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01. Juni 2008

Wissen, was kommt

Unsere Antwort auf Delphi

Einst befragten die Menschen das Orakel. Heute konsultieren sie Trendforscher, Demoskopen – und mitunter sogar die Wissenschaft

Die Kunst der Prognose ist eine Boom-Branche. Doch sie steht noch immer auf schwankendem Grund. Was wird die Zukunft bringen? Immer mächtiger geraten die Computeranlagen, die für uns nach vorne schauen sollen. An die Stelle des Gebets und der Opfergabe tritt seit den sechziger Jahren der Großrechner, mitsamt der an ihn geknüpften Anbetung der berechenbaren Entwicklung. Ohne Szenario geht gar nichts mehr. Vor allem der Natur will man in die Karten schauen: Wo drohen demnächst Stürme, Fluten, Feuersbrünste, Vulkanausbrüche, Beben? Wie heiß wird es? Wie schnell schmelzen die Pole? Politik und Wirtschaft wüssten auch sonst gern mehr übers Morgen: Über die Demografie, den Konsum, über Energiepotenziale, Ressourcen, Konjunkturen und die Machtverteilung. Doch noch immer gilt der Lehrsatz des Karl Valentin: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“

Es bereitet durchaus Freude, die Weissagungen von gestern zu studieren. Wie oft schon haben wir den Weltuntergang überlebt? Ja, das Begreifen bleibt höchst begrenzt, die Vision stets wackelig. Es gibt Moden der Deutung, auch Moden der Furcht. Massenmedien und ihre User sehnen sich nach Trends, nach der prickelnden Schlagzeile, die Komplexität verdichtet und ein Gefühl des globalen Durchblicks suggeriert. Die Stadt etwa galt einst als wunderbare Utopie. Dann wieder wurde sie zum allesfressenden Moloch. Tatsächlich hat sie das Potential zu beidem. Lagos ist anders als Heidelberg. Samarkand, São Paulo und Seattle haben kaum mehr als den Anfangsbuchstaben gemein. Aus Moskau kam Ende 2007 die Meldung von einer Konferenz über die „mathematische Modellierung historischer Prozesse“, von Teilnehmern als Geburtsstunde einer „neuen Wissenschaft“ gefeiert. Sie machten gleich Nägel mit Köpfen und sagten dem Land eine Katastrophe voraus – weil sich doch seit 1610 jeweils zum Jahrhundertbeginn eine ereignet habe.

Nein, das Morgen ist nicht zweifelsfrei extrapolierbar. Am nüchternsten wirken noch die Versicherer, für die alle Zukunft ja einfach Risiko ist – aus dessen möglichst exakter Vorausberechnung sich die Höhe ihres Gewinns ergibt. Sie unterschätzen Gefahren selten. Ansonsten zeigt die Weissagungshistorie, wie oft die Gesinnung der Propheten der wichtigste Faktor ihrer Berechnungsformel ist. An Wirtschaftsgutachten kann man dies bis heute gut studieren. Im Zweifel singt der Wahrsager ohnehin das Lied des zahlenden Kunden.

Doch so schwer das Hellsehen fällt, so grob fahrlässig wäre es, Prognosen nach politischem Gusto zu verlachen. Wie verlässlich interessengesteuert auch die Leugnung absehbarer Entwicklungen ist, ließ sich lange bei der Klimadebatte studieren. Auf der Seite der Ignoranz koalierte die Bush-Regierung – zum Ende recht einsam – mit jenen uneinsichtigen Teilen der Industrie, denen ein Umsteuern als zu unbequem und teuer erschien. Kurioser ist hier das publizistische Sperrfeuer gegen die Botschaften des International Panel on Climate Change. Manch Journalisten-Zirkel macht einen regelrechten Sport daraus, alle ökologischen Argumente zu verhöhnen. Man staunt fasziniert, wenn etwa der Herausgeber einer ansonsten oft liberalen Wochenzeitung, nachdem er es nicht vermocht hatte, die Deutschen in den Irak-Krieg zu schicken, ihnen nun zu suggerieren versucht, dass der Klimawandel nur Kokolores ist.

Die Schäden durch Naturkatastrophen, berichtet die Münchner Rück, steigen deutlich. 2005 wurde eine Rekordsumme von 220 Milliarden Dollar erreicht. Auch für die Münchner ein Indiz für den stattfindenden Klimawandel. 2007 kam man auf einen Spitzenwert von 950 Naturkatastrophen weltweit. Längst investiert die Welt große Summen in den Versuch, verlässliche Warnsysteme zu entwickeln, um Abertausende vor den verheerendsten Folgen von Erdbeben, Wirbelstürmen und Tsunamis zu schützen. Die jüngsten Verwüstungen in Birma und China zeigten es überdeutlich: Schon ein kleiner Wissensvorsprung könnte viel helfen. Sofern der politische Wille und die Infrastruktur vorhanden sind. Manchmal klappt die Vorhersage. 1975 konnte eine Schar chinesischer Hobby-Seismologen ein schweres Beben in der Stadt Haicheng vorhersagen. Viele Menschen wurden evakuiert, das Beben trat mit großer Wucht ein – 7,3 auf der Richter-Skala. Und forderte nur wenige Opfer. Die Ernüchterung kam im Jahr darauf: Niemand warnte vor dem Beben von Tangshan. 250 000 Menschen starben. Ein in Japan installiertes Frühwarnsystem gibt den Menschen immerhin 14 bis 40 Sekunden, um Sicherheit vor einem Beben zu suchen.

In Kalifornien erwartet man seit Jahren „the Big One“. Auch hier suchen Forscher mit Probebohrungen, Gasmessungen, Lasern, Satelliten und anderen Methoden ihre Vorhersagekraft zu verbessern. Sie haben neuerdings sogar ein Observatorium direkt in der Bruchlinie, etwa drei Kilometer tief. Doch es bleibt ein Spiel von Versuch und Irrtum. „Die Vorhersage“, resümiert der kalifornische Geologe Wladimir Keilis-Borok, der auch schon völlig richtig und völlig falsch lag, sei „immer ein Experiment“.

Und wir? Starren mit diesem von unseren weichen Sesseln gedämpften Grauen auf die verwackelten Unglücksbilder. Betrachten fasziniert jene Grafiken, froh darüber, wie weit die tiefroten Flecken, die das Zentrum der Verheerungen zeigen, entfernt sind. Und ahnen bestenfalls, wie wenig wir wissen.

TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 122 - 123

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