Essay

27. Okt. 2025

Zurück in die Zukunft

KI revolutioniert Wirtschaft und Gesellschaft. Technologische Entwicklungen zwingen  uns, neue Antworten auf alte Fragen zu finden. Wie organisieren wir eine post­industrielle Gesellschaft, wie reguliert man eine entkoppelte Wirtschaft? Wie lässt sich Wohlstand noch gerecht verteilen, wie ökonomische Teilhabe gewährleisten? Und: Hat dies das Potenzial, die Grundlagen der liberalen Demokratie zu zerstören?

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Bild: Eine verschwommene Menschenmenge durch den Sucher einer Kamera mit Gesichtserkennung gesehen
Die Revolution der KI setzt auf Gesellschaften auf, in denen die Zersplitterung fortschreitet und der Zusammenhalt abnimmt – ­ver­unsichert auch durch das Tempo der Veränderungen, Manipulation und immer perfektere Instrumente der Überwachung.

Künstliche Intelligenz (KI) und andere neue Technologien revolutionieren nicht nur in atemberaubender Geschwindigkeit die Wirtschaft, sie verändern Gesellschaften nachhaltig. Sie leiten dabei einen Wandel ein, dessen Ausmaß und Umfang durchaus mit früheren industriellen Revolutionen vergleichbar ist, der sich aber doch in einigen wichtigen Punkten unterscheidet. Trotz des immer wieder öffentlich zur Schau getragenen Optimismus zeigt eine genauere Betrachtung der technologischen Quantensprünge, dass damit einhergehende Veränderungen mit massiven gesellschaftlichen Implikationen verbunden sind. Sie zwingen uns, alte ungelöste Probleme neu zu denken. Dazu gehören die Fragen, wie wir einer fast unumgänglichen Verschärfung der sozialen Ungleichheit begegnen: Wie werden Gesellschaften reagieren, wenn technologische Entwicklungen im großen Stil Arbeitsplatzverluste mit sich bringen?

Sowohl die Globalisierung als auch die Transformation von einer produktions- hin zu einer dienstleistungsbasierten Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte haben in west­lichen Demokratien zu massiven sozialen und ökonomischen Verwerfungen geführt. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Trends mit der KI-Revolution noch intensivieren werden. 

Um eine weitere Aushöhlung der Mittelschicht zu vermeiden, verlorengegangenes Vertrauen in demokratische Institutionen zurückzugewinnen und den Aufstieg des Populismus effektiv zu bekämpfen – alles Entwicklungen, die das Potenzial haben, liberale Demokratien zu zerstören –, müssen wir grundlegende Fragen neu denken. Wer profitiert in welchem Maße von Wertschöpfungsketten? Wer kontrolliert die verschiedenen Teilbereiche? Was hilft welche Regulierung? Wie können Gesellschaften lebenslanges Lernen in sich rasch wandelnden Arbeitsmärkten erfolgreich ermöglichen? Und was passiert, wenn Produktivität und Wertschöpfung immer mehr von menschlicher Arbeit entkoppelt sind? 

Ein Blick in die Vergangenheit sollte uns dabei eine Lehre sein. Denn stagnierende Löhne, schwindendes Vertrauen in demokratische Institutionen und zunehmender Populismus im politischen Diskurs sind nicht nur ­Folgen existierender Missstände; sie unterstreichen die Dringlichkeit, diesen  Herausforderungen vorbeugend zu begegnen. Sollten wir es versäumen, die Strukturen der Besteuerung, der Vermögensverteilung und der Bildung progressiv zu überdenken, werden gesellschaftliche Spaltungen und der Erfolg populistischer Bewegungen nur ein Vorspiel für das politische Chaos sein, welches mit den Auswirkungen der neuen Technolo­gien noch auf uns zukommen wird. Mit anderen Worten: KI treibt uns in gewisser Weise zurück in die Zukunft und zwingt Gesellschaften dazu, ihre Wirtschaftsordnung und Wohlstandsverteilung ganz grundlegend zu überdenken, sie quasi neu zu erfinden – nicht nur, um gesellschaftlich zu gedeihen, sondern um die Grundlagen der liberalen Demokratie zu bewahren.


Lehren aus der Vergangenheit

Der wirtschaftliche Wandel von einer produktionsorientierten hin zu einer dienstleistungsorientierten Gesellschaft im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert wurde zunächst als eine Ära beispielloser Chancen und unendlichen Wachstums gepriesen. Tatsächlich trieben Globalisierung und Automatisierung die Unternehmensgewinne in die Höhe, schufen völlig neue Industriezweige und sorgten in fast allen westlichen Demokratien für steigende Lebensstandards. Doch unter der glänzenden Oberfläche verbargen sich tiefgreifende soziale Umbrüche. Traditionelle Arbeitsplätze in der Produktion, einst das Rückgrat des Wohlstands westlicher Mittelschichten, wurden automatisiert, ins Ausland verlagert oder in modernen Wirtschaften schlicht überflüssig. Infolgedessen sahen sich ganze Regionen, insbesondere in den ländlichen Gegenden industrieller Kerngebiete, mit stagnierenden Löhnen, sinkendem Lebensstandard und begrenzten sozialen Aufstiegsmöglichkeiten konfrontiert.

Das Versprechen, Arbeitnehmer umzuschulen und in florierende Dienstleistungsbranchen zu vermitteln, scheiterte auf ganzer Linie. Die sogenannte Gig Economy mit ihren befristeten und flexiblen Arbeitsverhältnissen, in die einige flüchteten, glich schon immer eher dem Manchester Kapitalismus des 19. Jahrhunderts; sie entzieht sich bis heute sozialen und demokratischen Regelsystemen. Es sollte eigentlich nicht überraschen, dass ungleiche Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne zwangsläufig zum Vertrauensverlust in etablierte politische und wirtschaftliche Institutionen beiträgt und den Nährboden für den Aufstieg des Populismus bereitet.

Viele dieser gesellschaftlichen Brüche bleiben bis heute weitgehend ungeheilt. Die populistischen Akteure des 21. Jahrhunderts sind weitestgehend politische Brandstifter, deren Systemkritik zwar richtig ist, die aber kaum Interesse an der Problemlösung hegen. Ihnen geht es lediglich um die Destruktion des Bestehenden. Ihr Erfolg ist mehr ­Symptom als Ursache gesellschaftlicher Eskalationsprozesse. Politische Polarisierung, wirtschaftliche Unsicherheit und soziale Fragmentierung sind keine Phänomene sui generis, sondern Folgen wirtschaftlicher Umbrüche, die zu viele Verlierer produziert haben. Wenn es nun darum geht, sich auf die nächste Welle des Wandels durch KI vorzubereiten, sollten diese Einsichten als deutliche Warnungen verstanden werden: Denn die Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die der technologische Fortschritt nach sich ziehen wird, darf nicht länger als eine nachrangige Aufgabe angesehen werden. Sie ist eine existenzielle Notwendigkeit.


Alte Probleme in neuem Gewand

Dies gilt umso mehr, als Künstliche Intelligenz wirtschaftliche und soziale Umbrüche in bisher unbekanntem Maße beschleunigen wird. Im Gegensatz zu früheren Automatisierungswellen, die vor allem industrielle Arbeitsplätze verdrängten, bedroht KI nun auch Berufe, die einst als sicher galten: Rechtsanwälte, Finanzanalysten, Ärzte, Journalisten und sogar Softwareentwickler selbst. Um es noch deutlicher zu sagen: Generative KI, algorithmische Entscheidungsfindung und fortschrittliche Robotik dringen in Bereiche vor, die traditionell von Arbeitnehmern geprägt waren, die spezialisierte Ausbildungen und hohe Qualifikationsgrade hatten – dramatische Beschäftigungsveränderungen, auch für akademische Eliten, sind daher nur eine Frage der Zeit.

Derzeit konzentriert sich die wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleinen Zahl von Technologiegiganten und finanzstarken Investoren – ein Umstand, der an Epochen wie das Gilded Age in den USA erinnert, das rasante Wachstum Ende des 19. Jahrhunderts, geprägt durch monopolistische Konzentration von Reichtum und Einfluss. Damals wie heute gilt, dass wirtschaftliche Ungleichheit und soziale Fragmentierung jedes politisch-soziale System bedrohen. 

Diesen Trends entgegenzuwirken, ist keine leichte Aufgabe, insbesondere weil KI-getriebene Produktivitätssteigerungen mehr und mehr von menschlicher Arbeit entkoppelt sind. In der Vergangenheit gingen wirtschaftliche Wertschöpfung und Produktivitätssteigerungen grundsätzlich mit Beschäftigungs- und Lohnwachstum einher, von denen wiederum weite Teile der Gesellschaft profitierten. Angestellte Arbeitnehmer bildeten Communities, zahlten Steuern, schickten ihre Kinder auf lokale Schulen und kurbelten mit ihrem Konsum die Wirtschaft an. Es war ein sich selbst bedingender Kreislauf. Heute fließen durch Roboter oder Algorithmen erwirtschaftete Produktivitätsgewinne direkt an die Eigentümer der technologischen Infrastruktur. 

Die politischen und sozialen Folgen derartiger Missstände zeigen sich bereits in den populistischen Revolten gegen die neoliberale Globalisierung, die es Unternehmen im großen Stil ermöglicht hat, Gewinne dort zu versteuern, wo die geringsten Steuersätze gelten – egal, ob dort auch der größte Umsatz gemacht wurde. KI-Anwendungen drohen, diese Wut und Unsicherheit auf bisher stabile, wohlhabende Teile der Gesellschaft auszuweiten, und damit politische Umwälzungen in weit größerem Ausmaß in Gang zu setzen. Populistische Rhetorik, die bisher vor allem in industriell rückständigen Regionen auf offene Ohren stieß, könnte bald zum zentralen Bestandteil der politischen Logik werden und auch bei Angehörigen der noch existierenden Mittelschicht auf fruchtbaren Boden fallen. 

Ganz zu schweigen davon, dass die KI selbst durch neue Formen der Überwachung, Desinformation und Manipulation weitere Polarisierung und soziale Fragmentierung ermöglichen wird – in einer Gesellschaft, die sich bereits durch fragiler werdende demokratische Institutionen und weitverbreitetes Misstrauen auszeichnet.


Der Kapitalismus am Scheideweg

Es ist daher keine Übertreibung, wenn man argumentiert, dass Gesellschaften an einem Scheideweg stehen. Die Folgen der KI schaffen keine neuen Probleme, doch die Geschwindigkeit und das Ausmaß der technologischen Entwicklung haben das Potenzial, bestehende ungelöste gesellschaftliche Spannungen noch dramatisch zu verstärken. Um der drohenden Krise standzuhalten, muss sich der Kapitalismus selbst weiterentwickeln und möglicherweise neu erfinden. Das neoliberale Modell – gekennzeichnet durch Deregulierung, Privatisierung und die Priorisierung von Aktionärsgewinnen – hat sich als äußerst effektiv bei der Schaffung von Wohlstand erwiesen, aber als katastrophal ineffektiv bei dessen gerechter Verteilung. Der rasante Fortschritt der KI birgt die Gefahr, diese Misserfolge noch weiter zu verschärfen.

Es steht außer Frage, dass mögliche Lösungen politischen Mut erfordern, denn die Profiteure des Systems werden ihre Privilegien nicht kampflos aufgeben. Aber die Entkopplung von Produktivität und Beschäftigung erfordert tiefgreifende Veränderungen unserer Steuer- und Umverteilungssysteme. Unternehmen des digitalen Zeitalters, die einerseits mühelos Gewinne über Grenzen hinweg verschieben, um Steuern zu vermeiden, und andererseits mehr Roboter als Menschen beschäftigen, sind auf herkömmliche Weise nicht mehr zu regulieren. Ein faires, robustes Steuersystem sollte sich vielmehr auf die Besteuerung von Unternehmensumsätzen anstatt von leicht manipulierbaren Gewinnen verlagern und Schlupflöcher schließen, die durch politische Korruption entstanden sind. Vermögens- und Finanztransaktions­steuern, lange als politisch undurchführbar abgetan, könnten zu zentralen politischen Instrumenten werden, um eine gerechte Umverteilung der immensen Gewinne aus der KI-getriebenen Produktivitätssteigerung sicherzustellen.

Und auch wenn die Besteuerung der Automatisierung oft als Innovationshemmnis kritisiert wird, könnte sie doch der einzige Weg sein, um sicherzustellen, dass wirtschaftliche Vorteile der Automatisierung der Breite der Gesellschaft zugutekommen und nicht, wie während der letzten ökonomischen Transforma­tion, nur einer Minderheit. Die Einnahmen aus solchen Steuern könnten wiederum lebenslange Lernangebote oder öffentliche Investitionen in Bildung finanzieren – verstanden nicht als begrenzte Lebensphase, sondern als sich ständig weiterentwickelnde, ­universell zugängliche Infrastruktur, die darauf ausgelegt ist, Arbeitnehmertätigkeiten schnell an neue technologische Realitäten anzupassen. So könnten sich Gesellschaften vor den disruptiven Auswirkungen der Automatisierung ­schützen und wirtschaftliche Stabilität sichern.


Wohlstand oder Gefahr

Neue Technologien wie Künstliche Intelligenz sind nicht nur Treiber des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts, sondern wirken auch als Katalysatoren für ungelöste gesellschaftliche Fragen zu Eigentum, Arbeit, Bildung und gerechter Verteilung von Wohlstand. Die Geschichte hat gezeigt, dass ein unzureichender Umgang mit sich verändernden Wirtschaftsparadigmen – sei es von der Agrar- zur Industrie- oder von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft – unweigerlich zu wirtschaftlicher Enttäuschung, sozialen Unruhen und politischer Instabilität führt. Wenn wir die liberalen Elemente unserer Demokratie bewahren und die Zerstörung ihrer Grundlagen nicht populistischen Kräften ausgesetzt sehen wollen, verpflichtet die aktuelle KI-getriebene Revolution Gesellschaften dazu, kapitalistische Grundprinzipien selbst zu überdenken und sie in ein gerechteres und nachhaltigeres System einzuhegen – solange wir politisch dazu noch in der Lage sind.

Wenn sich Demokratien dieser Herausforderung nicht stellen und Politiker es versäumen, grundlegende Prinzipien der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und sozialen Stabilität neu zu definieren, werden die Schatten der Vergangenheit zu Monstern der Gegenwart. Wirtschaftliche Ungleichheit, populistische Wut und soziale Fragmentierung werden sich beschleunigen und nicht nur den gesellschaftlichen Frieden, sondern auch das Überleben der liberalen Demokratie selbst existenziell infrage stellen.

Die Wahl ist klar: Entweder stellen wir uns den Herausforderungen, nehmen die Transformation in die Hand und gestalten unsere Zukunft gemeinsam, oder wir riskieren es, von Kräften überwältigt zu werden, die sich jeder demo­kratischen Kontrolle entzogen haben.


Aus dem Englischen von Martin Bialecki

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, November 2025, S. 48-52

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Julian Müller-Kaler ist Direktor des Strategic Foresight Hub im Executive Office des Stimson Center in Washington D.C. und leitet dort die globale Trendvorausschau.