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26. Aug. 2016

Zurück in die Zukunft

Die Moderne ist der Abschied von allen Gewissheiten. Nur nicht der Freiheit

Europa rennt rückwärts – und bleibt selbst dabei mal ­wieder auf halbem Weg stehen. Dabei wäre es gut, noch ein bisschen weiter bis zu den Ursprüngen der Aufklärung und Moderne zu laufen. Denn dort liegen die wirklich richtigen Ideen für morgen. Ein Plädoyer für mehr Analyse und weniger Bauchgefühl, damit wir unsere Werte bewahren.

Es ist gar nicht so lange her, da feierte sich Europa noch. Nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges herrschten überall Aufbruchstimmung, Optimismus und eine nie dagewesene Offenheit für Neues. Plötzlich schien alles möglich. Dass die amerikanische National Science Foundation 1990 dann das Internet über die Universitäten hinaus für die Allgemeinheit öffnete, ab 1993 auch für eine kommerzielle Nutzung, trug zu diesem neuen Schwung übrigens ganz maßgeblich bei: Man hoffte, dass Menschen, die grenzenlos miteinander kommunizieren, sich informieren und Geschäfte abwickeln können, auch einen besseren, friedvolleren Umgang miteinander pflegen. Der Weltfrieden schien nur einen Klick entfernt. Das Internet brachte die Welt ins Wohnzimmer, und die EU-Erweiterungen 1995 und 2004 unsere Nachbarn noch näher zu uns. Für die Menschen in Estland, Lettland und Litauen, in Polen, Ungarn, Slowenien, Tschechien und der Slowakei bedeutete die EU-Erweiterung 2004 nicht weniger als die Möglichkeit, ihr Leben endlich nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Statt einem von oben verordneten Wir war nun Selbstbestimmung angesagt. Statt von oben verordneter Fünfjahrespläne Freiheit.

Das sind wahrlich keine Kleinigkeiten. Die Welt war weit geworden, und wie durch ein offenes Fenster strömte frische Luft ins alte Europa. Voller Neugier und mit einer gewissen Unbefangenheit ausgestattet, machten sich die Menschen auf, um miteinander ein besseres Morgen zu schaffen, ein friedliches und freundliches, ein offenes, ja liberales Europa sollte entstehen. Das waren die guten alten Zeiten. Die zweite Moderne hatte begonnen, endlich sollten die Verheißungen der Aufklärung eingelöst werden.

Und heute? Heute rennt Europa rückwärts, zurück zu altem Protektionismus und längst überwunden geglaubter Lagerrhetorik. Heute gilt in Polen ­Kritik an der Regierung wieder als Verrat – für den ehemaligen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski steckt er den Kritikern gar „in den Genen“. Heute werden im Ungarn Viktor Orbáns unliebsame Journalisten an ihrer Arbeit gehindert oder sogar entlassen. Heute kratzt in Frankreich der Front National ganz ungeniert an einer der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union: Mit dem Konzept der „préférence nationale“, der Bevorzugung von Franzosen bei der Arbeitsplatzsuche, stellt sich die Partei ganz klar gegen eines der wichtigsten Fundamente der Europäischen Union, nämlich das Recht aller EU-Bürger, sich in der gesamten EU frei niederzulassen und zu arbeiten. Was nützt sie noch, die theoretische Idee einer EU-Freizügigkeit, wenn die gelebte Praxis eine sein soll, in der französische Arbeitgeber Ausländern nur noch unter erschwerten Bedingungen einen Job anbieten dürfen?
 

Erinnerungslücken

Im Sommer 2016 attestierte der konservative Historiker Paul Nolte Deutschland in einem Gespräch mit dem Züricher Tages-Anzeiger eine „quasi-revolutionäre“ Unruhe, die ihn in ihrer Dramatik an die Weimarer Republik der zwanziger und frühen dreißiger Jahre erinnere. Dieser Vergleich war in der Debatte über die Asylpolitik der Bundesrepublik und die Wahlerfolge der „Alternative für Deutschland“ von vielen und immer wieder gezogen worden – nun kam er auch aus berufenem Munde. Nolte betonte in diesem Gespräch, dass sich die Parallelen zu den zwanziger Jahren nicht nur auf Deutschland beschränken, sondern dass die Demokratien in ganz Europa an Stabilität verlieren – und dass es dennoch einen entscheidenden Unterschied zur Weimarer Zeit gibt: „Diese Instabilität mündet (…) bisher nicht in den offenen Kollaps, nicht einmal in Ländern wie Ungarn oder Polen, sondern höhlt vielmehr die Systeme von innen aus. Doch wie in der ‚Großen Krise der Demokratie‘, wie ich die europäischen zwanziger Jahre gerne nenne, sind demokratische Selbstverständlichkeiten gefährdet oder werden infrage gestellt.“

Wer also zurückblickt und dabei bedauert, dass wir im Vergleich zu den 1990er und 2000er Jahren ganz gehörig an Optimismus, Gestaltungsfreiheit und Liberalität eingebüßt haben, der scheint Recht zu behalten. Das weltoffene und zukunftsfreundliche Europa der Jahrtausendwende ist scheinbar verschwunden, wieder zu einer Utopie geworden.

Aber das ist falsch. Denn dieses eine schöne und friedfertige Europa, dessen Verlust heute so wortreich beklagt wird, gab es in Wirklichkeit gar nicht. Wer die guten alten Zeiten vermisst, hat vergessen, dass allein auf dem Balkan bis 2001 rund 200 000 Menschen getötet und etwa drei Millionen vertrieben wurden. Dass in der frisch wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland unter dem Gejohle und Applaus von Anwohnern Ausländer verfolgt, verprügelt und getötet wurden. Und dass sich rechtskonservative Parteien aus der Schmuddelecke heraus zu relevanten politischen Größen mausern können, ist gewiss keine Spezialität unserer Zeit. Ganz ehrlich: In Europa ging es auch in den so genannten besseren Zeiten vielerorts überhaupt nicht friedlich und weltoffen zu. Was wir derzeit vor uns sehen, sind deshalb keine Trümmer, sondern eher die Reste geplatzter Seifenblasen, in denen sich einst der europäische Traum spiegelte. Es wird Zeit, sich mit der Realität zu beschäftigen – und die besteht in der andauernden Veränderung, einem fließenden Zustand, an den sich unsere Kultur immer noch nicht gewöhnt hat – trotz zahlloser Gelegenheiten.
 

Alles bleibt anders

Wer hierzulande heute Ende Dreißig ist, der hat bewusst das Ende des Kalten Krieges erlebt, die Verbreitung der digitalen Netzwerke, den Aufbruch der Entwicklungs- und Schwellenländer, die Vor- und Nachteile der Globalisierung, den 11. September als wichtigste Wegmarke des internationalen islamistischen Terrors, und der steht gerade fassungslos vor einem völlig überforderten Europa. Kurzum: Unsere Welt hat sich fundamental verändert, und sie verändert sich weiterhin.

Das ist anstrengend, furchteinflößend und unerfreulich, vor allen Dingen aber ganz normal. Das wusste man schon in der Antike – panta rhei, alles fließt – und auch in der aufstrebenden, wohlständigen Konsumgesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen entstand, erkannten die klügeren Köpfe: The times they are a-changin’. Bob Dylans Hymne an die Veränderung stand für den Aufbruch, das Neue, das Bessere. Die zweite Moderne, das Zeitalter der vollständigen Emanzipation und der Selbstbestimmung, pochte mit der Studenten- und Hippiebewegung der sechziger Jahre schon ziemlich laut an die Tür. Die allerklügsten Köpfe aber, allen voran der im Juni 2016 verstorbene amerikanische Zukunftsforscher Alvin Toffler, wussten es noch besser. In seinem in den späten sechziger Jahren geschriebenen Buch „Future Shock“ beschrieb er die Angst und den Schrecken des modernen Menschen vor der Veränderung. „Dieses Buch“, so schrieb er, „zeigt, wie es Menschen ergeht, die von Veränderungen überrumpelt werden. Es handelt davon, wie wir uns an die Zukunft anpassen – oder dies versäumen.“ Echte Gewissheiten gab und gibt es nie. Veränderung ist immer. Besser wäre es also, so Tofflers Rat, wenn wir lernten, mit ihr umzugehen. Das war, nochmals, vor fast 50 Jahren.

Heute weiß das zwar fast jeder, aber weil es an einem Patentrezept fehlt, wird diese Erkenntnis auch weiterhin nicht umgesetzt. Leider gibt es für den richtigen Umgang mit Veränderung keine DIN-Norm. Denn Menschen sind verschieden, und deshalb reagieren sie auch unterschiedlich auf Veränderung. Was dem einen bedrohlich erscheint, findet der andere vielleicht erfrischend, interessant und motivierend. Fest steht: Niemand will zu den Verlierern ge­hören – und deshalb ist der Blick zurück, die „Besinnung“ aufs „Bewährte“ und der „Schutz“ von „Traditionen“, eine ganz normale Reaktion für jeden, der bereits so viel hat, dass ihm das Risiko, etwas davon verlieren zu können, höher scheint als ein möglicher weiterer Zugewinn. Vernünftig ist, wer lieber den Spatz in der Hand füttert, statt nach der Taube auf dem Dach zu schielen. Das Dach ist nur das Risiko wert, wenn man beide Hände frei zum Klettern hat.

Das Gezerre um das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA ist hierfür übrigens ein recht anschauliches Beispiel: Nur in Österreich und in Deutschland scheint die Mehrheit der Bevölkerung reich und zufrieden genug zu sein, um die Idee von TTIP (Transatlantic Trade and Investment ­Partnership) an sich schon abzulehnen, bevor das Abkommen überhaupt fertig verhandelt wurde. In allen anderen EU-Ländern hoffen die Menschen mehrheitlich auf günstigere Preise und bessere Zugänge zum amerikanischen Markt, auf mehr Wachstum und Wohlstand für sich und ihre Kinder. Es ist ironisch, dass ausgerechnet jene, die – zu Recht – ihre liebgewonnenen europäischen Standards schützen wollen, gegen ein Abkommen demonstrieren, mit dem genau diese guten Standards als weltweit gültige Normen etabliert werden könnten. Doch bevor man sich auf das Unbekannte einlässt, bleibt man lieber bei dem, was man hat – selbst, wenn man dadurch den geliebten Ist-Zustand gefährdet. Denn das Bekannte schafft Überblick und suggeriert Sicherheit – eine vermeintliche Zauberformel gegen den drohenden Kontrollverlust in Veränderungszeiten. Das gilt sowohl für die materielle als auch für die physische ­Sicherheit. Beide scheinen bedroht zu sein.

Das Allensbach-Institut hat in einer Umfrage zu den Ängsten der Deutschen festgestellt, dass die Sorge, ganz persönlich durch Kriminalität gefährdet zu sein, seit Jahren auffallend wächst, obwohl die tatsächliche, reale Gefahr statistisch gesehen kaum steigt. Vor fünf Jahren befürchteten nur 26 Prozent der Bevölkerung, einmal Opfer eines Verbrechens werden zu können; heute sind es 51 Prozent. Wer Angst hat und sich bedroht fühlt, zieht sich entweder zurück oder schlägt um sich. Angesichts dieser insgesamt eher diffusen Gefühls- und Sicherheitslage ist es also kein Wunder, wenn für viele Menschen das Leben wieder mehr in den eigenen vier Wänden stattfindet, im idyllischen Garten, mit selbstgekochter Marmelade und überhaupt ganz viel Do-it-yourself – für das gute Gefühl, sich damit ein bisschen unabhängiger zu machen vom großen Weltengeschehen. Man kann dieses Phänomen des Cocoonings, des Einpuppens, wie die Sozialforscher es nennen, auch positiv sehen, als Ausdruck selbstbewusster Bürger werten, die weniger arbeiten müssen, die ihre Individualität leben und ihr Leben freier und ich-bezogener gestalten können als alle Generationen vor ihnen.

Aber diese Konzentration auf das Ich und den engsten Kreis bedeutet heute fast immer auch einen Rückzug aus dem öffentlichen Raum, und dieser Rückzug geschieht nicht in allen Fällen so ganz freiwillig. Denn angesichts der jüngsten Terroranschläge und Amokläufe in Europa ist auf den seither geltenden gesellschaftlichen Konsens, dass man im öffentlichen Raum eben nicht beschimpft, bedroht, betatscht, verprügelt, mit Waffen verletzt oder gar getötet wird, ganz offensichtlich kein Verlass mehr. Das Vertrauen ist weg. Wir gehen nicht mehr arglos davon aus, dass sich all unsere Mitmenschen in unserer Anwesenheit ganz bestimmt und in jeder Situation zivilisiert verhalten werden; völlig egal, was Statistiker dazu sagen. Im Zusammenhang mit Menschenleben erscheinen uns nackte Zahlen ohnehin zynisch – denn jedes ­Opfer ist eines zu viel. Und so denken viele Menschen zumindest ein- bis zweimal über die Notwendigkeit von Wochenendtrips in europäische Hauptstädte nach und stellen den Wert einer Teilnahme an Massenveranstaltungen durchaus kritisch infrage, bevor sie sich – wir lassen uns doch nicht einschüchtern! – auf den Weg machen … obwohl: Zuhause ist es doch eigentlich auch ganz schön. Wir zünden einfach ein paar Kerzen an und machen es uns gemütlich, und das Biedermeier zwinkert uns versöhnlich im Halbdunkel zu. Die Freiheit will aber verteidigt werden, und das lässt sich vom heimischen Wohnzimmer aus nur schwer bewerkstelligen.
 

Bauchgefühl statt Vernunft

Immer öfter schließen wir die Türen und Fenster und bleiben daheim, in unserem Zuhause, in unseren Kreisen, in unserer virtuellen Filterbubble. Was zunächst gemütlich beginnt, endet aber nicht selten in abgestandenem Muff und Dunkelheit. Und wer es sich allzu lange bequem macht, kommt irgendwann auch nicht mehr von seinem Sofa hoch. Diese Bequemlichkeit wirkt sich langfristig auf unser Denken und unser Handeln aus, sie führt zu falschen Ergebnissen, Aberglauben und zum Verlust der eigenen Souveränität. Wer lieber die anderen machen lässt, nur noch tut, was man ihm sagt und alles glaubt, was ihm serviert wird, gibt die Deutungshoheit über sein Leben auf.

Tagtäglich unterliegt die Vernunft dem Bauchgefühl. Vorurteile, Klischees, Plattitüden blühen auf wie Unkraut nach einem warmen Sommerregen und halten sich genauso hartnäckig. Naturwissenschaften sind den meisten viel zu kompliziert – egal, ob es um Impfungen oder Kondensstreifen alias „Chemtrails“ am Himmel geht. Und obwohl es hervorragende Suchmaschinen im Internet gibt, obwohl es nie leichter war, eine Quelle zu überprüfen, ist es offenbar zu viel verlangt, Aussagen zunächst zu verifizieren und erst dann öffentlich weiterzutragen. Diese Gesellschaft plappert munter vor sich hin, aber zu sagen hat sie nur wenig.

Statt besonnener Analyse grassiert die Hysterie. Esoterische Erklärungsmuster und Verschwörungsmythen haben Hochkonjunktur, die Wirtschaft ist böse, Menschenrechte und Gesetze gelten als völlig überbewertet und Toleranz gibt es auch nur noch für die, mit denen man ohnehin einer Meinung ist. Alle anderen sind selbstverständlich Lügner, korrupt oder dumm. Dabei kommt es mitunter zu erstaunlichen Allianzen und Parallelitäten. Auf Anhieb weiß der interessierte Beobachter oft nicht mehr, welches Lager da eigentlich gerade zu ihm spricht. Und genau genommen ist es auch völlig egal.

Fast möchte man glauben, wir wären nicht nur auf dem Weg zurück in die dreißiger Jahre, wie es Paul Nolte befürchtet, sondern geradewegs ins Mittel­alter. Und wenn im Zusammenhang mit Big Data immer wieder enthusiastisch darauf hingewiesen wird, dass sich die Datenmengen im Internet explosionsartig vermehren und das eine ganz großartige Sache sei, weil es zu noch mehr Wissen führe, so muss schon auch die Frage gestellt werden, worüber man da eigentlich redet.

Der Journalist Lenz Jacobsen beschreibt in einem Artikel auf ZEIT Online sehr eindrücklich, wie einfach heute falsche Informationen in die Welt gesetzt werden können: „Im Netz verbreiten sich die lautesten, emotionalsten Beiträge am schnellsten, und zwar unabhängig davon, ob ihre Aussage stimmt. Dabei steht jeder Post für sich allein, und ob seine Aussage anderswo widerlegt wurde, ist egal, weil es das Publikum nicht erreicht.“ Er stellt fest, dass das Zeitalter der Fakten vorbei sei – dies ist auch der Titel seines Essays – und schließt sich den Feststellungen der Publizisten Jill Lepore und Will Davies an, die in ihren Beiträgen das „Zeitalter der Daten“ ausrufen. Daten, so schreibt Jacobsen, „unterscheiden sich von Fakten dadurch, dass sie sowohl richtig als auch falsch sein können. Diese Daten schwirren durchs Netz. Sie werden nicht mehr nach einheitlichen Standards überprüft, sondern von Computern gesammelt und verfügbar gemacht. Den Computern ist egal, was ihre Daten über die Realität aussagen – und ihren Benutzern, also uns, mittlerweile auch.“ Daten können alles sein: Bilder von niedlichen Tierkindern, Schummeltipps für Pokémon-Go, Online-Dating-Profile, Mordaufrufe und wirre Pamphlete über die Weisen von Zion. Mit Wissen hat all das aber nichts zu tun.

Kann bitte mal jemand das Licht anmachen?

So segensreich die Erfindung des Internets also auch ist – es verbindet die Menschen nicht nur im Konstruktiven, sondern bietet ihnen auch einen Platz für jede Menge dummes Zeug, für Frust und Aggression. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ein Werkzeug ist niemals schuld daran, wenn es nicht umsichtig benutzt wird. Aber die Blogs, Twitter- und Facebook-Profile vieler Menschen, ihre Postings und Kommentare lassen sehr tiefe Einblicke in die Köpfe und Seelenleben ihrer Verfasser zu. Natürlich finden die dazugehörigen Konflikte vor allem virtuell statt, aber sie haben oft genug auch in der echten Welt Konsequenzen; weshalb die gedankliche Trennung von virtueller und echter Realität nicht nur nicht sinnvoll, sondern sogar gefährlich ist, weil sie zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Verhältnisse führt.

Wer sich in dieser völlig verrückten, hochkomplexen, unübersichtlichen Welt wieder ein bisschen besser auskennen will, wem also der Sinn nach ­einer Rolle rückwärts in die gute alte Zeit steht, der sollte kräftig Anlauf nehmen und aufs 18. Jahrhundert zusteuern. Das ist jene Zeit, die dem finsteren Mittelalter folgte, in der sich einige Menschen auf die Suche nach etwas mehr Licht im Dunkel machten. Ihre Idee, alles, was uns davon abhält, ein besseres Leben zu führen, durch Nachdenken und die Bewertung von Fakten, durch Rationalität und schlüssige Argumente aus dem Weg zu räumen, scheint rückblickend nichts Besonderes zu sein. Tatsächlich aber bedeutete sie einen radikalen Bruch mit der bis dahin vorherrschenden Herangehensweise, die Probleme eher durch Brutalität, Willkür und Körperlichkeit beiseite schaffte. Mit der Hinwendung zur Vernunft schaffte die Aufklärung, das Enlightenment, wie sie im Englischen so treffend genannt wird, genau jene Werte, die wir heute als westlich und demokratisch bezeichnen, und die heute in Gefahr sind – nicht nur durch Angriffe von außen, sondern auch durch Nachlässigkeiten im Inneren.

Der kühle, analytische und vorurteilsfreie Blick auf die Welt ist die Voraussetzung für alles Gute, was uns seither widerfahren ist: Naturwissenschaften und Freude am Erkenntnisgewinn. Wissenwollen statt Glauben und trotzdem religiöse Toleranz. Naturrecht statt Willkür und Unterdrückung. Bürgerrechte, Menschenrechte, mehr persönliche Handlungsfreiheiten. All das sind wichtige zivilisatorische Errungenschaften, die uns heute so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie nicht mehr verteidigen. Außerdem nerven sie uns ja im Alltag auch. Sie stören unsere Bequemlichkeit gewaltig. Denn sie verlangen von uns, unseren Gefühlen und Instinkten ja gerade nicht zu folgen, sondern beherrscht innezuhalten, zu analysieren und nachzudenken. Es waren Karl Marx und Friedrich Engels, die in ihrem Bestseller „Das Kommunistische Manifest“ ein Loblied auf Moderne, Bürgertum und kühle Aufklärung sangen: „Die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ Ein Fortschritt zweifellos in einer Welt, die bis dahin von Glaube, Gefühl und Schicksal bestimmt war.

Kühle Nüchternheit erfordert weitaus mehr Bemühen, als einfach mal loszuschreien und draufzuhauen oder davonzurennen. Im Grunde ist das rationale, vernünftige Verhalten wider die menschliche Natur. Es kostet deshalb Überwindung und gelingt auch nicht immer. Vor allem in Schock- und Angstsituationen schaltet der menschliche Körper auf Autopilot. Dieser Autopilot ist überlebenswichtig, ohne die so genannten Urteilsheuristiken kämen wir im Alltag nicht vom Fleck. Automatische, unbewusste Denkprozesse erlauben uns, tagtäglich eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen, ohne vorher mühsam Alternativen zu suchen und abzuwägen. Wir verlassen uns auf unsere Erfahrungen und fahren damit meistens ja auch ganz gut. Aber auch die vielgepriesene Intuition hat ihre Schattenseiten.

So schlug etwa im Fall des Münchner Amoklaufs vom Juli 2016 bei vielen, die von diesem schrecklichen Ereignis erfuhren, zunächst ein automatisches Denkmuster zu, das in der Kognitionspsychologie als Verfügbarkeitsheuristik bezeichnet wird. Weil in der akuten Situation ohne gesicherte Erkenntnisse die Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines islamistisch-terroristischen Hintergrunds nicht ohne Weiteres beantwortet werden konnte, wurde sie in den Köpfen dieser Beobachter durch die viel einfachere Frage ersetzt, wie leicht sie sich an ein vergleichbares Beispiel erinnern konnten. Die Nerven lagen blank, denn in den beiden Wochen zuvor hatte es sowohl in Würzburg als auch in Nizza Anschläge gegeben, die beide einen nachgewiesenen Bezug zur Terrorgruppe Islamischer Staat gehabt hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass München sich in diese Reihe von IS-Terroranschlägen einreihen würde, erschien deshalb gerade wegen der zeitlichen Nähe besonders hoch.

Nun macht es aber immer noch einen Unterschied, was man denkt und was man öffentlich behauptet. Aufgeklärte und verantwortungsvolle Menschen treten einen Schritt zurück, atmen tief durch und rufen sich selbst zur Räson: Schau hin, was weißt du, was weißt du nicht? Erst dann äußern sie sich.

Das ist schwer. Es ist schwer, nicht auszuflippen vor Angst – genauso, wie es schwerfällt, abweichende Ansichten auszuhalten, wenn man von der Richtigkeit seiner eigenen Haltung überzeugt ist. Aber anders geht es nicht, wenn wir nicht in einem Chaos aus Spekulationen, Hysterie und Willkür untergehen wollen. Wir alle sollten das daher dringend und bei jeder Gelegenheit üben.
 

Reifeprüfung

Kann man aufgeklärtes Verhalten lernen? Ja, aber ganz sicher nicht, indem man einfach nur auf Erziehung, letztlich also paternalistische und fremdbestimmte Aufsicht, setzt, wie Jean-Jacques Rousseau das vorgesehen hatte. Denn die zentrale Idee der Aufklärung ist die Selbstbestimmung, die das Selbstdenken voraussetzt. Das ist der Kern der Moderne. Er beginnt mit den Zweifeln, die René Descartes als „der Weisheit Anfang“ definiert, und der Kreis schließt sich mit der Definition Immanuel Kants, die bis heute kein bisschen an Präzision und Lebenstauglichkeit verloren hat: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Diese Formel wendet sich gegen jede Fremdbestimmung, seien es alte oder neue Ideologien, aber auch gegen religiöse Dogmen. Wer selber denkt, mag sich zum einen wie zum anderen gelegentlich entscheiden; aber er kann sich jederzeit auch wieder davon verabschieden. Selber denken heißt, sich eigenverantwortlich in den Möglichkeiten der Welt zurechtzufinden. Die Moderne wollte nie etwas anderes als das: die Mittel und die Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, unter denen die Menschen frei sind, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Das ist ein ungeheures Projekt, und bis heute für die, die es stemmen wollen, ebenso eine Zumutung wie für jene, die das – zahlreich – zu verhindern suchen.
 

Zumutungen der Freiheit

Dass sich das Gemeinwohl wirklich durch im Wortsinn vernünftige Beiträge einer kritischen Öffentlichkeit verhandeln und gestalten lässt, wird auch heute immer wieder in Zweifel gezogen. Das Ergebnis der Brexit-Abstimmung 2016 beispielsweise wurde hierzulande massiv kritisiert: Es schade den Briten, die Bevölkerung habe falsch gewählt, die Alten den Jungen die Zukunft auf ewig versaut und überhaupt habe doch ein viel zu großer Teil der Wähler gar nicht kapiert, worum es eigentlich ging. Wer nicht meiner Meinung ist, ist dumm. Das äußerst knappe Ergebnis von gerade einmal 51,9 Prozent für den Ausstieg aus der Europäischen Union kam jedenfalls allen Gegnern von Volksabstimmungen sehr gelegen. Da sieht man es doch wieder mal, hieß es, die Idee der direkten De­mokratie ist ja ganz schön und gut, aber die Leute sind halt einfach noch nicht reif dafür. Die können das nicht. Und vielleicht stimmt das sogar.

Anlässlich der Zusammenkunft des Europäischen Forum Alpbach, das sich im Sommer 2016 dem Thema „Neue Aufklärung“ verschrieben hatte, holte der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Leitessay die Kant’sche Definition der Aufklärung aus gegebenem Anlass nochmals nach vorn: „Die neue selbstverschuldete Unmündigkeit angesichts eines paternalistisch fürsorglichen Staates, der durch sanften Druck seinen Bürgern das gute Leben beibringt, lässt das große Ziel der Moderne, die Entfaltung von Freiheit, in einem seltsam schrägen Licht erscheinen.“

Darin findet sich auch der Geist der Achtundsechziger wieder, die als Kämpfer für die Selbstbestimmung begannen, um sehr bald – im berühmt-berüchtigten Marsch durch die Institutionen – Geschmack an der Repräsentation von Macht zu finden. Sie und ihre Erben bieten sich als Ersatz für die Kant’sche Befreiungs­formel an. Liessmann schreibt: „Die Vormünder, von denen Kant den mündigen Menschen befreit wissen wollte, heißen heute Berater, Coaches, Therapeuten und immer öfter ist es der paternalistische Staat selbst, der durch Regeln, Hinweise, Verbote für das richtige, gesunde und glückliche Leben seiner unmündigen, aber bequemen Bürger sorgt. Andere denken für uns.“ An der Tatsache, dass sich die Briten, wenngleich knapp und warum auch immer, mehrheitlich so entschieden haben, wie das Wahlergebnis zeigt, ändert das alles aber nichts. Die Zumutungen der Moderne sind die Zumutungen der Freiheit – und das sind immer die Ergebnisse der anderen. Ob uns diese gefallen, steht auf einem anderen Blatt. Die zentrale Arbeit, die wir heute leisten müssen, besteht, so der Münchener Soziologe Armin Nassehi, darin, „andere und anderes auszuhalten“.

Ist das ein Endbefund? Nein, aber eine zutreffende Beschreibung des Status quo, die auch ohne Terrorattacken und digitale Transformation ihre Gültigkeit hätte. Die Moderne ist der Abschied von allen Gewissheiten, mit Ausnahme einer einzigen: der Freiheit – unserer Freiheit und der Freiheit aller anderen. Sie darf niemals zur Disposition stehen. Doch genau das passiert in diesen Zeiten, in denen das Bauchgefühl mehr zu sagen hat als die kühle Analyse.

Aber: Wer Ruhe will, muss zunächst selbst einmal ruhig bleiben. Und wer unsere westlichen Werte schützen will, der darf sie auch selbst nicht preis­geben. „Der Zweck der Freiheit“, schrieb der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek im Jahr 1961, „ist, die Möglichkeit von Entwicklungen zu schaffen, die wir nicht voraussagen können.“ Was wir durch eine Beschränkung der Freiheit verlieren würden, könnten wir deshalb niemals wissen – möglicherweise nur ein wenig, möglicherweise unser Leben. Und von Hayek stellte fest: Wenn „die Entscheidung zwischen Freiheit und Zwang als eine Zweckmäßigkeitsfrage behandelt wird, die in jedem Einzelfall besonders zu entscheiden ist, wird die Freiheit fast immer den kürzeren ziehen“. Ihre Verteidigung müsse daher „,notwendig unbeugsam, dogmatisch und doktrinär sein“ und dürfe „keine Zugeständnisse an Zweckmäßigkeitserwägungen machen“.

Von Hayek wusste, dass die notwendige Offenheit und Toleranz der Aufklärung zu ihrer eigenen Abschaffung beitragen können, wenn diese eine rote Linie nicht gezogen wird. Die Freiheit des Einzelnen darf nicht verhandelbar sein, und der vermeintlich gute Zweck niemals die Mittel heiligen. Halten wir uns also daran. Bewahren wir unsere Werte, indem wir sie selbst leben. Auch wenn es verdammt schwerfällt. Aber nur so kann die Zukunft bald wieder heller werden, und der Blick nach vorne wird attraktiver als der Blick zurück.

Katharina Lotter ist Wirtschaftsjuristin und arbeitet als freie Journalistin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2016, S. 44-53

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