Buchkritik

01. März 2015

Wurzeln des modernen Dschihad

Zu den Ursprüngen und der Geschichte einer Terrorbewegung

Wer den Islamismus als rein religiöses Phänomen betrachtet, wird seinen Aufstieg nicht wirklich begreifen können. Ein Aufstieg, der durch das Versagen der politischen Eliten ermöglicht und durch anti- koloniales Denken sowie radikal interpretierte Koranverse befeuert wurde. Wie das geschah, zeigen mehrere Neuerscheinungen.

Mit dem Vormarsch der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak und in Syrien hat die weltweite Dschihad-Bewegung eine neue Entwicklungsstufe erreicht. Noch während des arabischen Aufstands vor vier Jahren sah es so aus, als seien die Extremisten, die im Namen ihres Gottes in den Kampf gegen „Ungläubige“ ziehen, die größten Verlierer. Stattdessen ist das Gegenteil eingetreten.

Der Zusammenbruch von staatlichen Strukturen in Syrien und im Irak, aber auch in Libyen und im Jemen hat dafür gesorgt, dass Machtvakuen entstanden sind, die die Dschihadisten ungestört für sich nutzen können. Bislang lässt sich nicht erkennen, wer sie stoppen soll und kann.

Die neue Dimension spiegelt sich in der Selbsteinschätzung des IS wider. Kritiker argumentieren zwar, die Organisation sollte nicht „Islamischer Staat“ genannt werden, da sie keinen Staat beherrsche, schon gar keinen „islamischen“. Tatsächlich aber beschreibt der Name das Ausmaß des Phänomens recht treffend.Der IS beruft sich zweifelsohne auf den Islam – wenn auch auf dessen denkbar extremste Form. Er kontrolliert zudem nicht nur riesige Teile beider Länder und hat die von Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen nationalstaatlichen Grenzen de facto aufgelöst, sondern er hat dort ein Gebilde mit quasistaatlichen Strukturen errichtet – etwas, das Al-Kaida in Afghanistan und Pakistan nie gelungen ist.

Die Gesellschaft umgestalten

Die Anfänge der Dschihad-Bewegung werden zumeist in den achtziger Jahren am Hindukusch gesucht, als es den dortigen Mudschahedin mit Hilfe arabischer Kämpfer gelang, die Rote Armee aus dem Land zu vertreiben. In der Tat wurden viele Netzwerke, die die Dschihad-Bewegung heute tragen, dort erstmals gesponnen. Die Wurzeln des Islamismus – und damit auch der Dschihad-Bewegung als seiner radikalsten Variante – gehen aber wesentlich weiter zurück.

Beschrieben werden sie bei Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft in Jena. Er hat auf rund 120 Seiten eine Einführung in den „Islamismus“ geschrieben, die für ein Buch in diesem Format kaum Wünsche offen lässt. Kompakt, präzise und wohltuend nüchtern erklärt er dessen Ursprünge, Entwicklung und moderne Erscheinungsformen.

Beim Islamismus handelt es sich für Seidensticker „um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden“. Diese Definition lässt sowohl radikale als auch gemäßigte Varianten des Islamismus zu. So wandelten sich für Seidensticker die ägyptischen Muslimbrüder unter der Herrschaft Mubaraks zu einer Oppositionsbewegung, „die Gewalt ablehnte und die parlamentarische Demokratie akzeptierte“.

Auch beim Anführer der tunesischen Ennahda, Rachid al-Ghanouchi, sieht er keine Vorbehalte gegen die Demokratie. Sie sei für ihn vielmehr ein geeignetes Instrument gewesen, um den islamischen Gedanken der Konsultation (Schura) im Rahmen islamischer Werte zu verwirklichen.

Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn Seidensticker knapp den Demokratiediskurs unter Islamisten dargestellt hätte – schließlich sind die Demokratiedefizite bei den Muslimbrüdern in Ägypten unter der Präsidentschaft von Mohammed Mursi sehr deutlich geworden.

Gemäßigten wie radikalen Extremisten ist letztlich gemeinsam, dass sie alle auf eine islamische Reformbewegung zurückgehen, die im 19. Jahrhundert als Antwort auf die koloniale Expansion Europas entstand. Die Reformisten von damals machten laut Seidensticker für die „beklagenswerte Lage der islamischen Welt“ Fehlentwicklungen wie „Übernahmen aus fremden Kulturen (…) und Willfährigkeit der Gelehrten gegenüber Despoten“ verantwortlich. Reformieren wollten sie ihre Religion, indem sie sich an der Frühzeit des Islams im 7. Jahrhundert orientierten. Bekannteste Vordenker waren der aus dem Iran stammende Dschamal ad-Din al-Afghani und sein Schüler Muhammed Abduh.

Aufstand gegen die Fremdherrschaft

Bei den Debatten damals ging es um theologische Fragen. Ein Blick auf die Genese des Islamismus macht jedoch deutlich, dass die Bewegung nicht zu verstehen ist, wenn sie als rein religiöses Phänomen gedeutet wird. Vielmehr ging das Reformdenken in der islamischen Welt von Anfang an Hand in Hand mit der Ablehnung europäischer Fremdherrschaft.

Antikoloniales Denken befeuerte den Islamismus letztlich mindestens ebenso wie radikal interpretierte Koranverse. So war al-Afghani für Seidensticker „ein Aktivist, dessen Leben von einer starken Abneigung gegen direkte oder indirekte Beherrschung islamischer Länder durch die Briten geprägt war“.

Noch stärker tritt dieser Punkt in der „Geschichte Ägyptens“ von Johanna Pink hervor. Die Freiburger Islamwissenschaftlerin fällt in ihrem Buch ein hartes Urteil über die britische Herrschaft am Nil. London habe das Land nicht nur unter politische Kontrolle gebracht, sondern auch in den Ruin getrieben. Die Landwirtschaft sei auf die britische Industrie ausgerichtet worden und in völlige Abhängigkeit geraten. Zugleich hätten die Briten es versäumt, ein modernes Bildungssystem aufzubauen. Für Pink ist „Ägypten ein Paradebeispiel für die stufenweise Entwicklung des europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert“. Mit den Folgen der britischen Politik hatte Kairo bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu kämpfen.

Mit Pinks Buch wollte der C.H.Beck-Verlag eine Lücke schließen, schließlich mangelte es auf dem deutschen Buchmarkt an einer aktuellen Darstellung der Geschichte des modernen Ägyptens auf der Basis des neuesten Forschungsstands. Das ist mit dem Band gelungen. Pink setzt zu der Zeit ein, als Ägypten eine Provinz im Römischen Reich war, und endet mit dem „ägyptischen Herbst“, also der Rückkehr des alten Systems nach dem Sturz der Muslimbrüder im Sommer 2014. Das Buch ist eine stringente, schnörkellose und gut lesbare Darstellung, für Kenner der Region genauso ein Gewinn wie für Laien. Ausgesprochen lesenswert sind auch Pinks Exkurse über „Frauen und Männer“ und die Entwicklung Kairos.

Das Versagen der Eliten

Antikolonialismus war auch Antriebsmotor von Hassan al-Banna, dem Gründer der wohl größten islamistischen Organisation: der Muslimbruderschaft. Al-Banna gelang es, den islamischen Reformismus von einer Strömung der Intellektuellen in eine breite soziale Bewegung zu verwandeln. Er machte die Idee der islamistischen Reform „massentauglich“, wie die Hamburger Wissenschaftlerin Annette Ranko in ihrem Buch „Die Muslimbruderschaft“ schreibt.

Ranko hat als Mitarbeiterin des Hamburger GIGA-Instituts ihre Doktorarbeit über die Organisation geschrieben und ist dafür mit dem Deutschen Forschungspreis ausgezeichnet worden. Auch der jetzt erschienene, knapp 160 Seiten dicke Band überzeugt. Er besticht durch eine präzise Charakterisierung der Organisation und einen sachlichen Ton, der nichts verharmlost, aber auch nicht dramatisiert.

Ranko hebt einen Faktor hervor, der entscheidend zum Aufstieg des Islamismus beigetragen hat: das Versagen der Staatsführung und der politischen Eliten. Mubarak schwächte die Opposition strukturell und schuf so ein „schmerzliches Vakuum“, das die Muslimbrüder füllen konnten, wobei sie von ihrem religiösen und wohltätigen Charakter profitierten. Die Organisation habe durch ihr soziales Engagement ausbleibende staatliche Wohlfahrtsleistungen kompensiert, schreibt Ranko.

Langes Gedächtnis

Die Muslimbrüder sind nicht nur die größte, sondern auch die einflussreichste islamistische Bewegung der arabischen Welt. Alle Pfade führen über sie – die zum gemäßigten Islamismus genauso wie die zum Dschihadismus. Präzise beschreibt das der junge Hamburger Islamwissenschaftler Behnam Said in seinem Buch „Islamischer Staat“. Said skizziert die Entwicklungslinien in Syrien, wo der lokale Ableger der Muslimbrüder lange Zeit der gefährlichste Herausforderer des Regimes von Hafis al-Assad war. Dabei gibt er sehr erhellende Einblicke in die Entstehung des IS und anderer extremistischer Gruppen.

Dass die Dschihad-Bewegung in Syrien ein „langes Gedächtnis“ hat, wie Said schreibt, also keineswegs aus dem Nichts aufgetaucht ist, sondern Jahrzehnte zurückreicht, stellt er eindringlich anhand von Marwan Hadid dar, einem Islamisten aus der syrischen Stadt Hama. Dieser traf in Ägypten einst Sayyid Qutb, den wichtigsten Vordenker des Dschihad-Islams, gehörte zum radikalen Flügel der syrischen Muslimbrüder und starb 1976 im Gefängnis. Bis heute wird er von extremistischen Muslimen verehrt. Marwan schrieb auch Gedichte, in denen er schon damals Themen aufgriff, die heute zum Kanon der dschihadistischen Propaganda gehören.

Diese Stellen des Buches sind besonders erhellend, da Said hier sein ganzes Wissen ausspielt und Entwicklungslinien aufzeichnet, die bislang kaum beachtet wurden. Seine Doktorarbeit hat er bei Tilman Seidensticker über Naschids geschrieben, einen religiösen Sprechgesang, den Dschihadisten für ihre Propaganda nutzen. Als Mitarbeiter des Hamburger Verfassungsschutzes ist Said ein Fachmann für Denkstrukturen des extremistischen Islams.

Sehr akribisch erläutert er auch Werdegang und Ideologie der Al-Nusra-Front. Der syrische Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida ist trotz ideologischer Nähe tief verfeindet mit dem IS. Beide Gruppen ringen um die Vorherrschaft im weltweiten Dschihad – und spalten die Gemeinde der Extremisten.

Drei Punkte kommen in Saids Beschreibung des IS jedoch zu kurz, um die Organisation umfassend zu erklären: So erfährt man wenig darüber, wie die Terrormiliz in den von ihr kontrollierten Regionen ihre Macht ausübt und einen „Staat“ aufbaut. Auch ihre wirtschaftliche Basis wird kaum erläutert.

Zudem wäre es wichtig gewesen, das Versagen der irakischen Politik ausführlicher darzustellen – erst die Ausgrenzung der Sunniten durch die von Schiiten dominierte Regierung unter dem langjährigen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki ermöglichte den Vormarsch der IS-Milizen. Trotzdem trägt Said mit dem Buch viel zum Verständnis des Dschihadismus bei – auch weil er sehr ausführlich die Szene der deutschen Kämpfer in der Region beschreibt.

Eines ist nach der Lektüre dieser Bücher klar: Mit dem Sturz der Muslimbrüder in Ägypten ist die Geschichte des Islamismus noch lange nicht zu Ende, wie viele glaubten. Vielmehr dominiert jetzt seine extremistische Variante. Der IS ist auch wegen seiner völlig enthemmten Gewalt eine neue Entwicklungsstufe. Wird es die letzte sein? Eine weitere Steigerung der Brutalität möchte man sich jedenfalls nicht vorstellen.

Jan Kuhlmann ist dpa-Korrespondent für die arabische Welt mit Sitz in Istanbul.

Tilman Seidensticker: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen. München: C.H.Beck Verlag 2014, 127 Seiten, 8,95 €
Johanna Pink: Geschichte Ägyptens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck Verlag, 2014, 304 Seiten, 16,95 €
Annette Ranko: Die Muslimbruderschaft. Porträt einer mächtigen Verbindung. Hamburg: Edition Körber Stiftung, 2014, 163 Seiten, 14,00 €
Behnam T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden. München: C.H. Beck Verlag 2014, 223 Seiten, 14,95 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 134-137

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