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01. März 2015

Ein Krieg gegen Vielfalt

Warum die Unterdrückung von Frauen mehr ist als ein Randproblem

Die Unterdrückung von Frauen gehört von jeher zum Geschäftsmodell rückständiger Gesellschaften. Und das unabhängig der jeweiligen Kultur, Tradition oder Religion und selbst da, wo es nicht einmal nennenswerte Konflikte gibt. Damit dort alles so bleiben kann, wie es ist, wird Frauen der Krieg erklärt – und damit auch dem Fortschritt.

Am 10. Januar 2015 explodierte auf einem Markt in Maiduguri im Norden Nigerias ein Sprengsatz. 20 Menschen wurden dabei getötet, 18 weitere teilweise schwer verletzt. Wieder einmal haben also irgendwelche Irren eine Handvoll argloser Menschen in die Luft gesprengt. Bestimmt junge Männer, denkt sich der durchschnittliche Nachrichtenleser, bestimmt wieder Selbstmordattentäter, denen das Leben im Hier und Jetzt offenbar so wenig bietet, dass sie es lieber beenden – für „eine gute Sache“, für einen Platz im Paradies, um ihrer Familie Ehre zu machen und sie finanziell abzusichern. Für die Hinterbliebenen von Märtyrern wird gut gesorgt.

Dieses Attentat aber ist anders. Da war nämlich kein wütender junger Mann, der eine Bombe bei sich trug und zündete. Augenzeugen berichten, es sei ein etwa zehn Jahre altes Mädchen gewesen.

In den vergangenen Monaten wurden in Nigeria mehrere Sprengstoffattentate von Mädchen und jungen Frauen ausgeführt – so heißt es in den Zeitungen, und es ließe sich wohl trefflich darüber streiten, ob „ausgeführt“ den Kern der Sache trifft. Wahrscheinlicher ist, dass diese Mädchen nicht freiwillig mit Sprengstoff am Körper über belebte Märkte spazierten. Sie wurden zu Werkzeugen degradiert, es ist sogar fraglich, ob sie ihre Bomben selbst zündeten. Die Ausführenden, das sind in jedem Fall ganz andere.

Eine, die das ganz genau weiß, ist Zahara’u Babangida. Die 13-Jährige trug auch eine Bombe am Körper, nur einen Monat vor dem Attentat in Maiduguri, am 10. Dezember 2014. Gemeinsam mit zwei weiteren Mädchen hatte man sie auf einen Markt im nigerianischen Kano gebracht, und nachdem die Sprengsätze der beiden anderen detoniert waren, nutzte sie das entstandene Chaos zur Flucht. Mit einem Rikscha-Taxi, so erzählt sie später Journalisten, ließ sie sich in ein Krankenhaus bringen, um ihre Verletzung am Bein behandeln zu lassen. Als ihr Fahrer noch einmal zurückkam und sie fragte, ob die Metallobjekte, die er in seinem Wagen gefunden habe, ihr gehörten, da bejahte sie und wurde umgehend verhaftet.

Zahara’u berichtete, dass sie zuvor von ihrem Vater in einen Wald in Bauchi zu einer Gruppe gebracht worden sei, die behauptete, für Gott zu arbeiten. Der Anführer habe ihr erklärt, dass sie Gott ihr Leben geben solle, um im Paradies leben zu dürfen. Als sie sich nur wenig begeistert zeigte, holte sie der Anführer zu einem tiefen Loch und drohte ihr, sie und die anderen Mädchen lebendig darin zu begraben, wenn sie nicht mitspielen würden. Ihr eigener Vater habe versucht, sie davon zu überzeugen, dass der Tod als Märtyrerin eine gute Sache sei. Sie würde damit den Weg für ihn freimachen, und er könne ihr bald Gesellschaft leisten. Zahara’u entschied sich, mitzuspielen, zum Schein, und hoffte, rechtzeitig flüchten zu können.

Boko Haram, eine islamistische Terrorgruppe im Norden Nigerias, setzt auf Mädchen und Frauen in diesem Krieg gegen alle und alles, was nicht ihrer Vorstellung vom richtigen Glauben entspricht. Kleinen Mädchen traut niemand etwas Böses zu. Weil sie verschleiert sind, sieht man ihnen ihre Angst nicht an. Das macht sie zu idealen Waffen: Bestückt mit Sprengstoff werden sie zu unauffälligen, lebenden Bomben. Auch als unfreiwillige „Bräute“ und „Konkubinen“ werden Mädchen und Frauen dazu gezwungen, ihren Beitrag in diesem Krieg zu leisten. Männer schließen sich der Gruppe umso lieber an, wenn sie sich damit einen Zugang zu Frauen verschaffen können, der ihnen sonst vielleicht verwehrt bliebe. Die Schülerinnen, deren Entführung im April 2014 zu der weltweiten Kampagne „Bring back our girls“ führte, sollen mittlerweile größtenteils mit Kämpfern der Boko Haram zwangsverheiratet worden sein. Die nigerianische Regierung berichtet von einem Video, das Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau am 31. Oktober 2014 veröffentlicht haben soll. Eine seiner Botschaften: „Das Thema Mädchen gehört schon lange der Vergangenheit an, weil ich sie längst verheiratet habe.“

Zwangsehen sind in der Regel keine Vernunftehen, in denen sich zwei Menschen in einem halbwegs einvernehmlichen Nebeneinander irgendwie arrangieren. Jede Verheiratung, der ein zwangsweiser Vollzug der Ehe folgt, ist eine Vergewaltigung. Und die Weitergabe eines Menschen gegen Geld oder andere Vorteile ist Sklavenhandel.

Den praktiziert offenbar auch der Islamische Staat (IS). Amnesty International berichtet, dass in den vom IS kontrollierten Gebieten „Hunderte, wenn nicht Tausende“ jesidische Männer, Frauen und Kinder in Lagern festgehalten werden. Mädchen und Frauen werden laut übereinstimmenden Berichten mehrerer Menschenrechtsorganisationen systematisch von ihren Familien getrennt und sexuell missbraucht, verkauft, verschenkt oder verheiratet. Damit dabei alles seine Ordnung hat, kursiert in Syrien und im Irak eine Flugschrift, „Fragen und Antworten zum Umgang mit Gefangenen und Sklaven“. Darin wird, teils unter Berufung auf angebliche islamische Lehrmeinungen, erklärt, was erlaubt sei und was nicht. Im Umgang mit nichtmuslimischen Frauen ist demnach alles möglich. Sie sind Eigentum, die üblichen Regeln der Sexualmoral gelten für sie nicht. Ein Mädchen, so berichtet Human Rights Watch, bekommt man offenbar schon für 1000 US-Dollar.

Wer nun glaubt, Gewalt gegen Frauen sei in erster Linie ein Problem islamistischer Terrorgruppen oder islamischer Gesellschaften, der irrt. Vergewaltigungen finden auf allen Kontinenten statt. Sie passieren nicht „nur einfach so“, wenn ein Mann – schlimm genug! – im Suff das Nein einer Frau nicht akzeptieren will, sondern sie werden auch gezielt als Waffe eingesetzt, um den politischen Gegner einzuschüchtern. Die Vereinten Nationen berichten, dass im Kongo seit Beginn des bewaffneten Konflikts geschätzte 200 000 Frauen Opfer sexualisierter Gewalt geworden seien. Während des Völkermords in Ruanda sollen es zwischen 250 000 und 500 000 gewesen sein. Und im Bosnien der neunziger Jahre wurden zwischen 20 000 und 50 000 Frauen, überwiegend Musliminnen, von serbischen Soldaten systematisch verschleppt, gefangen gehalten und vergewaltigt.

Eine Frage der Kultur

Gewalt gegen Frauen ist nicht nur eine religiöse oder politische Frage, sondern vor allem eine kulturelle. All die Widerwärtigkeiten, denen Mädchen und Frauen ausgesetzt sind – Vergewaltigungen, Säureattacken, Zwangsehen, Ehrenmorde, Beschneidung, um nur die bekanntesten zu nennen –, passieren auch dort, wo es nicht einmal nennenswerte Konflikte, also Ausnahmesituationen gibt, die Gewalt zwar nicht rechtfertigen, aber möglicherweise erklären könnten. In vielen Gesellschaften ist es einfach Tradition und gehört vielleicht sogar zum guten Ton, so und nicht anders mit Mädchen und Frauen umzu­gehen. Diese Gewalt ist eine institutionalisierte Gewalt, von der Art, wie sie auch in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein üblich war, als Kinder von ihren Eltern, Lehrern und Nachbarn einfach geohrfeigt wurden, wenn sie sich nicht wohlverhielten – oder, wie noch in den sechziger Jahren, sie ihr Haar länger wachsen ließen. Den wenigsten ist bewusst, dass in Deutschland erst im Jahr 1997 eine Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Doch hier – wie auch sonst im Westen – ist heute körperliche Gewalt in der Öffentlichkeit und der Privatsphäre verpönt. In weiten Teilen der Welt ist das nach wie vor anders.

Deutlich wird die traditionelle, kulturelle Komponente der Gewalt besonders bei der Beschneidung von Frauen. Weil es „immer schon so war“, wird es auch weiterhin gemacht. Erwähnt wird die Beschneidung von Mädchen im heiratsfähigen Alter bereits auf einem griechischen Papyrus aus dem Jahr 163 v. Chr., der im Londoner British Museum aufbewahrt wird. Es handelt sich also vermutlich um ein Ritual aus vorchristlicher und vorislamischer Zeit. Wo alle Frauen beschnitten sind, entwickelt sich ungeachtet der damit verbundenen Schmerzen und Einschränkungen eine entsprechende Vorstellung davon, was normal und ästhetisch ist und was nicht. Unbeschnittene Frauen gelten als nicht schön. Wer nicht schön ist und auch sonst nicht viel zu bieten hat, wird nicht geheiratet. Je abhängiger aber Frauen davon sind, dass sie versorgt werden, desto mehr bemühen sich ihre Familien und sie selbst um eine Erhöhung ihrer Heiratsfähigkeit.

Weibliche Genitalverstümmelung dient der sexuellen Kontrolle von Frauen, vorgeblich dem „Schutz vor unehrenhaftem Verhalten“. Sie macht den Geschlechtsverkehr schmerzhaft und erhöht die Gefahr von Komplikationen bei Geburten.

An einer Schule in Schweden entdeckten Ärzte im Rahmen eines Pilotprojekts 2014 Genitalverstümmelungen bei einer kompletten Mädchenklasse mit Migrationsgeschichte. Alle 30 Schülerinnen seien beschnitten, berichtete die Zeitung Norrköpings Tidningar. 28 von ihnen stammten aus Somalia. Die äußeren Genitalien dieser Mädchen waren komplett entfernt und bis auf eine kleine Öffnung zum Ablassen des Urins gänzlich zugenäht worden.

Unvergessen sind auch die Nachrichten über Gruppenvergewaltigungen im demokratischen Indien, dem Land der entspannten Yogis und der kitschig-bunten Bollywood-Filme. Alle 22 Minuten, so die offiziellen Zahlen der indischen Regierung, wird in dem riesigen Staat mit über 1,2 Milliarden Menschen eine Frau vergewaltigt. Trotz verschärfter Abtreibungsgesetze wurden in den vergangenen 30 Jahren außerdem in Indien nach Angaben des kanadischen Centre for Global Health Research zwölf Millionen weibliche Föten abgetrieben. Töchter sind dort wie in so vielen anderen Ländern kein Grund zur Freude, sondern eine Last. Laut der Volkszählung aus dem Jahr 2011 gibt es in Indien deshalb rund 37 Millionen mehr Männer als Frauen. Frauen werden erstochen, erschossen, vergiftet oder bei lebendigem Leib verbrannt, wenn ihre Ehemänner und deren Familien mit der eingebrachten Mitgift nicht zufrieden sind. Offiziell darf in Indien eine Mitgift schon seit 1961 nicht mehr eingefordert werden. Weil jedoch unverheiratete Töchter eine Schande sind, zahlen ihre Familien trotzdem, bisweilen verschulden sie sich sogar. Natürlich sind auch Brautverbrennungen nicht erlaubt. Die Zahl der vermeintlichen Selbstmorde und Haushaltsunfälle von Frauen aber beeindruckt: Etwa jede Stunde stirbt eine Frau, weil ihre Eltern den materiellen Forderungen des Schwiegersohns nicht nachkommen können. Scheidungen sind in Indien ein Makel, eine neue Heirat nicht. Und so brechen in vielen Küchen tödliche Feuer aus. Kerosin sei billig und leicht zu bekommen, schreibt die amerikanisch-pakistanische Rechtsanwältin und Autorin Aisha Saeed, und die traditionellen Saris der indischen Frauen seien leicht entflammbar.

Kraft- und Machtverhältnisse

Wo Gewalt ausgeübt wird, gibt es immer Sieger und Besiegte, Stärkere und Schwächere. Es ist kein Zufall, dass Frauen als „das schwache Geschlecht“ bezeichnet werden, und auch wenn das bei uns höchstens noch mit einem Augenzwinkern gesagt werden darf, so ist doch etwas Wahres dran: Frauen verfügen im Durchschnitt über eine geringere körperliche Kraft als Männer. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hielt deshalb 1967 in ihrer Empfehlung 128 fest, dass beim Einsatz erwachsener Arbeitnehmerinnen bei der Beförderung von Traglasten „das höchtzulässige Gewicht dieser Lasten erheblich niedriger (...) als das für erwachsene männliche Arbeitnehmer“ sein solle. Diese Empfehlung gilt bis heute. Eine Tabelle des Arbeitsmediziners Theodor Hettinger, die in Deutschland regelmäßig für die individuelle Beurteilung zumutbarer Lasten herangezogen wird, sieht für Frauen zwischen 20 und 45 Jahren ein Gewicht von höchstens 15 Kilo vor, während Männern im selben Alter bis zu 55 Kilo zugemutet werden könnten.

Kraft ist von jeher das Synonym von Macht. Der englische Begriff der power wird gleichermaßen mit Kraft und Macht übersetzt, für die französische force gilt das ebenso. Auch in anderen Sprachen teilen sich körperliche Kraft und gesellschaftliche Macht denselben Begriff. In Gesellschaften, in denen Menschen noch um die Befriedigung ihrer fundamentalen physiologischen Bedürfnisse kämpfen, in denen es also schlicht ums Überleben geht, da finden auch die Auseinandersetzungen darüber auf einer fundamentalen, physiologischen Ebene statt. Körperliche Überlegenheit ist der Schlüssel zum Erfolg. Wer schneller und stärker ist, gewinnt. Je ärmer Gesellschaften sind, desto brutaler geht es zu.

Was aber ist mit Gesellschaften, in denen es schon um mehr geht? Spielt da der physiologische Unterschied noch eine Rolle? Man sollte meinen, dass irgendwann der Kopf die Muskeln schlagen dürfte und Frauen spätestens dann mit denselben Voraussetzungen in den Ring steigen könnten wie die Männer.

Tatsächlich spielen aber auch in weiter entwickelten, etwas reicheren Gesellschaften Traditionen noch immer eine große Rolle. Dass in Indien die Abtreibung von Mädchen vor allem in den wohlhabenden Gesellschaftsschichten stattfindet, steht nur scheinbar im Widerspruch zu der These, dass Wohlstand die Voraussetzung für einen zivilisierten, friedlichen Umgang der Menschen miteinander sei. Pränatale Diagnostik kostet Geld, eine Abtreibung auch. Die Unterschicht kann sich das nicht leisten. Die Mittel- und Oberschicht pflegt vielleicht einen in Teilen modern anmutenden Lebensstil, ist aber dennoch auch dem alten Denken weiterhin verpflichtet. Wo über Jahrtausende das Gesetz des Stärkeren galt, können die daraus entstandenen Bräuche, Ansichten und Wertvorstellungen nur schwer innerhalb weniger Generationen beseitigt werden.

Vernunft und Köpfchen wären gefragt. Mädchen und Frauen haben in vielen Ländern aber noch immer einen gehörigen Aufholbedarf, um nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich gleichberechtigt mit dem anderen Geschlecht zu sein. „Sie heiratet ja sowieso“, das ist ein Satz, den sicher noch manche Frau aus der Generation unserer Mütter oder Großmütter gehört hat, als es um den Besuch einer weiterführenden Schule ging. Frauen können ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter auch ohne Alphabetisierung gerecht werden. Ohne Bildung bleiben sie aber nicht nur körperlich, sondern auch intellektuell unterlegen.

Wer weniger Kraft und weniger Wissen hat, der ist abhängig. Wer seine Rechte nicht kennt, fordert sie nicht ein. Wer keinerlei Vorbilder in seinem Umfeld hat, strebt nicht nach Höherem. Wo alle eine ähnliche Biografie haben, ist ein Ausbruch aus der Konvention unwahrscheinlich. Wer von klein auf gelernt hat, dass er nichts wert ist, der nimmt sein Leben auch als Erwachsener nicht in die Hand. Es sind die Traditionen, es ist das Bewährte, das Menschen davon abhält, dort zu sein, wo sie bereits sein könnten.

In den Städten aufstrebender Länder wie etwa Indien, Brasilien, Russland, Ungarn und der Türkei wächst eine neue, selbstbewusste und mit dem Rest der Welt gut vernetzte Generation heran. Diese jungen Männer und Frauen verfügen über mehr Informationen und Zugänge als die Jugend in früheren Zeiten, und sie stellen daher die traditionelle Rollenverteilung anders in Frage. Frauen sorgen für sich selbst und leben selbstbestimmter. Sie gehen arbeiten, tanzen auf Partys, trinken Alkohol, rauchen, haben Sex vor der Ehe und tragen, was ihnen gefällt. Sie verstoßen damit gegen bewährte Regeln des Zusammenlebens und stellen tradierte Machtpositionen in Frage. Von Neuerungen profitieren nie alle gleichermaßen. Einfluss, Vorteile, liebgewonnene Angewohnheiten und Bequemlichkeiten – keiner verzichtet gerne und freiwillig auf seine Gewohnheitsrechte. Der drohende Verlust dieser Privilegien macht bisweilen aggressiv.

Kampf gegen Aufklärung

Wenn Menschen an der Schwelle zu etwas Neuem stehen, dann stürmen nicht alle begeistert los. Viele tasten sich nur langsam voran und wieder anderen genügt es völlig, dort zu bleiben, wo sie sind. Egal wie Menschen sich angesichts der Veränderung entscheiden, sie werden immer auch Überforderung, Enttäuschung und Irritation erleben. Der Umgang mit diesen unausweichlichen Folgen aller Veränderung entscheidet, ob eine Gesellschaft sich von ihrem Weg abbringen lässt. Versucht man noch mal etwas Neues? Oder geht man lieber zurück zum scheinbar Bewährten, das aber doch nichts anderes ist als das Vertraute, das nicht mehr funktioniert?

Wenn die Taliban Schulen niederbrennen, Schülerinnen mit Säure verletzen und Bildung für Mädchen zur Sünde erklären, dann wollen sie zurück zu dem, was sich für sie bewährt hat. In ihrem Kampf gegen Bildung, Aufklärung und liberales Denken geht es nicht darum, Gott zu gefallen, sondern den Status quo zu erhalten. Der religiöse Begriff der Sünde ist nur Legitimation. Ein höherer Zweck heiligt die Mittel. Sünde ist alles, was den Machthabern gefährlich werden könnte.

2014 wurde von der ungarischen Polizei ein Präventionsvideo gegen sexuelle Gewalt in Auftrag gegeben. Es zeigt tanzende und trinkende Mädchen, von denen eines vergewaltigt zurückbleibt. Das Video endet mit dem Hinweis: „Du kannst etwas dafür, tu etwas dagegen!“ Hier geht es nicht um den Schutz vor Vergewaltigungen, sondern darum, den Opfern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Auch diese Vorgehensweise hat sich bewährt. Denn wo ein Opfer selbst schuld ist, gibt es keinen Täter, mit dem man sich befassen müsste.

Wenn, wie in der Türkei im vergangenen Jahr, der Präsident des Landes öffentlich erklärt, dass der Islam die Rolle der Frau als Mutter besonders betone, dann geht es ihm nur scheinbar darum, den großen Stellenwert von Frauen für die Gesellschaft hervorzuheben. Vielmehr möchte er damit deutlich machen, dass Frauen sich besser auf die bewährten Rollenmodelle besinnen sollten, wenn sie anständig behandelt werden wollen.

Recep Tayyip Erdogan erklärte 2014 in einer Rede vor dem Frauenverband Kadem in Istanbul nicht nur, wie bedeutend die Mütter im Islam sind, sondern auch, dass man Männer und Frauen nicht komplett gleichstellen könne, weil das gegen die Natur sei: „Gib ihr eine Schaufel und lass sie arbeiten? So etwas geht nicht. Das widerspricht ihrer zierlichen Figur.“ Erdogan argumentiert damit wie jemand, für den die Physis noch immer wichtiger ist als der Kopf. Dabei ist die Türkei längst ein erfolgreiches Schwellenland, dem eine gute wirtschaftliche Entwicklung zugetraut wird. Das Innovationsbarometer von General Electric zählt die Türkei und Algerien zu den innovativsten Ländern des Mittleren Ostens. Innovation aber hat nichts mit Muskelkraft zu tun, sondern mit Bildung und Wissen. Schaufeln werden dafür eher selten gebraucht.

War on Women

Der Begriff des „War on Women“, also des „Krieges gegen Frauen“ ist eigentlich ein politischer Kampfbegriff aus den USA. Er wird vor allen Dingen in der Auseinandersetzung um Abtreibung und Verhütung von deren liberalen Befürwortern gegen konservative Gegner eingesetzt. Das scheint, gemessen an der Brutalität der echten Kriege, die im Namen der Kultur und Besitzstandswahrung gegen Frauen in aller Welt geführt werden, eine Übertreibung zu sein. Aber diese Zuspitzung hat auch ihre Berechtigung. Denn sie verweist darauf, worum es im Krieg gegen die Frauen immer geht: Es ist ein Krieg gegen Freiheit und Vielfalt.

Wo Frauen Nachteile haben, werden immer auch Minderheiten unterdrückt – sei es durch eine aggressive Mehrheitsgesellschaft oder durch eine mächtige Elite. Egal, ob es dabei um körperliche oder seelische Gewalt geht, um das Fernhalten von Bildung, Entfaltungs- und Erwerbsmöglichkeiten oder die Verunglimpfung individueller Lebensentwürfe – zuvor ist da immer jemand, der sich die Deutungshoheit darüber genommen hat, was gut ist und was schlecht, was erlaubt sein darf und was nicht. Ohne Vielfalt ist Fortschritt aber nicht machbar. Deshalb kann man den Umgang mit Frauen, ihre Stellung in der Kultur und im Alltagsleben, ihre faktische Gleichberechtigung mit Männern eben nicht von einer aufgeklärten, modernen, demokratischen Gesellschaft trennen. Deren unveräußerlichen Grundrechte sind das Recht auf freie Entscheidung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Fehlt davon nur eines, ist der Frieden noch weit.

Katharina Lotter ist Wirtschaftsjuristin und arbeitet als freie Journalistin.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 8-17

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