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25. Juni 2021

Zeit für eine neue Russland-Politik

Bis heute ist Berlins Umgang mit Moskau vom Glauben an liberale Interdependenz geprägt. Doch Dialog reicht sicher nicht aus. Optionen und Szenarien, wie die Spannungen gemanagt werden müssen.

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Bild: Rohre für die Nord-Stream-2 Pipeline lagern auf Rügen
Gegenüber der Ukraine hat sich Berlin schizophren verhalten: Einerseits hat es deren territoriale Integrität gegen Moskau verteidigt, andererseits mit dem Nord-Stream-2-Projekt ukrainische Interessen untergraben.
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Im Februar 2021 verteidigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Nord-Stream-2-Pipeline als „eine der letzten Brücken zwischen Russland und Europa“, die nicht abgerissen werden sollte.

Dabei verknüpfte er das umstrittene Projekt mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und suggerierte, die Bundesrepublik müsse auch heute gegenüber Russland entgegenkommed sein, um ihre historischen Verfehlungen wiedergutzumachen.



Kein Wunder, dass diese Kommentare für Empörung in der Ukraine sorgten. Denn zum einen litt sie am meisten unter den Gräueltaten der Nazis und der Sowjets, zum anderen muss sie sich seit 2014 gegen russische Invasoren verteidigen. Steinmeiers Äußerungen stehen in vielerlei Hinsicht für das, was in Deutschlands Umgang mit Russland und Osteuropa falsch läuft – und sie legen die tiefen historischen und ideologischen Wurzeln des deutsch-russischen Verhältnisses offen. Der Aufstieg der Grünen mitsamt ihrem frischen Denken in außenpolitischen Fragen verweist zugleich darauf, dass die Zeit reif sein könnte für einen Generationen- und Paradigmenwechsel in der deutschen Russland-Politik.



Mir erscheint die deutsche Russland-Politik aus vier Gründen defizitär: Sie missachtet geopolitische Faktoren in den wirtschaftlichen Beziehungen, sie vernachlässigt militärische Stärke, sie baut auf einen unbegründeten optimistischen Glauben an die Wirksamkeit von Engagement und Dialog und sie tendiert dazu, den Beziehungen zu Russland Vorrang einzuräumen gegenüber den existenziellen Sorgen und Bedürfnissen deutscher Verbündeter und Partner in Mittel- und Osteuropa.



Die erste und vielleicht grundsätzlichste Kritik ist, dass Berlin es bislang verpasst hat, die Wechselwirkungen zwischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik in den Beziehungen mit Moskau richtig einzuschätzen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich der Slogan „Wandel durch Handel“ tief in den deutsch-russischen Dialog und die deutschen Annäherungsversuche an die östliche Nachbarschaft eingebrannt – und wird von den meisten politischen Parteien, egal ob rechts oder links, geteilt. Die von Willy Brandt angestoßene Ostpolitik basierte dabei auf der Annahme, dass wirtschaftlicher Austausch zu verbesserten politischen Beziehungen, Stabilität und Sicherheit beiträgt. Diese Einschätzung entspricht dem Kerngedanken der Theorie der liberalen Interdependenz, die in den 1970er Jahren populär wurde, also zu einem Zeitpunkt, als die Globalisierung voranschritt und der internationale Handel neue Wachstums- und Wohlstandschancen eröffnete.



In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, breitete sich der feste Glaube an die liberale Interdependenz dann in der ganzen Welt aus. Die Grundannahme blieb dabei dieselbe: Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Staaten würde die Kosten militärischer Konflikte in die Höhe treiben und so die Wahrscheinlichkeit von offenen Kriegshandlungen deutlich verringern.



Gleichzeitig verstand man den internationalen Handel als Möglichkeit, Staaten in die globale, auf Normen basierende Ordnung zu integrieren und die wirtschaftliche Integration und den wachsenden Wohlstand als Vehikel für die Verbreitung demokratischer Werte zu nutzen. Der Beitritt Chinas (2011) und Russlands (2012) zur Welthandelsorganisation (WTO) befeuerte diese Hoffnungen noch weiter. In der Retrospektive bewahrheiteten sie sich jedoch nicht.



Meine deutschen Kolleginnen und Kollegen betonen gern die zentrale Rolle, die die Ostpolitik im Hinblick auf das friedliche Ende des Kalten Krieges und die Auflösung des Ostblocks gespielt hat. Diese Perspektive erfasst jedoch nur einen kleinen Teil einer komplizierteren Wahrheit – und vernachlässigt andere entscheidende Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion: etwa die damals unaufhaltsam voranschreitende innere Auflösung des sowjetischen Systems und seine Unfähigkeit, beim Wettrüsten mit den USA mitzuhalten. Darüber hinaus waren es in den 1990er Jahren eher die Schwäche Russlands und seine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen, die die geopolitischen Ambitionen des Kremls einschränkten, und nicht das deutsche beziehungsweise westliche außenpolitische Engagement. So zog Russland seine Truppen 1994 nur widerwillig und unter freundschaftlichem Druck von US-Präsident Bill Clinton und Bundeskanzler Helmut Kohl aus den baltischen Staaten ab.



Russlands Grundsätze

Die unerschütterlichen Grundsätze des russischen Verständnisses internationaler Politik sind die nationale Souveränität, die Aufrechterhaltung der Sicherheit in seinen „historischen Interessenzonen“ und der unbändige Wille, auf der Weltbühne als „Großmacht“ anerkannt zu werden.



Trotz seiner offiziellen Einbindung in die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) verfolgt Russland hier einen weitgehend unilateralen Ansatz und ist bestrebt, seine Abhängigkeit von Drittstaaten zu minimieren. Seit der Jahrhundertwende und noch klarer seit 2014 hat Präsident Wladimir Putin konsequent versucht, Russlands Abhängigkeit vom Westen zu reduzieren. Russlands politisches System ist derweil immer autoritärer geworden – und der Widerstand gegen die vom Westen dominierte regelbasierte Ordnung wächst ständig.



Gleichzeitig nutzt Russland die begrenzten wirtschaftlichen Instrumente, über die es verfügt – vor allem seine Rohstoffressourcen –, dafür, geopolitischen Einfluss zu gewinnen. Die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 ist ein typisches Beispiel dafür: Zum einen soll sie Interessennetzwerke in Europa stärken, die sich für eine prorussische oder zumindest weniger russlandfeindliche Politik ihrer Regierungen einsetzen. Zum anderen soll mit dem Projekt der Erdgas-Transit durch die Ukraine beendet und durch alternative Routen ersetzt werden, was wiederum die Ukraine schwächen würde.



Auf schizophrene Weise hat Deutschland in den vergangenen Jahren also einerseits die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine gegenüber Moskau verteidigt, andererseits jedoch ein Großprojekt gefördert, das den Interessen der Ukraine zuwiderläuft.



Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte Nord Stream 2 immer wieder, indem sie die strategische Bedeutung wirtschaftlicher Beziehungen und ihrer Aufrechterhaltung hervorhob. Dabei ist die strategische Bedeutung von Nord Stream 2 jedoch für die Staaten Mittel- und Osteuropas vor allem eine negative. Die Pipeline spielt Russland in die Karten und macht jene Länder, die von der deutsch-russischen Lieferroute umgangen werden, noch anfälliger für den politischen und wirtschaftlichen Druck aus Moskau.



Es lässt sich also festhalten, dass die optimistische deutsche Perspektive auf die Rolle wirtschaftlicher Interdependenz von Russland keineswegs geteilt wird – und die deutsche Russland-Politik ihre gewünschten Effekte deshalb verfehlt. Und eigentlich liefert die Theorie der liberalen Interdependenz sogar eine Erklärung für dieses Scheitern: Die erhoffte „positive“ Dynamik entsteht nämlich nur dann, wenn eine komplexe Interdependenz zwischen verschiedenen Schichten und Sphären der Gesellschaft entsteht. Das erfolgreichste Beispiel für einen solchen Prozess ist die europäische Integration. Im Gegensatz dazu sind die Beziehungen zwischen der EU und Russland jedoch durch eine asymmetrische Interdependenz gekennzeichnet, die vor allem gesellschaftliche und politische Spannungen begünstigt.



Die Systemkonkurrenz zwischen der westlichen Demokratie und dem autoritären russischen Modell sowie die gegensätzlichen Ansichten Russlands und des Westens über die europäische Sicherheitsordnung verhindern weitestgehend eine komplexe und somit positive Interdependenz. Aus ähnlichen Gründen sind auch in den deutsch-chinesischen Beziehungen kaum positive Fortschritte zu erkennen. Auf dem Weg in eine multipolare Weltordnung, die vor allem durch eine sich verschärfende Rivalität zwischen den Großmächten gekennzeichnet ist, nutzen Staaten ihre wirtschaftliche Stärke immer öfter als Instrument der strategischen Einflussnahme. Und China ist besonders geschickt darin, seine Handelspartner zuerst in die wirtschaftliche Bredouille zu bringen und dann ihre Lage auszunutzen, um seine eigenen politischen Interessen durchzusetzen.



Im Fall Russlands ist die Rolle wirtschaftlicher Macht derweil begrenzt und im Vergleich zu der militärischen Stärke des Landes eher zweitrangig. Mit diesem Umstand kann sich Deutschland jedoch – vor allem aufgrund seiner der Kriegs- und Nachkriegszeit entstammenden pazifistischen Tradition – nur sehr schwer arrangieren. In jenen Ländern, die geografisch zwischen Deutschland und Russland liegen und deren Existenz von ihrem östlichen Nachbarn tatsächlich bedroht wird, wirkt diese Position naiv und mitunter sogar zynisch.



Deutschland hat einerseits zwar versucht, die Versprechungen von Frieden und Stabilität in der Region nach dem Kalten Krieg zu erfüllen. Andererseits hat sich Berlin sehr schwer damit getan, die Situation nach den russischen Aggressionen gegen die Ukraine neu einzuschätzen. Die verstärkte Präsenz der NATO an der europäischen Ostflanke trug man eher widerwillig mit, und deutsche Politiker warnen immer wieder vor Säbelrasseln und fordern Zurückhaltung „auf allen Seiten“, selbst wenn die Rollen von Täter und Opfer klar verteilt sind. So hat es oft den Anschein, dass Deutschland von der eigenen Rolle als Schutzschild gegen russische Einflussnahme in Europa selbst nicht überzeugt ist – und sich Verteidigungs- und Abschreckungsmaßnahmen gegen Moskau nicht zutraut.



Gleichzeitig hält man in Berlin weiterhin an dem fast fanatischen Glauben an den Wert des deutsch-russischen Dialogs fest, selbst wenn man mitunter selbst gar nicht weiß, wie dieser aussehen soll, geschweige denn, worüber man reden oder was man erreichen möchte. Der politische Dialog nimmt dabei mittlerweile fast eine Art rituelle Funktion ein, die sich deutsche Politiker nicht mehr zu hinterfragen trauen. Das führt vor allem dazu, dass viele Mittel- und Osteuropäer den wie auch immer gearteten deutsch-russischen Dialog als eine Art Zugeständnis oder gar als eine Belohnung für den Kreml ansehen, was er natürlich nicht sein sollte. Ein erfolgreicher politischer Dialog, genau wie Sanktionen oder Militäroperationen, muss immer als Instrument zur Erreichung außenpolitischer Ziele verstanden werden. Und genau darin liegt das Problem: Das Ziel deutscher Russland-Politik sind freundschaftliche Beziehungen zu Moskau – und die Aufrechterhaltung des Dialogs trägt dazu bei, die Illusion zu fördern, man habe diese bereits verwirklicht.



Paradoxe Effekte

Die Priorisierung der guten Beziehungen zu Russland hat darüber hinaus den paradoxen Effekt, dass die grundlegende Frage der europäischen Sicherheit immer weiter in den Hintergrund rückt. Dabei sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen Russland und dem Westen über die europäische und internationale Sicherheitsordnung grundlegender Natur und nicht nur ein vorübergehendes Phänomen – genauso wie Russlands Feindseligkeit gegenüber der liberalen Demokratie und rechtsstaatlichen Prinzipien. Es gibt keine Grundlage für die Annahme, dass diese Divergenzen sich während oder nach Putins Herrschaft in Luft auflösen werden.



In Bezug auf die Ukraine, an deren Beispiel sich die deutsch-russischen Meinungsverschiedenheiten am stärksten zeigen, hat Putin bisher nicht den Anschein erweckt, seine Ziele aufgeben zu wollen. Im Gegenteil: Er will Russlands Einflusssphäre weiter ausbauen und verhindern, dass die Ukraine sich als funktionstüchtige Demokratie in Europa integriert. Solange die Ukrainer jedoch für genau dieses Ziel kämpfen, bleibt Deutschland aufgrund des eigenen Bekenntnisses zu europäischen Normen und Werten keine andere glaubwürdige Option, als die Ukraine zu unterstützen. Putins Russland hält derweil an der Überzeugung fest, dass die westliche Demokratie eine existenzielle Bedrohung für das eigene Regime sei. Es ist zu erwarten, dass Moskau seine Bemühungen fortsetzen wird, demokratische Systeme, einschließlich des deutschen, durch hybride Methoden der Einflussnahme zu untergraben.



Die Prinzipien der positiven Interdependenz und des freundschaftlichen Engagements passen ganz einfach nicht zu Russlands Wahrnehmung der Welt und Putins Interessen. Etwas anderes zu behaupten, wäre nahezu gefährlich. Die ernüchternde Realität der deutschen und europäischen Beziehungen zu Russland ist, dass Spannungen gemanagt und europäische Werte geschützt werden müssen. Dies muss Vorrang haben vor der Hoffnung, dass die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten in absehbarer Zeit wie von Geisterhand ausgeräumt werden.



Trotzdem muss man bei aller Kritik anerkennen, dass Deutschland seit 2014 einen unverzichtbaren Beitrag zur europäischen Stabilität geleistet hat und für die entschiedene Reaktion der EU gegen die russische Aggression maßgeblich mitverantwortlich war. Die Russland-Politik der EU wird auch in Zukunft eines starken deutschen Beitrags bedürfen. Eine Neubewertung einiger Grundgedanken der Ostpolitik könnte den Umgang der EU mit Russland und auch die Rolle Deutschlands in der EU-Außenpolitik weiter stärken.



Dr. Kristi Raik ist Direktorin des Estonian Foreign Policy Institute am International Centre for Defence and Security (ICDS) in Tallinn.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 25-29

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