Die dunkle Seite der Ökonomie
Das Versagen der politischen Steuerung
In seinem jüngsten Buch richtet der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz einen höchst beunruhigten Blick auf das Gravitationszentrum globaler Macht und konstatiert das völlige Versagen der internationalen politischen Akteure in der Weltwirtschaft. Jürgen Turek stellt das Buch vor und setzt sich mit den Thesen des Verfassers auseinander.
In seinem neuen, brandaktuellen Buch lenkt der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz einen höchst beunruhigten Blick auf das Gravitationszentrum globaler Macht und konstatiert dabei das Versagen der internationalen politischen Akteure in der Weltwirtschaft. Für den führenden Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung zwischen 1993 und 1997 und ehemaligen Chefvolkswirt der Weltbank stellt sich die entscheidende Frage, wie das Zusammenwachsen der Volkswirtschaften im Prozess der Globalisierung politisch legitimiert und effektiver vollzogen werden kann, insbesondere von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF).
Seine Ausgangsthese ist: Die Ideologie freier Märkte und die Interessen der Finanzbranche sowie multinationaler Unternehmen dominieren letztlich alles. Die Politik vermag es demgegenüber nicht, den durch Liberalisierung und Deregulierung forcierten Prozess der ökonomischen Globalisierung zu steuern. Das bedeutet, die Machtzentren verschieben sich in subtiler und weitgehend unsichtbarer Weise von der politischen auf die wirtschaftliche Ebene und auf ihre machtvollen Akteure und Institutionen.
Stiglitz, der heute an der Columbia Universität in New York lehrt, zelebriert eine punktgenaue Analyse, um seine Thesen zu belegen. Für ihn sind Russland, Mittel- und Osteuropa, Asien oder Argentinien Beispiele für die „Flurschäden“ des seit Anfang der neunziger Jahre auf dem Globus wütenden ökonomischen Wirbelsturms namens Globalisierung. Die Entwicklungen in diesen Ländern sind für ihn der fulminante Beweis, dass das Regime der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik auf ganzer Linie versagt habe. Ausgangspunkt ist für Stiglitz die Arroganz der klassischen Nationalökonomie, die immer behauptet habe, dass das angelsächsisch ausgerichtete Instrumentarium der Wirtschaftssteuerung global wirksam sein kann. Ihre zentrale Aussage sei immer gewesen: wenn diese Länder ihr ineffizientes Wirtschaftssystem abschaffen würden, kämen Wohlstand und soziale Stabilität. Insbesondere der IWF lenkte Prozesse über stabilitätspolitische Vorgaben, doch nichts sei geschehen. Im Gegenteil, das Bruttosozialprodukt etwa in Russland sei um 40 Prozent gesunken, die Kinderarmut sei gestiegen, Lebenserwartung und -qualität seien signifikant abgesackt.
Die Politik des IWF und des amerikanischen Finanzministeriums im Kontext der Asien-Krise sind für Stiglitz ein weiterer und deutlicher Beleg dafür, dass das System der internationalen Finanzarchitektur für viele Fehlentwicklungen in den Schwellenländern selbst verantwortlich sei. Indem beide Institutionen die Aufmerksamkeit auf Schwächen der Krisenländer richteten, lenkten sie nicht nur von eigenen Fehlern ab, sondern sie versuchten auch, die Ereignisse zu nutzen, um ihre eigene Agenda voranzubringen. Er bringt das Ergebnis dieser Politik auf die griffige Formel: Der IWF versprach Wohlstand – er brachte Armut.
Neben den Legitimationsschwächen der Finanz- und Wirtschaftspolitik bereiten Stiglitz auch die fehlenden Impulse für eine wirksame Entwicklungspolitik Sorge. Er sieht einen verhängnisvollen Rückzug der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Rezepte der entwickelten OECD-Welt, die aber den besonderen Bedürfnissen unterschiedlich entwickelter Länder niemals gerecht geworden seien.
Den Verfasser wundert es daher nicht, dass sich eine Protestwelle gegen das Regime der internationalen Wirtschafts(un)ordnung formiert. Damit ist er im Übrigen nicht allein: eine wachsende Zahl nicht nur von Chaoten oder Sonderlingen hat den Widerstand gegen die Globalisierung auf ihre Fahnen geschrieben. Und nicht irgendwelche namenlosen Globalisierungskritiker stehen hier an vorderster Front:Die prominenteste Kritik in Form der Nichtregierungsorganisation ATTAC vereint mittlerweile über die Hälfte der französischen Parlamentarier, und eine Anzahl bekannter Namen füllt hier das Parkett. George Soros, der König der Devisenspekulanten, Peter Glotz, Edward Luttwak, Viviane Forrestier, Ulrich Beck oder Benjamin Barber – um nur einige der prominentesten Kritiker mit leisen oder lauten Tönen in der Publizistik zu nennen – bevölkern mittlerweile mit zum Teil sogar zornigem Ton zusätzlich die antiglobalistische Szenerie. Stiglitz reiht sich mit seiner auf praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen beruhenden Analyse dabei in einer äußerst bemerkenswerten Form ein, setzt dabei aber durch Ansatz und Umfang seiner Analyse auch neue Akzente, insbesondere mit Blick auf die Entwicklungsländer. Die sozialen Diskontinuitäten allerorten und die Vernachlässigung der wenig entwickelten Welt werden für ihn zur Herausforderung für ein neues Konzept einer nachhaltigen Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Vor diesem Hintergrund hat Stiglitz ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Dritten Weg zwischen Neoliberalismus und Staatsinterventionismus verfasst, mit dem er die Forderung nach mehr bzw. einer besseren „governance“, einer Reform der internationalen Finanzinstitutionen und einer effektiveren Entwicklungspolitik verknüpft. Es ist das Konzept für eine Globalisierung mit „menschlichem Antlitz“, das den Verfasser unwillkürlich an das in der Versenkung verschwundene Schröder-Blair-Papier und dessen im Grunde guten Absichten denken lässt. Es ist hilfreich, dass eine so prominente Figur wie Joseph Stiglitz hier die Diskussion wieder belebt und sich nicht nur auf die Konstitution der kapitalistisch durchorganisierten westlichen Welt kapriziert, sondern auch das Schicksal der unterentwickelten Welt in sein „Manifest“ für eine bessere und gerechtere Zukunft einbezieht.
Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Siedler: Berlin 2002, 256 S., 19,90 EUR.
Internationale Politik 6, Juni 2002, S. 57 - 58.