistan als auch Lieblingsthemen der rechtskonservativen Medienblase wie das Verhalten des Präsidentensohnes Hunter Biden in den Fokus geraten.



Solange bestimmte außenpolitische Themen jedoch keine große Rolle im öffentlichen Diskurs spielen, lohnt sich eine solche Auseinandersetzung schlicht weniger. In den kommenden Jahren könnten deshalb weitere außenpolitische Maßnahmen mit überparteilichen Mehrheiten den Kongress passieren, zum Beispiel weitere Unterstützungspakete für die Ukraine. Anders verhält es sich bei Themen mit markanten inhaltlichen Differenzen. So dürften von einem republikanisch dominierten Kongress kaum Kompromisse in der Klima- und Energiepolitik zu erwarten sein. Auch in der Einwanderungspolitik werden die Republikaner weiterhin auf eine möglichst konfrontative Haltung setzen. Internationale Abkommen wie das möglicherweise wiederbelebte Abkommen mit dem Iran lehnen sie weiter ab.



Wo das gefährlichste Problem liegt

Die größte Gefahr für die außenpolitische Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten in den kommenden Jahren geht jedoch nicht von inhaltlichen Differenzen zwischen den beiden Parteien aus. Wie beschrieben, herrscht in Washington sowohl im Hinblick auf den Umgang mit China als auch die Lage in der Ukraine eine grundsätzliche Übereinstimmung. Das tieferliegende Problem der US-Außenpolitik ist das gleiche Problem, welches die gesamte amerikanische Politik und mithin das Staatswesen der USA selbst plagt: die andauernde Gefahr für die Demokratie und das Abdriften der Republikanischen Partei, deren Anhänger in großen Teilen nach wie vor das Ergebnis der jüngsten Wahlen nicht anerkennen.



Diese fortwährende Auseinandersetzung mindert nicht nur die Verlässlichkeit und die Vorbildfunktion der USA in der Welt; sie droht auch, das Land spätestens nach den Präsidentschaftswahlen 2024 in eine handfeste Verfassungskrise zu stürzen. Mit ihrer Abkehr von demokratischen ­Normen setzen die Republikaner mehr und mehr den gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes aufs Spiel – und somit auch die Fähigkeit der USA, sich gegenüber dem immer forscher auftretenden China zu behaupten. Solange eine so gravierende innere Bedrohung besteht, bleibt unklar, wie überhaupt eine langfristig wirksame Außenpolitik entworfen werden kann.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 18-23

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Peter Sparding arbeitet als Trans­atlantic Fellow beim German Marshall Fund of the United States (GMF) in Washington, DC.

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