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05. Mai 2014

Wirtschaftsklimakiller

Berlin will das Richtige, tut aber ökonomisch und klimapolitisch das Falsche

Die Energiewende hat zwei ihrer wichtigsten Ziele verfehlt: den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken und für international konkurrenzfähige Energiepreise zu sorgen. Ein Umsteuern auf ausgereifte Erneuerbare plus Förderung der heimischen Gasproduktion könnte die Wende wieder mit ihren ursprünglichen Zielen in Einklang bringen.

Innerhalb von wenig mehr als einem Jahrzehnt ist Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zur wirtschaftlichen Supermacht geworden. Ein Wandel, der durch das Zusammenspiel von außerordentlichem Wirtschaftspotenzial und der Reform des Arbeitsmarkts ermöglicht wurde.

Doch heute braucht das Land eine neue Reform. Deutschlands herausragende Wettbewerbsposition auf den Weltmärkten ist in Gefahr. Dieses Mal kommt die Bedrohung aus dem Energiesektor – ironischerweise von einer Strategie, die Deutschland eigentlich eine globale Vorreiterrolle bescheren sollte. Stattdessen wird nun die deutsche Wettbewerbs- und Exportposition durch hohe Energiekosten bedroht.

Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr

Das Risiko ist gerade für Deutschland besonders groß, denn der Wohlstand des Landes hängt an seiner Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten. Deutschlands Abhängigkeit vom Welthandel ist größer als bei jeder anderen größeren Industrienation. Japan hat eine Exportquote von lediglich 17 Prozent des BIPs, im Falle Frankreichs sind es 27 Prozent, und China hat einen Anteil von 26 Prozent. Deutschlands Exportquote ist fast doppelt so hoch wie Chinas – 51 Prozent.

Deutschland muss daher eine wichtige Korrektur, eine partielle Wende innerhalb der Energiewende vornehmen – von teuer zu wettbewerbsfähig. Mit den besten Absichten hat man sich auf einen Pfad begeben, der offensichtlich eine Sackgasse ist.

Es ist insbesondere die wachsende Energiepreiskluft, die Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit bedroht. Die Energiepreise für die deutsche Industrie sind seit 2007 um rund 60 Prozent, die in den Vereinigten Staaten und China dagegen um weniger als 10 Prozent gestiegen. Diese Kluft ist das Resultat zweier voneinander unabhängiger Faktoren. Zunächst einmal sind die Kosten im Zusammenhang mit der Energiewende rapide gestiegen, weit stärker als noch 2011 vermutet. Hinzu kommen weitere 185 Milliarden Euro, die Deutschland an Subventionen für die Erneuerbaren über die kommenden 20 Jahre zahlen muss.

Und dann ist da noch die Schiefergasrevolution in Nordamerika. Sie hat für einen Rückgang der Gaspreise gesorgt und die USA zu einem weit attraktiveren Standort für verarbeitendes Gewerbe und Export gemacht.

Wie eine aktuelle Studie1 unseres Instituts zeigt, sind Deutschlands hohe Strompreise die Ursache für Nettoexportverluste in Höhe von 52 Milliarden Euro über die vergangenen sechs Jahre. Wenn die Kluft weiter wächst, wird das die deutsche Industrie künftig weniger wettbewerbsfähig machen. Insbesondere der Mittelstand, das Rückgrat der deutschen Industrie, ist hier verwundbar, denn unsere Berechnungen zeigen, dass der Mittelstand den weitaus größten Teil der Nettoexportverluste zu tragen hat.

Nun könnte man argumentieren, dass die Industriepolitik sich ohnehin auf die „grüneren“, weniger energieintensiven Industrien konzentrieren sollte und Nachteile für energieintensive Wirtschaftszweige in Kauf nehmen sollte. Dabei würde allerdings ein entscheidender Punkt übersehen. Deutschlands Wertschöpfungsketten und Industriecluster gehören zu den ausgeklügeltsten der Welt. Sie verbinden energieintensive mit nichtenergieintensiven Wirtschaftszweigen. Die energieintensive Chemieindustrie etwa sorgt mit 100 Stellen, die sie im eigenen Sektor schafft, für 178 Jobs in anderen Bereichen. Eine Politik, durch die Deutschlands energieintensive Industrie gegenüber der globalen Konkurrenz in den Nachteil gerät, wird weitreichende Folgen für die gesamte Wirtschaft haben.

Deutschlands Unternehmer warnen seit mehr als einem Jahr vor den Risiken für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Aber erst nach den Bundestagswahlen 2013 begannen führende Politiker, sich offen über die Gefahren zu äußern. „Wir sind an der Grenze dessen angekommen, was wir unserer Volkswirtschaft zumuten können“, erklärte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel kürzlich. Ohne eine Kursänderung drohe eine „dramatische Deindustrialisierung“. Und nachdem sich die energiepolitische Situation durch die Ukraine-Krise noch einmal zugespitzt hatte, rang sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Ankündigung durch, eine „neue Betrachtung unserer gesamten Energiepolitik“ vorzunehmen.

Unternehmen auf der Flucht

Zu einer solchen neuen Betrachtung sollte auch die Gasproduktion gehören. Es ist kaum bekannt, aber über Jahrzehnte war Deutschland ein wichtiger Produzent von Erdgas. Noch vor zehn Jahren bestritt man 20 Prozent des Gesamtverbrauchs aus heimischer Produktion. Dieser Anteil ist auf 10 Prozent geschrumpft. Die Diskussion darüber, wie sich hier eine Trendwende schaffen ließe, ist eröffnet. Dabei könnte zumindest ein Testlauf in Sachen Schiefergas gestartet werden, wie EU-Energiekommissar Günther Oettinger vorgeschlagen hat.

Die Schiefergasrevolution in den USA hat die Annahmen widerlegt, auf denen die Energiewende beruhte. Das Konzept ging davon aus, dass die Preise für fossile Energien bis in alle Ewigkeit steigen würden; doch die Ereignisse seither haben diese Prämisse als Irrtum entlarvt.

Nun gibt es derzeit eine gewisse Tendenz, die Schiefergasrevolution als vorübergehendes Phänomen, als „Blase“ abzuqualifizieren. Dies stimmt jedoch nicht mit der Realität überein. Die Schätzungen, wie groß die erschließbaren Schiefergasvorkommen in den USA sind, liegen heute dreimal höher als noch im Jahre 2000. Genug, um für die kommenden 100 Jahre die Nachfrage auf dem heutigen Niveau zu bedienen. Folglich besteht die Herausforderung für US-Gasproduzenten eher darin, zusätzliche Abnehmer zu finden. Die US-Gaspreise sind auf weniger als ein Viertel des deutschen Niveaus gefallen, und wir gehen davon aus, dass dieser Unterschied langfristig bestehen bleiben wird.

Heute macht Schiefergas bereits 44 Prozent der gesamten US-Erdgasproduktion aus, noch ein Jahrzehnt zuvor waren es nur 2 Prozent. Mittlerweile haben die Vereinigten Staaten Russland als Gasproduzent Nummer eins abgelöst. Auch die amerikanische Erdölförderung konnte dank Fracking seit 2008 um mehr als 60 Prozent gesteigert werden. Nach Prognosen der Internationalen Energieagentur werden die USA in den kommenden Jahren zum größten Ölproduzenten der Welt aufsteigen.

Derzeit planen amerikanische wie nichtamerikanische Unternehmen auf der Basis niedriger Energiepreise in den USA massive Industrie­investitionen im Umfang von mindestens 114 Milliarden Dollar. Deutsche Unternehmen auf der Flucht vor den deutschen Energiepreisen gehören zu den wichtigsten Investoren. Das Niveau der entsprechenden Investitionen in Deutschland bleibt durchschnittlich.

Die Wende neu gestalten

Das Ziel der Energiewende war der Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft, ohne die Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden. Als Schlüssel dazu galten „wettbewerbsfähige Energiepreise“. Weder das eine noch das andere wurde erreicht. Die Politik, die Erneuerbaren rasant auszubauen, hat zu rasant steigenden Stromkosten geführt. Es ist auch nicht gelungen, den Ausstoß von Treibhausgasen im erwarteten Ausmaß zu senken, vor allem dank der Renaissance der Kohle im Energiemix, mit der man die Atomenergie ersetzt und die Erneuerbaren ergänzt.

Wie unsere Studie zeigt, kann die Energiewende wieder auf den Weg zu ihrem ursprünglichen Ziel eines wettbewerbsfähigen Übergangs zu einer CO2-armen Ökonomie gebracht werden. Ein leicht verlangsamter Übergang auf Erneuerbare kombiniert mit einheimischem Schiefergas könnte Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum und damit folgendes Szenario schaffen:
•    Bruttoinlandsprodukt: Das BIP liegt 2020 um fast 28 Milliarden Euro und damit um fast 0,9 Prozent höher. Langfristig ist die Entwicklung noch positiver: Bis 2040 liegt das BIP um 138 Milliarden Euro höher (+3,4 Prozent).
•    Beschäftigung: 2020 gibt es 207 000 bzw. 0,5 Prozent mehr Arbeitsplätze. Langfristig entstehen bis 2040 fast eine Million zusätzliche Arbeitsplätze. Dabei ist das geringere Wachstum bei den Arbeitsplätzen in den „grünen“ Energiesektoren schon berücksichtigt.
•    Verfügbares Einkommen: Der Bürger profitiert von der Reform der Energiewende durch höhere verfügbare Einkommen. Im Durchschnitt erhöht die Reform das verfügbare Jahreseinkommen pro Kopf um 123 Euro bis 2020 und um 847 Euro bis 2040.
•    Staatliche Einnahmen: Durch mehr Wirtschaftswachstum und die Abgaben aus der Gasförderung steigen die jährlichen Staatseinnahmen gegenüber dem alten energiepolitischen Kurs bis 2030 um fast 40 Milliarden Euro. Bis 2040 nimmt der Staat sogar 68 Milliarden Euro zusätzlich ein.
•    Außenhandel: Niedrigere Energiepreise erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Der Außenhandelsüberschuss mit Industrieerzeugnissen liegt 2030 um 36 Milliarden Euro und 2040 um 63 Milliarden Euro höher als ohne Reform. Dies entspricht einem Plus von 20 Prozent.

Alle diese Hochrechnungen beruhen auf der Annahme, dass die Rabatte, die große energieintensive Firmen derzeit aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz bekommen, erhalten bleiben. Indem sie der Industrie helfen, nutzen diese Rabatte jedem in Deutschland. Wenn sie ausgesetzt würden, wären ein signifikant niedrigeres Wirtschaftswachstum, eine niedrigere Beschäftigung und niedrigere Einkommen die Folgen.

Schiefergas als Brückentechnik

Die Förderung von Schiefergas könnte in entscheidendem Maße dazu beitragen, die Energiewende wettbewerbsfähiger zu machen. Erneuerbare Energiequellen brauchen ein verlässliches Backup für die Zeiten, in denen der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.

Erdgas sorgt für diese verlässliche Stromerzeugung und produziert dabei die Hälfte der Kohle-CO2-Emissionen. Im Inland gefördertes Gas reduziert zudem die Importabhängigkeit. Die Ukraine-Krise bringt das Thema Energiesicherheit – noch eines der ursprünglichen Ziele der Energiewende – zurück auf die Agenda.

Wird Schiefergas in Deutschland und vielen Teilen Europas noch dämonisiert, so ist man auf der anderen Seite des Atlantiks weit optimistischer. Neue Studien des Massachusetts Institute of Technology und eines Umweltkomitees der Obama-Regierung kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass die Schiefergasproduktion generell gut und vernünftig gesteuert wird.

Dabei werden auch oft kolportierte Mythen entlarvt. Etwa der berühmte „brennende Wasserhahn“, der in einem sehr erfolgreichen Film als Beispiel für die Umweltbedenklichkeit des Fracking gezeigt wurde, in Wirklichkeit aber nichts mit der Schiefergasförderung zu tun hatte.

Nach unseren Berechnungen wäre in Deutschland bis 2030 eine Schiefergasproduktion von mehr als 20 Milliarden Kubikmetern jährlich möglich, was einem Viertel des derzeitigen Verbrauchs entspräche. Diese Zahlen basieren auf Ressourcenschätzungen, die mit Ergebnissen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover weitgehend übereinstimmen.

Mitte der 2030er Jahre würde die Produktion nach diesem Szenario mit mehr als 25 Milliarden Kubikmetern einen Höhepunkt erreichen. Die Produktion von Erdgas und Schiefergas zusammen würde in den 2030ern bei fast 30 Milliarden Kubikmetern liegen – genug, um mehr als 35 Prozent des derzeitigen deutschen Gasbedarfs zu befriedigen. Das entspräche in etwa den derzeitigen deutschen Importen aus Norwegen und Russland.

Ähnliches wie über Deutschlands Schiefergaspotenziale lässt sich auch über die europäischen sagen. Das gilt vor allem für Länder wie Polen und Großbritannien. Die Entwicklung einer einheimischen Gasindustrie wäre geeignet, die europäischen Preise um 20 Prozent zu reduzieren. Die gesamte Schiefergasproduktion in der EU könnte im Jahre 2030 ein Ausmaß von 70 Milliarden Kubikmetern überschreiten und bis 2040 beinahe 90 Milliarden erreichen. Das ist die gleiche Größenordnung wie die derzeitigen norwegischen Pipeline-Exporte in die EU von 100 Milliarden Kubikmetern. Zum Vergleich: Russlands Gasexporte in die EU betrugen im vergangenen Jahr 130 Milliarden Kubikmeter.

Die Energiewende findet weltweit große Beachtung. Deutschland ist in der einmaligen Lage, die Vorreiterrolle zu übernehmen und zu zeigen, wie ein Übergang hin zu einer Welt mit geringerem Kohlendioxidausstoß nachhaltig und kostengünstig gestaltet werden kann. Dazu müsste der Fokus der Energiewende weg von dem schnellstmöglichen Ausbau der erneuerbaren Energien hin zu einem besser ausbalancierten Ansatz gelegt werden, der es Deutschland erlauben würde, sowohl die Treibhausgasemissionen zu senken als auch die Kosten insgesamt im Rahmen zu halten.

Das betrifft die Nutzung ausgereifter erneuerbarer Energien in Verbindung mit Erdgas als Brückentechnologie. Ohne eine Reform der Energiewende würde Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen und die Industrie dazu veranlassen, weniger zu investieren, was letztlich zu Arbeitsplatzverlusten führen würde.

Dr. Daniel Yergin ist 
Vice Chairman von IHS 
Economics, Frankfurt/Main und Pulitzer-
Preisträger. Jüngste Veröffentlichung: „The Quest: Energy, Security, and the Remaking of the Modern World (2011).

Dr. Ralf Wiegert 
ist Direktor bei 
IHS Economics.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 67-71

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