Weltspiegel

02. Jan. 2023

Die Zeitenwende reicht nicht

Berlin richtet sich gegenüber Russland neu aus, doch wichtige Fragen bleiben offen. Das künftige Ausmaß deutschen Einflusses in Europa hängt von der Ukraine-Hilfe ab.

Idealismus und zynischer Realismus, Wunschdenken und Gier: Aus dieser unguten Mischung setzte sich seit dem Ende des Kalten Krieges die deutsche Haltung gegenüber Russland und der europäischen Sicherheit zusammen. Kurz nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 erkannte Bundeskanzler Olaf Scholz dann an, dass eine neue, raue Zeit der Machtpolitik angebrochen ist. Diese erfordert einen grundlegenden Wandel in der deutschen Außen- und ­Sicherheitspolitik.



Tatsächlich hat sich seitdem vieles zu verändern begonnen: Es kam zu einer drastischen Neuausrichtung der Energie- und der Verteidigungspolitik, wie sie von den deutschen Verbündeten in Mittel- und Osteuropa schon lange gefordert worden war. Doch ist das Misstrauen gegenüber Berlin noch nicht ausgeräumt; tief sitzende Instinkte sind auf beiden Seiten schwer zu überwinden, und eine neue deutsche Sicherheitsstrategie muss erst noch entwickelt werden.



Der sichtbarste und konkreteste Punkt des Anstoßes für den Ärger der mittel- und osteuropäischen Länder über Deutschland ist Berlins Zögerlichkeit gewesen, der Ukraine militärische Unterstützung zu leisten. Die deutsche Militärhilfe wurde schrittweise gesteigert und liegt mittlerweile bei einem durchaus beachtlichen Umfang von 1,2 Milliarden Euro. Gleichwohl bleiben wichtige Beschränkungen bestehen, insbesondere bei der Lieferung von Leopard-Kampfpanzern. Diese würden die ukrainischen Fähigkeiten, von Russland besetzte Gebiete zu befreien, erheblich verbessern.



Lähmende Angst vor Eskalation

Hauptgrund für das Zögern ist die deutsche Sorge, dass eine Lieferung weiterer und schwererer Waffen an die Ukraine den Krieg eskalieren lassen könnte. Die baltischen Staaten und Polen haben die deutsche Debatte über mögliche Welt­untergangsszenarien im Falle eines Atomkriegs zwischen der NATO und Russland mit Besorgnis verfolgt, die eine geradezu lähmende Angst in Teilen der deutschen Elite sichtbar werden ließ. Auch fragten sich Balten und Polen, ob die deutsche Antwort im Falle eines Angriffs auf ihre Staaten von ähnlichen Ängsten gehemmt werden würde, wenngleich ihre ­NATO-Mitgliedschaft einen entscheidenden Unterschied machen sollte.



Länder wie Estland, Lettland, Litauen und Polen – die gemessen an ihrer Größe die meiste Militärhilfe an die Ukraine geleistet haben – denken in dieser Frage ganz anders: Gerade das Zurückhalten von Waffenlieferungen an die Ukraine verlängert den Krieg und verursacht mehr Tod und Leid. Da Russland entschlossen ist, die unabhängige Staatlichkeit der Ukraine zu zerstören, kann es nur mit Gewalt davon abgehalten werden – je schneller, desto besser. Eine Verlängerung des Krieges nützt der russischen Seite ebenso wie ein vorschneller Waffenstillstand.



Ehrlicherweise muss man zugestehen, dass die deutschen Sorgen vor einer Eskalation von der US-Regierung weitgehend geteilt werden; und auch Washingtons Haltung sorgt in Mittel- und Osteuropa für Frustration. Allerdings summiert sich die Militärhilfe der Vereinigten Staaten bislang auf beeindruckende 18,5 Milliarden Dollar und war entscheidend dafür, dass die Ukraine sich verteidigen und besetzte Gebiete befreien konnte. Beschämenderweise hinkt Europa weit hinterher, und angesichts seiner Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft trifft Deutschland der größte Vorwurf.



Offensichtlich ist das Zögern bei der Lieferung von Leopard-Panzern nur die Spitze des Eisbergs und deutet auf tieferliegende Anpassungsschwierigkeiten in einer veränderten Sicherheitsumgebung hin. Betrachtet man die deutsche Zeitenwende-Debatte aus Tallinn, stehen klare Antworten aus Berlin auf drei zentrale Fragen über die Zukunft der europäischen Sicherheit noch aus. Hat Deutschland, erstens, die Vorstellung, dass Russlands Einflusssphäre de facto, wenn schon nicht de jure, respektiert werden sollte, vollständig aufgegeben? Zweitens, und eng mit der ersten Frage verbunden: Hat Deutschland die Idee, eine gemeinsame Sicherheits­architektur mit Russland aufzubauen, gänzlich fallen gelassen, solange Russland sich nicht grundlegend ändert? Und ist Deutschland, drittens, tatsächlich bereit, künftig einen erheblich größeren Beitrag zu leisten, um die Ostflanke der NATO zu verteidigen, insbesondere vor dem Hintergrund möglicherweise kleiner werdender Beiträge der USA?



Keine Klarheit über Einflusssphären

Seit dem Ende des Kalten Krieges verfolgte Deutschland bei der Frage einer von Russland beanspruchten Einflusssphäre einen Ansatz, der oberflächlich als idealistisch daherkam, aber im Kern von zynischem Realismus geprägt war. Zwar redete Deutschland stets der regelbasierten internationalen Ordnung und einer auf gemeinsamen Normen gegründeten europäischen Sicherheitsarchitektur das Wort. Tatsächlich aber erkannte Berlin stillschweigend Russlands Recht auf eine Einflusssphäre an und zeigte die Tendenz, die Souveränität der kleineren, zwischen Deutschland und Russland liegenden Staaten den Interessen der größeren unterzuordnen – dies alles in der falschen Hoffnung, Stabilität und gute Beziehungen mit Moskau sicherzustellen. Während des Großteils der 1990er Jahre stand Deutschland, da es Russland nicht provozieren wollte, der Erweiterung der EU und der NATO um die baltischen Staaten kritisch gegenüber. Allerdings hat die Geschwindigkeit der innenpolitischen Reformen in Estland, Lettland und Litauen ebenso wie ihre Entschlossenheit, sich in westliche Strukturen zu integrieren, geholfen, den deutschen Widerstand zu überwinden; die Unterstützung aus den USA und anderen europäischen Staaten hat auch dazu beigetragen. Wären die baltischen Staaten 2004 nicht der EU und der NATO beigetreten, wären die Sicherheitslage in der Ostsee-Region und die innenpolitische Lage in den drei baltischen Staaten heute gewiss wesentlich instabiler.



Als die orangene Revolution Ende 2004 dem Wunsch der ukrainischen Bevölkerung, der EU beizutreten, einen kräftigen Schub versetzte, gehörte Deutschland zu den Staaten, die sich nicht zu einer Beitrittsperspektive bekennen wollten. Beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008 verwässerte Deutschland gemeinsam mit Frankreich in der Abschlusserklärung die Aussicht der Ukraine, dem Bündnis beizutreten. Bei all diesen Fragen hatten mittel- und osteuropäische Staaten eine gänzlich andere Auffassung, wie Sicherheit und Stabilität in Europa zu erreichen wären. Sie waren bestrebt, ihre Erfahrungen von Übergang und Integration in die euro-atlantischen Strukturen auf die Ukraine zu übertragen. Doch EU und NATO beließen die Ukraine, ebenso wie andere osteuropäische Nachbarn, in einer Position der geopolitischen Ambiguität und signalisierten Russland ihre Absicht, das westliche Engagement in der Region begrenzt zu halten.



Dies wurde in Moskau höchstwahrscheinlich als unausgesprochene Anerkennung der russischen Einflusssphäre interpretiert; so durfte sich Russland ermutigt fühlen, mit den Bemühungen fortzuschreiten, der Ukraine und anderen postsowjetischen Staaten die eigene Vorstellung von europäischer Sicherheit notfalls gewaltsam aufzuzwingen. Die kleinmütige westliche Reaktion auf den russisch-georgischen Krieg 2008 sowie die Annexion der Krim 2014 bestätigte Russlands Eindruck von der Schwäche des Westens. Vor diesem Hintergrund war die deutliche Antwort des Westens auf die russische Invasion der Ukraine 2022 eine unangenehme Überraschung für den Kreml. Doch es bleiben Zweifel, ob der Sinneswandel in Berlin und anderen westlichen Hauptstädten andauern wird, wenn die Kosten des Krieges weiter steigen.



All dies wirft die Frage auf, wo die Verantwortung Deutschlands – und im weiteren Sinne die der westlichen Staaten – dafür liegt, dass Europa in einen großen Krieg abgeglitten ist. Die Politik der strategischen Ambiguität von NATO und EU gegenüber ihren östlichen Nachbarn sollte Spannungen abbauen. Doch letztlich ermutigte sie Russland zum Überfall eines Nachbarlands, das entschlossen war, sich nicht in die Einflusssphäre Moskaus einzuordnen. Es war der für viele Europäerinnen und Europäer unerwartete Schock des Krieges, der schließlich die Ambiguität der EU beendete und dazu führte, der Ukraine und der Republik Moldau im Juni 2022 den Status von Beitrittskandidaten zu verleihen. Die Frage eines NATO-Beitritts der Ukraine bleibt indes in der Schwebe und wird zu beantworten sein, wenn der Krieg endet – wenn nicht bereits davor. Das Beispiel der baltischen Staaten legt nahe, dass – soweit sie sich frei dafür entscheiden – für Russlands europäische Nachbarn die vollständige Integration in westliche Strukturen der beste Weg ist, um eine stabile Entwicklung sicherzustellen.



Sicherheitsordnung mit Russland?

Hinsichtlich der zweiten Frage nach Russlands Stellung in der europäischen Sicherheitsarchitektur lautete bis vor Kurzem die Formel, es könne keine Sicherheit in Europa ohne Russland geben. Diese Überzeugung war in Deutschland allgegenwärtig. Der Reiz, eine gemeinsame Sicherheitsordnung mit Russland zu errichten, ist verständlich. Tatsächlich wäre eine Verpflichtung Russlands auf gemeinsame Normen der ideale Weg, um Stabilität auf dem Kontinent zu erreichen.



Allerdings hinderte das Bestreben Deutschlands, Frankreichs und anderer Staaten, Russland für eine Kooperation zu gewinnen, den Westen daran, die von Russland selbst benannten Interessen und Handlungen hinsichtlich der europäischen Sicherheitsordnung objektiv zu bewerten. Seit Wladimir Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, äußerte Russland seine Unzufriedenheit mit der europäischen Sicherheitsordnung, wie sie nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden war, immer lauter und aggressiver: zuerst in Worten (insbesondere bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007), später mit den Angriffen auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 auch mit Taten. Der Grundsatz, dass jedes Land das Recht hat, die eigene ­Sicherheitspolitik selbst zu bestimmen, der in den – auch von Russland anerkannten – Basisdokumenten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) festgeschrieben ist, kollidierte mit der russischen Entschlossenheit, eine eigene Einflusssphäre zu errichten beziehungsweise diese wiederherzustellen. Moskaus Autoritarismus und die Angst vor der Ausbreitung der Demokratie verschärften die Spannungen zwischen Putins Russland und dem Westen weiter.



Mangels gemeinsamer Normen und Werte ist eine Integration Russlands in die gemeinsamen europäischen Strukturen praktisch unmöglich geworden. Eine wahrhaft „gemeinsame Sicherheitsordnung“ würde das Entstehen eines demokratischen und postimperialen Russlands erfordern; es ist unwahrscheinlich, dass es dazu bald kommt, wenn überhaupt jemals. Jahrelang konzentrierte sich die deutsche Russland-Politik auf diplomatische Aktivitäten und wirtschaftliche Interdependenz. So hoffte Berlin, mit einem sanften Kurs sicherheitspolitische Herausforderungen aus dem Weg zu räumen. Diese Strategie ist offensichtlich gescheitert. Wie Deutschland seinen neuen, antagonistischen Umgang mit Russland im Einzelnen ausbuchstabieren wird, ist allerdings noch unklar.



Das bringt uns zur dritten Frage, der nach Deutschlands Beitrag zur europäischen Verteidigung und Abschreckung insbesondere an der Ostflanke der NATO. Die russische Invasion der Ukraine hat Deutschland einsehen lassen, dass eine substanzielle Steigerung der Verteidigungsausgaben erforderlich ist. Allerdings folgten auf die historische, von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 verkündete Entscheidung, zusätzliche 100 Milliarden Euro für die Verteidigung auszugeben, eine ausgiebige Nabelschau und anhaltende Unsicherheit über Deutschlands langfristiges Engagement für das 2-Prozent-Ziel der NATO.



Viele Verbündete haben derweil das Ziel höher angesetzt: Polen strebt zum Beispiel 5 Prozent an. Nach Jahrzehnten des deutschen Pazifismus und der Vernachlässigung der eigenen Streitkräfte verbleiben bei den mittel- und osteuropäischen Verbündeten Zweifel, ob Deutschland kampfbereit ist, sollte Russlands Krieg NATO-Gebiet erreichen. Eine harte Lehre aus der Ukraine ist, dass Pazifismus tödlich sein kann.



Positiv ist zu bemerken, dass Deutschland die Umsetzung der Entscheidungen, die im Juni 2022 beim NATO-Gipfel in Madrid zur Stärkung der Vorwärtsverteidigung an der Ostflanke getroffen wurden, ernst nimmt. Dies ist ein zentrales Element in einem Prozess, der das Vertrauen zwischen Berlin und seinen östlichen Verbündeten stärken und eine gemeinsame Vorstellung davon schaffen kann, wie dem raueren Sicherheitsumfeld in den kommenden Jahren begegnet werden sollte. Mit dem Angebot, Polen ein Patriot-Luftabwehrsystem zu liefern, nachdem am 15. November 2022 eine Rakete auf polnischem Territorium abgestürzt war, ist Deutschland in diesem Prozess einen wichtigen Schritt gegangen.



Gradmesser Ukraine-Hilfe

Mehr als jedes andere Land steht Deutschland für alles, was am europäischen ­Ansatz gegenüber Russland in der Zeit nach dem Kalten Krieg falsch war. Dazu zählen die Vernachlässigung der Verteidigung, die tiefgreifende Abhängigkeit von billiger russischer Energie, der Glaube an einen positiven Umgang mit einem immer stärker autoritären und aggressiven Russland sowie die geopolitische Ambiguität gegenüber Staaten, die wie die Ukraine geografisch zwischen der EU und Russland liegen. Seit dem 24. Februar 2022 hat Deutschland mit einem Kurswechsel begonnen. Doch derzeit ist Berlin weder gedanklich noch militärisch imstande, der Gefahr zu begegnen, die von Russland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten voraussichtlich ausgehen wird.



Richtig ist: Deutschland verdient Anerkennung für das Erreichte. Gleichzeitig aber kann und sollte Berlin die militärische Unterstützung der Ukraine ebenso weiter verstärken wie den eigenen Beitrag zur NATO-Abschreckung und zur Verteidigung des Bündnisses gegen Russland sowie das Engagement für die europäische Integration der Ukraine.



Der Ausgang des Krieges in der Ukraine wird die Gestalt der künftigen europäischen Sicherheitsordnung prägen. Eine russische Niederlage würde den imperialen Ambitionen Moskaus einen entscheidenden Schlag versetzen; ein Kriegserfolg dagegen ein Ansporn sein, den Kontinent weiter gewaltsam umzugestalten. Die Entschlossenheit, mit der Deutschland sein Gewicht für die erste Option einsetzt, wird den künftigen deutschen Einfluss in Europa und das Ausmaß an Vertrauen, das Berlin unter seinen mittel- und osteuropäischen Nachbarn genießen wird, entscheidend bestimmen.    



Aus dem Englischen von Matthias Hempert

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 70-75

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Dr. Kristi Raik ist Direktorin des Estonian Foreign Policy Institute am International Centre for Defence and Security (ICDS) in Tallinn.

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