Schlusspunkt

01. Nov. 2010

Wir sind Europa

Schlusspunkt

In einer der vielen Diskussionen über die Jahrhundertfrage „deutsches Europa“ versus „europäisches Deutschland“ mit einem ungarischen Freund bekam ich unlängst um die Ohren gehauen, Deutschland sei doch längst Europa – mit den anderen Mitgliedern als Anhang. Das ist zwar krass formuliert, aber aus der Perspektive des europäischen Auslands nicht ganz falsch.

Der europäische Osten hat sich zum ökonomischen Hinterhof Deutschlands entwickelt, während wir selbst im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit lange Übergangsfristen ausgehandelt haben. Der Süden, das Armenhaus Europas, ist von deutscher Warte aus gesehen nur noch lästig; erstens kostet er zu viel und zweitens liegt die deutsche Handelsdynamik bei den BRIC- und nicht mehr bei den PIGS-Staaten. Gleichzeitig ist Deutschland der größte Nutznießer von Binnenmarkt und Euro. Für die kleinen Mitgliedsländer, vor allem Benelux, war es stets die beste Wahl, im Windschatten von Deutschland zu fahren.

Somit überrascht es, dass in Deutschland niemand wahrnimmt, weder die Presse noch die Politik, dass wir längst Europa sind. Warum führen wir in Deutschland eigentlich genau die umgekehrte Debatte, fühlen uns von Europa als Zahlmeister permanent ausgenommen, von den Griechen betrogen, von Brüssel allgemein über den Tisch gezogen? Meinem magyarischen Freund ist schwer zu erklären, dass Deutschland sich in eine europäische Opferrolle begibt. Denn für den gesamten Rest Europas ist Deutschland gerade dabei, als Exportweltmeister auf dem Rücken der anderen Europäer einen riesigen Reibach zu machen und sich gleichzeitig politisch aus der europäischen Verantwortung zu stehlen. Die Schieflage und Asymmetrie der Diskussion sind unerträglich.

Deutschland ist autistisch geworden. Es hat seine Diskursfähigkeit im europäischen Raum aufgegeben, eben weil man die eigene Position nicht angemessen wahrnimmt. Berlin hat seine Sensibilität gegenüber der Auslandspresse verloren. Das heißt nun nicht, dass man jeder Idee folgen muss, die aus Paris, Warschau, Den Haag, Budapest oder London kommt. Aber dennoch sollte man diese Ideen in Deutschland hören und lesen können, man sollte wissen, wie und was dort gedacht wird. Und die Deutschen sollten wenigstens mitstreiten in dieser internationalen Diskussion über die deutsche Rolle in Europa, die derzeit in der Financial Times, dem Economist, der Gazeta Wyborska, Le Monde, El País und der New York Times stattfindet – aber eben nicht in der FAZ oder im Spiegel. Die anderen europäischen Partner haben eine klare Ansage verdient, was das neue Deutschland jetzt von und mit Europa will – welche Führung in Europa es zu übernehmen, welchen Preis für Europa es zu bezahlen bereit ist.

Dr. Ulrike Guérot leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 144

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