Zu spät, zu zaghaft, zu unambitioniert
Wenn Berlin mehr Verantwortung will, muss es mehr in Prävention investieren
Will deutsche Außenpolitik einen relevanten Beitrag zu gerechter Entwicklung und zur Beilegung internationaler Konflikte leisten, muss sie ehrgeiziger und frühzeitig genug agieren. Das sieht man vor allem bei der Krisenprävention sowie der Afrika-Politik. Wichtig ist dabei auch eine verbesserte Koordinierung der beteiligten Bundesministerien.
Deutsche Außenpolitik muss Friedenspolitik sein. Die Präambel des Grundgesetzes verpflichtet uns, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Wie können wir in einer unübersichtlichen und unfriedlichen Welt Frieden schaffen und erhalten? Wie können wir diesen Frieden so gestalten, dass er wirklich nachhaltig und stabil ist, also gewährleistet, dass Menschen mit sozialen Perspektiven und ausreichenden natürlichen Lebensgrundlagen selbstbestimmt leben können?
Dabei muss deutsche Außenpolitik sich in einer eng vernetzten und damit komplexen Welt orientieren: nicht lamentierend, sondern engagiert und empathisch. In Deutschland sowie von seinen internationalen Partnern wird „mehr Verantwortung“ eingefordert. Zu Recht, denn es ist unklar, was das deutsche „level of ambition“ ist. Es fehlt also eine Antwort auf die Frage: Was ist der Anspruch deutscher Außenpolitik?
Dieser Anspruch muss den beachtlichen Möglichkeiten entsprechen, die sich aus Deutschlands Rolle als größtem Land der EU, aus seinen diplomatischen Beziehungen, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner internationalen Glaubwürdigkeit ergeben. Es muss Anspruch deutscher Außenpolitik sein, einen relevanten Beitrag zu leisten, zu gerechter Entwicklung, zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und zur Beilegung von internationalen Konflikten.
Es geht in der Außenpolitik also um weitaus mehr als um die Einhegung akuter Krisen. Frieden kann nur da entstehen, wo Konfliktursachen bearbeitet werden. Nicht nur schlechte Regierungsführung, sondern auch europäische Subventions- und Exportpolitik verhindern die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in vielen ärmeren Ländern. So sehen viele gut ausgebildete Frauen und Männer kaum noch eine Zukunft in ihren Heimatstaaten.
Dazu gehört auch Klimapolitik: Dürren, Überschwemmungen und Erdrutsche als Folgen des Klimawandels treffen viele Länder in Südostasien, im Sahel oder im Pazifik. Neben Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen gibt es deshalb auch eine steigende Zahl von Klimaflüchtlingen.
Deutsche Politik muss sich messen lassen an dem Beitrag, den sie für Frieden leistet. Das gilt umso mehr, als sich die meisten Akteure der außenpolitischen Debatte in Deutschland – zumindest rhetorisch – auf einen Kernbestand an Zielen einigen können. Joachim Gauck fasste sie in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 so zusammen: „Lassen Sie uns also nicht die Augen verschließen, vor Bedrohungen nicht fliehen, sondern standhalten, universelle Werte weder vergessen noch verlassen oder gar verraten, sondern gemeinsam mit Freunden und Partnern zu ihnen stehen, sie glaubwürdig vorleben und sie verteidigen.“
In diesem friedenspolitischen Sinne ist „mehr deutsche Verantwortung“ geboten und gefordert. Denn gerade die jüngere Geschichte ist voll von Beispielen, in denen Deutschland mehr hätte leisten können und müssen, aber zu spät, zu zaghaft und zu unambitioniert gehandelt hat. Dies lässt sich sowohl an der zivilen Konfliktbearbeitung und Krisenprävention als auch an der Afrika-Politik der Bundesregierung illustrieren.
Bessere Krisenprävention
Über Parteigrenzen hinweg sind wir uns einig, dass man Konflikte früh erkennen muss, um zielführend agieren zu können. Die Bundesregierung betont die „besondere Bedeutung“ der Krisenprävention immer wieder, nicht zuletzt in ihrem Koalitionsvertrag. In der Praxis aber kürzt sie Mittel und reagiert nur zaghaft auf Krisenanzeichen. Dazu ein Beispiel: Die alte Regierung Nuri al-Malikis im Irak hat die Sunniten jahrelang ausgegrenzt. Das hat dem IS weit im Vorfeld der aktuellen Krise den Boden bereitet. Schon vor über einem Jahr gelang es den Dschihadisten, große Gebiete in der Provinz Anbar im Westen des Irak zu erobern. Erste Anzeichen, dass der „Islamische Staat“ Öl aus Syrien verkauft, gab es zu dieser Zeit auch schon. Doch damals schwieg die Bundesregierung und blieb tatenlos.
Deutschland verfügt über großes Ansehen in Bagdad, insbesondere weil sich 2003 die damalige rot-grüne Bundesregierung nicht am Krieg gegen den Irak beteiligt hatte. Dieses Kapital hätte Berlin politisch nutzen können, um Ministerpräsident Maliki zu einem versöhnlicheren Umgang mit der sunnitischen Minderheit zu drängen. Doch der Irak war in den Monaten zuvor kaum Thema der deutschen Außenpolitik.
Mehr Verantwortung übernehmen heißt daher früher Verantwortung übernehmen. Der deutschen Außenpolitik fehlt es aber an geeigneten Strukturen und dem politischen Willen, um Konflikte frühzeitig zu erkennen und präventiv zu agieren, nicht nur im Falle des Krieges im Irak. Der Ressortkreis zivile Krisenprävention macht eine gute Arbeit, die aber ohne einen echten institutionellen Unterbau auskommen muss. So werden Warnmeldungen auf den Entscheidungsebenen zu spät zur Kenntnis genommen. Die Mittel für zivile Krisenprävention werden im Haushaltsjahr 2015 erneut gekürzt. Die vorhandenen Kapazitäten und Ressourcen sind viel zu oft in der Krisenreaktion – in Syrien, in der Ukraine, im Irak oder in Westafrika – gebunden. Aus dieser Fixierung auf aktuelle Krisen muss deutsche Außenpolitik ausbrechen. Dazu gilt es, deutlich mehr Anstrengungen in den Aufbau vernetzter und intelligenter Frühwarnsysteme zu stecken und gleichzeitig die notwendigen Instrumente zu entwickeln und zu stärken, um schnell und situationsangepasst reagieren zu können – im militärischen und noch viel stärker im zivilen Bereich.
Viel Afrika, keine Koordinierung
Einer der beliebtesten Schauplätze deutscher außen- und sicherheitspolitischer Debatten ist Afrika. Ursula von der Leyen und Frank-Walter Steinmeier kündigten gleich zu Beginn der Legislaturperiode an, „mehr Verantwortung für Afrika“ übernehmen zu wollen. Die Notwendigkeit, diesem Anspruch gerecht zu werden, ist unumstritten. Afrika ist unser unmittelbarer Nachbar; Europa verbindet, im Guten wie im Schlechten, eine lange Geschichte mit den Ländern Afrikas.
Es gibt zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen: Europa kann von der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung vieler Staaten in Afrika profitieren, afrikanische Staaten vom europäischen Know-how in politischen und wirtschaftlichen Fragen. Europa muss seinen afrikanischen Partnern auf Augenhöhe Angebote machen, die konkurrenzfähig und fair sind.
Gleichzeitig steht Deutschland an der Seite anderer europäischer Staaten, die – auch durch ihre Kolonialgeschichte – nicht immer die gleichen Interessen verfolgen. Eine kohärente europäische Politik in Afrika ist darauf angewiesen, dass Deutschland ein eigenes klares Profil entwickelt, nicht zuletzt um seine begrenzten Mittel effektiv einzusetzen.
Doch diesen Anspruch hat die Bundesregierung schon aufgegeben, bevor sie ihn überhaupt formulieren konnte. Statt einer Afrika-Strategie hat sie gleich drei vorgelegt, fein säuberlich nach Ministerien sortiert: die Afrika-Leitlinien des Auswärtigen Amtes, die afrikapolitische Initiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und die Afrika-Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Eine Koordinierung zwischen den Häusern oder gar eine politische Führung durch das Auswärtige Amt gibt es dabei nicht.
Auch das sicherheitspolitische Engagement bleibt schwach. Bei der UN-Mission im Südsudan schöpft die Bundesregierung nicht einmal die vom Bundestag gesetzte Mandatsobergrenze aus. In Darfur weigert sie sich als einzige europäische Truppenstellerin, öffentlich zu den Vorwürfen mangelnder Transparenz der Mission Stellung zu nehmen.
Das alles ist ein starkes Indiz für die Schwierigkeiten deutscher Außenpolitik, das Vorgehen der verschiedenen Ministerien in einem bestimmten Erdteil zu koordinieren und eine ambitionierte, aber realistische Vision für ihr Handeln zu formulieren. Eine solche wäre aber notwendig, um den komplexen Herausforderungen gerecht zu werden: Verteidigungs- und Außenministerium beispielsweise sollten gemeinsam mit ihren internationalen Partnern eine Strategie für den Umgang mit radikalisierten Söldnertruppen finden, die viele Länder im Norden und Osten Afrikas destabilisieren. Stattdessen betreibt Außenminister Steinmeier einen durchaus berechtigten Review-Prozess, während die Verteidigungsministerin für Ende 2015 ein neues sicherheitspolitisches Weißbuch ankündigt – als hätten beide Stränge nichts miteinander zu tun.
Never walk alone!
Es ist nicht immer leicht, die eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, dass man sich woanders engagieren muss, wenn hierzulande die Straßen marode sind, Kitaplätze fehlen, wenn bisherige Einsätze in der breiten Öffentlichkeit als gescheitert gelten und Konflikte wieder eskalieren, die bereits als befriedet galten. Verantwortung übernehmen heißt auch, sich zu erklären – gegenüber dem Parlament, gegenüber dem Bürger und erst recht gegenüber denen, in deren Ländern man sich engagiert.
Ambitionierte Außenpolitik kann nur dann gelingen, wenn man öffentliche Unterstützung einwirbt. Wenn sie ihre Prämissen transparent macht, ihr Engagement begründet und die Konsequenzen ihres Handelns evaluiert. Dazu gehört eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem bisherigen Engagement wie dem in Afghanistan und mit unserer Mitverantwortung, zum Beispiel beim Klimawandel. Diplomatische Bemühungen zur Einhaltung von Menschenrechten und zur Unterstützung demokratischer Bewegungen dürfen nicht länger durch Wirtschaftsverträge und Rüstungsexporte zugunsten korrupter Eliten konterkariert werden.
Gleichzeitig ist klar, dass kein Land allein den weltpolitischen Herausforderungen gewachsen ist, so engagiert und kohärent seine Politik auch sein mag. Die Zukunft liegt im multilateralen Engagement, in der UN, in der NATO und vor allem in der EU. Wer hätte vor dem Ukraine-Konflikt noch eine Lanze für eine stärkere Rolle der OSZE gebrochen? Diese Organisationen sind alle nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie machen. Das Engagement von Außenminister Steinmeier in der Ukraine-Krise zeigt, welches Potenzial eine koordinierte Antwort entfalten kann. Zugleich sehen wir in vielen Krisen, wie hilflos wir dastehen, wenn wir nicht gemeinsam agieren und wenn uns vor allem die zivilen Mittel multilateralen Engagements fehlen. Mehr Verantwortung heißt also schlussendlich auch mehr Verantwortung in und für multilaterale Organisationen zu übernehmen.
Omid Nouripour ist Sprecher für Außenpolitik der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Deutschen Bundestag.
Internationale Politik 1 , Januar/Februar 2015, S. 94-97